Essay

Das launische Publikum

Von Rüdiger Wischenbart
04.11.2003. Die Kulturindustrien verwandeln sich vor unseren Augen in einem Ausmaß wie die Stahlindustrie Mitte der siebziger Jahre. Die traditionellen Vermittler - wie die Tageszeitungen - verlieren dabei zusehends an Terrain.
Das kulturelle Leben und die Kulturindustrien verwandeln sich vor unseren Augen in einem Ausmaß wie die Stahlindustrie Mitte der siebziger Jahre, oder wie die Unterhaltungsmusik mit der Ausbreitung von Transistor-Radios und Rock n' Roll nach dem Zweiten Weltkrieg. Der alte Kitt, der kulturelle Produktionen und ihr Publikum zusammengehalten hat, ist brüchig geworden. Der Konsens, der Kultur zur integrativen Identitätsmaschine machte, hat sich aufgelöst. Was aber ist eine Kultur, "wenn sie kein Konsens ist?" (Clifford Geertz)

Kultur - und die Verwertung geistigen Eigentums insgesamt - ist ein Wachstumsmarkt. Schon vor Jahren verblüffte der britische Premier Tony Blair einen Gewerkschaftstag mit der Erkenntnis, dass die "Rückflüsse aus internationalen Tantiemen der Rockmusik die Exporterlöse der britischen Stahlindustrie übertreffen." Die Statistiker der Unesco errechneten, dass die globalen Importe an kulturellen Gütern sich von 47,8 Milliarden Dollar im Jahr 1980 auf 213,7 Milliarden Dollar 1998 mehr als vervierfacht haben. Mit kulturellen Gütern wird pro Jahr der Gegenwert von schätzungsweise rund 1.000 Milliarden Dollar geschaffen.

Allerdings ist die Geographie der kulturellen Märkte von schroffen Gegensätzen geprägt. So produzieren die USA allein rund 40 Prozent aller weltweit gedruckten Publikationen. Noch größer ist ihr Anteil an den digitalen, multimedialen Plattformen der Zukunft. Nimmt man England, Deutschland, Frankreich und Japan hinzu, bleibt für den Rest der Welt nur noch ein verschwindender Anteil an - in Geldwerten darstellbarer - kultureller Wertschöpfung.

Paradoxerweise hat die Globalisierung nicht zu einer Vermehrung etwa an Übersetzungen von Büchern geführt, sondern, von 52.070 übersetzten Buchtiteln weltweit im Jahr 1980, zu einem Rückgang auf 50.434 im Jahr 1994. Rund drei Viertel aller Übersetzungen sind aus nur einer Sprache, dem Englischen, und weitere zehn Prozent aus dem Französischen. Aber nur fünf Prozent der Übersetzungslizenzen, die deutsche Verlage verkaufen, gehen ins Englische, gut drei Viertel in Deutschlands Nachbarsprachen, allen voran ins Polnische (und rund ebenso viele ins Chinesische). Die chinesischen und polnischen Übersetzungen ins Deutsche - oder Englische - lassen sich an wenigen Fingern abzählen.

Trotz des erstaunlichen Gesamtwachstums schränkt sich der Spielraum für die kreative Vielfalt arg ein. Der Umsatzanteil, den wenige Spitzentitel auf den internationalen Bestellerlisten einnehmen, weitet sich in allen Sparten aus. Die verschiedensten TV-Casting Shows wie "Deutschland sucht den Superstar" blockierten mit ihren Instant-Erfolgstiteln über Monate die Pop Charts in den jeweiligen Ländern. Das heißt aber auch für die großen Medien- und Kulturkonzerne, dass sie ihre riesigen Maschinerien über immer weniger Erfolgstitel finanzieren müssen, bei denen dann zumeist die Lizenzgebühren, die Anteile an Stargagen und die Agenten- und Mittlerhonorare besonders dick zu Buche schlagen. Meist bringen erst weit nachgereihte Glieder in der Verwertungskette - beim Film etwa die Vermarktung, nach Kino und TV, über DVD - eine echte Rendite.

Der kulturelle Markt ist zunehmend zersplittert. Selbst die Ikonen der aktuellen kulturellen Globalisierung wie Harry Potter zeigen, zumindest als Buch, einen Hang zur Lokalisierung. Natürlich ist der Plot um den Zauberlehrling überall gleich. Doch die Buchumschläge, und damit das imaginierte Gesicht Harrys, zeigen in der englischen Fassung einen sehr britischen Internatsjungen, ganz anders als der in Jeans und offenem Hemd am Besen von links nach rechts fliegende Junge in den USA (der in der hebräischen Ausgabe, der umgekehrten Schriftrichtung folgend, von rechts nach links über das Cover fliegt). Einen Pinocchio zeigt das Titelbild in Italien und eine geheimnisvolle Zarathustra-Landschaft mit Eulen im Iran.

Die Filmfassung von Harry hingegen, die Time Warner um den Globus schickt, stellt diesen unterschiedlichen Auffassungen einen Einheitshelden entgegen, und es wird spannend zu beobachten sein, wie lange die unterschiedlichen Bildnisse Bestand haben, und wann und wie sie einander langfristig in die Quere kommen werden.

Selbst im Kern des weltweit vernetzten Show Biz ist mehr denn je Lokalisierung ein Schlüssel zum Erfolg. "Deutschland sucht den Superstar" wurde bekanntlich von dem britischen Impresario und Agenten Simon Fuller als Muster entwickelt und in unterschiedlichsten Varianten weltweit vermarktet, als "Star Academy" in Frankreich, als "Operacion Triunfo" in Spanien, oder als "American Idol" in den USA. Nur das österreichische Fernsehen schaffte es, "Starmania" ohne Lizenzgebühren an London abzuwandeln. Fuller nutzt sein weltweites Netzwerk von Medienbeziehungen nebenher auch für die Verbreitung englischer Sprachkurse der BBC. "Pop goes English" ist ein Konzept für Englisch-Sprachkurse für Kids, bei dem jeweils lokale Pop-Sternchen als Lehrer und Mittler auftreten. Erster Testmarkt ist Taiwan.

Zwei Dinge lassen sich daraus gut ablesen. Die Vorstellung von der einen, immer stärker homogenisierten Weltkultur ist eine Schimäre. In Wirklichkeit hat sich ein System von komplizierten, hierarchischen Kaskaden herausgebildet, in dem zwar kulturelle Einflüsse aus Hollywood, der internationalen Pop Musik und den globalen Konsumentenmarken machtvoll durchgesetzt werden. Doch gleichzeitig vermischen sich diese kulturellen Kanäle und verändern sich mit lokalen Einflüssen. Die Landschaft wird widersprüchlich und unübersichtlich. Zum anderen wächst das Gewicht, das clevere Mittler beanspruchen. Agenten und wenige wichtige Multiplikatoren und Meinungsmacher konnten sich in kulturelle wie wirtschaftliche Schlüsselpositionen bringen, an denen viel stärker über Erfolge und Abstellgeleise entschieden (und daran verdient) wird, als in den Zentralen der Konzerne.

Diese Mittler agieren ebenfalls global. Nur so konnten Arundathi Roy oder Zadie Smith mit ihren Erstlingsbüchern augenblicklich ein weltweites literarisches Publikum erreichen. Und erst das energische und expansive Verfügen der Mittler über neue Kanäle und Vernetzungen forciert den aktuellen kreativen Synkretismus, in dem folkloristische Weltmusik, hoch artifizielle Stilgirlanden wie jene der isländischen Musikerin Björk und der kommerziell ausgerichtete arabisch grundierte Latino-Pop der Kolumbianerin Shakira so innig verwoben sind, dass Mainstream und elitäre Kunst ununterscheidbar werden.

Lokale Kreativwerkstätten geraten darüber in schwerwiegende Konkurrenzen. Als Stanley Kubrick Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" mit Nicole Kidman und Tom Cruise verfilmte, verlängerte der S. Fischer Verlag die Lizenz des kleinen kalifornischen Verlags Sun and Moon auf eine amerikanische Übersetzung nicht mehr. Stattdessen erschien die neue Ausgabe im Konzern Time Warner Books unter dem Filmtitel "Eyes Wide Shut" mit Fotos aus dem Film.

Douglas Messerli, der Verleger von Sun and Moon, zeigte sich über den Verlust nicht einmal enttäuscht. Ein Buch zu einem Hollywood-Film hätte eine hohe, doch schwer kalkulierbare Startauflage erfordert, die seinen kleinen Verlag leicht ins Trudeln gebracht hätte. So war Messerli als Nischenspieler aus Gründen der Existenzsicherung letztlich froh, das große, globale Spiel gar nicht erst riskieren zu müssen.

Der Druck wächst auf alle kreativen Kräfte, die lokal und langsam agieren müssen. Die allmähliche Entwicklung von Wissen, musische Ausbildung, die Förderung von schöpferischen Talenten, die erst einmal wenig Aufmerksamkeit anziehen, sind in ihrer Arbeit gefährdet.

Dies gilt für die Produktion westafrikanischer Kinofilme, wenn Fördermittel der Europäischen Union oder von Fernsehanstalten wie Arte oder Canal Plus unter Druck geraten, es gilt für Autoren, die neue Themen erkunden, oder für die Musikerziehung an öffentlichen Schulen. Es ist absehbar, dass in wichtigen Sektoren die Schaffung von geistigem Eigentum bald nicht mehr mit Geld honoriert und zudem, unabhängig von den finanziellen Mitteln, nur noch ein kleines, hoch spezialisiertes Publikum finden wird. Kulturelle Infrastrukturen mit langer Bestandsgeschichte und Tradition werden letztlich in Frage gestellt. Viele werden aufhören zu existieren.

Die Folge dieses Wandels ist allerdings nicht zwangsläufig die Ausbreitung der kulturellen Wüste. Vielleicht ähnelt die Zukunft eher einem tropischen Regenwald: unübersichtlich, artenreich und hoch kompetitiv.

Die Gewinner unter den neuen und alten Plattformen sind jene, die dem Nutzer erlauben, hoch spezialisierte Interessen zu verfolgen, eventuell selbst einzugreifen, Zeitpunkt und Art der Nutzung möglichst unabhängig vom Ort zu bestimmen und das Erlebnis gezielt mit anderen auszutauschen. Das bieten Internet, Spiele sowie Musik und Spielfilme auf DVD - aber auch Live Events aller Gattungen, wenn sie individuelle Vorlieben gut bedienen.

Zeitungen und Zeitschriften hingegen, die traditionellen Medien für solide Information und Hintergrund, werden bei jungen Lesern vom Internet als wichtigstem Informationsmedium zunehmend verdrängt. Es wird weniger Belletristik gelesen, während Sach- und Fachliteratur zulegen. Der Gewinner der Bilanz der sich verschiebenden Aufmerksamkeit ist der Computer, doch wird dieser zunehmend zum - wenn auch oft ungeliebten - Lesegerät, selbst für längere und kompliziertere Texte, nicht zum Vergnügen, sondern um fit zu bleiben im täglichen Konkurrenzkampf.

So gewinnen seitens des Publikums zwei große Gruppen an Kontur: Jene, die viel lesen und souverän mit Medien aller Art und mit dem Druck und der Herausforderung der Vielfalt umzugehen vermögen, die folglich insgesamt erfolgreich sind. Auf der Strecke bleiben die Kultur- und Medienabstinenten. Die Mitte hingegen - und dies war die Lebenssphäre der gebildeten, bürgerlichen Mittelschicht - dünnt aus.

Die Gewinner sind ein nervöses Volk. Sie switchen zwischen den Kanälen und Medien, aber sie geben sich souverän, launisch und selbstbewusst. Vor allem wissen sie vom Wert, den ihre Meinung darstellt. Mehrere der erfolgreichsten Medienpioniere aus dem Internet haben Steuerungselemente durch das Publikum eingebaut. Bei eBay schließen wildfremde Menschen miteinander Geschäfte ab und bewerten die Vertrauenswürdigkeit von Partnern, die sie nie von Angesicht zu Angesicht sehen. Amazon verrät seinen Online-Kunden, was Leser des eben gesuchten Buchs oder Musikalbums sonst noch erstanden haben. Bei Google hängt die Prominenz der Platzierung einer Webseite von den Verweisen anderer ab. Bei Blogs - öffentlichen Web-Tagebüchern - können die Myriaden von Meinungsmitteilungen danach sortiert werden, wie gut oder überflüssig andere Lesende die Beiträge fanden. Im jüngsten Irak-Krieg verabredete sich über solche Tratsch-Netzwerke eine Nebenöffentlichkeit, die dem herkömmlichen Mediengewitter immer weniger traut. Journalisten der BBC ergänzten ihre offiziellen Berichte von der Front mit einem - von der Zentrale geduldeten - Blog am Netz.

Es ist nicht sehr weit hergeholt, das dabei zugrundeliegende Prinzip mit den aufgeklärten Gesellschaften des 18. Jahrhunderts zu vergleichen. 'Peer review' entwickelte sich damals in Wissenschaftszirkeln zum effizienten Bewertungs- und Korrekturmechanismus, der nun, technologisch gestützt, massentauglich wird.

Verlage und Zeitungen verlieren ihre besondere Rolle als Garanten der Informationsqualität. Kultur ist keine 'besondere Ware' mehr, sondern ein Angebot, das man heute annimmt und morgen wieder lässt. Das drückt bei Hörern, Lesern oder Betrachtern auch die Bereitschaft, für das kulturelle Massenangebot so viel zu bezahlen wie für ein ehemals rares Gut.

Alle Klagen und wohl auch alle technologischen und gesetzlichen Kontrollmaßnahmen sind am Ende wirkungslos, wenn es zwischen den medialen Anbietern von Kultur und ihrem Publikum keinen Konsens über Werte und ethische Orientierungen gibt. Kultur als integrativer Resonanzraum der Gesellschaft hat kein verbindliches Medium mehr. Nicht die Planer und Marketingstrategen, noch die Bewahrer der traditionellen kulturellen Vielfalt bestimmen die Spielregeln und den Kurs. Es regiert das launische, einsame Publikum.