Essay

Es ist ein großer Fehler, die Dissidenten innerhalb des Islams zu ignorieren

Von Timothy Garton Ash
21.03.2007. Ayaan Hirsi Ali bestreitet, dass der Islam mit der liberalen Gesellschaft vereinbar ist. Das tut auch Osama bin Laden. Wir sollten auf die hören, die beides sein wollen: gute Muslime und gute Bürger eines freies Landes.
Gibt es glaubwürdige Versionen des Islams, die mit der liberalen Demokratie vereinbar sind, wie sie sich im Westen entwickelt hat? Kann jemand sowohl ein guter Muslim sein als auch guter Bürger einer freien Gesellschaft? Oder sind Islam und der postaufklärerische Westen wie Feuer und Wasser?

Während ich in den vergangenen beiden Wochen in Ägypten war, um diese Fragen mit Muslimen und Nicht-Muslimen in einem der entscheidenden Länder des Nahen Ostens zu erörtern, brodelte im Netz (auf den Seiten des Perlentauchers und signandsight.com) eine Debatte, in deren Verlauf mir die wirrsten und ungeheuerlichsten Positionen zugeschrieben wurden. Zu den Vorwürfen gehört, dass ich, der sich doch so für die Dissidenten des Kommunismus engagiert habe, für die Dissidenten des Islams wie Ayaan Hirsi Ali nicht genügend Solidarität aufbringe. Dieser Vorwurf basiert auf einem falschen Verständnis des Prinzips der Solidarität, das im Kampf gegen den Kommunismus siegte und dies nun auch tun sollte. Dieses Prinzip lautet: Totale Solidarität mit den zu Unrecht Verfolgten, totale Freiheit, nicht mit ihnen übereinzustimmen.

Unsere Solidarität ist besonders im Fall von Menschen wie Ayaan Hirsi Ali gefordert, die nicht so sehr Dissidenten des Islams, sondern Dissidenten außerhalb des Islams sind. Denn wie sie in ihrer Autobiografie "Mein Leben, meine Freiheit" erzählt, ist sie einen langen beschwerlichen Weg gegangen, bis sie in einem griechischen Hotelzimmer vor einem Spiegel stand und laut auf Somali sagte: "Ich glaube nicht an Gott." Sie spricht also als Atheistin - und lebt in Folge dessen in tagtäglicher Gefahr, von dschihadistischen Fanatikern ermordet zu werden. Ein Grund, der Solidarität in solchen Fällen so wichtig macht, ist, dass die Haltung gegenüber Apostasie ein kritischer Test für die muslimische Haltung gegenüber der Freiheit im Allgemeinen ist. In der vergangenen Woche habe ich führenden Vertretern der Muslimbruderschaft (mehr hier oder hier) in Kairo gegenüber in genau dieser Frage insistiert. Ihre mehrdeutigen Antworten waren nicht besonders beruhigend.

Ich kann gar nicht deutlich genug sagen, dass jeder die Freiheit haben muss, nicht nur seine Religion zu verlassen oder zu wechseln, sondern auch seine neue Sicht zu propagieren, sei er nun Atheist, Christ, Muslim, Bahai oder was auch immer. In einer Debatte haben sie das Recht (wenn auch nicht die Pflicht) zu verletzen, ohne von irgendwelchen Gesetzen, polizeilichen Schikanen, Drohungen oder extremistischer Gewalt eingeschüchtert zu werden. Ich habe dies schon oft gesagt, und ich wiederhole es hier. Diese Freiheit müssen wir unnachgiebig verteidigen. Aber daraus folgt nicht, dass wir mit allen Standpunkten der verfolgten Person übereinstimmen müssen. Zufällig denke ich, dass Hirsi Ali mit Gott gar nicht falsch liegt. Und sie hat definitiv Recht, was die beschämende, inakzeptable Unterdrückung von Frauen in einigen muslimischen Familien und Gemeinschaften in Europa betrifft. Aber ich glaube nicht, dass sie in Bezug auf den Islam Recht hat.

In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im vorigen Jahr hat sie erklärt, "dass der Islam mit der liberalen Gesellschaft, wie sie sich im Gefolge der Aufklärung herausgebildet hat, nicht vereinbar ist." Viele westliche, säkulare Intellektuelle, die sich an diesen Debatten beteiligen, stimmen dem zu. Aber einige muslimische Intellektuelle nicht. Ihnen sollten wir aufmerksam zuhören. Wenn es um den Islam geht, wissen sie schließlich, worüber sie sprechen.

Zum Beispiel Gamal al-Banna (mehr hier), den ich in Kairo besucht habe, in seiner höhlenartigen dunklen Wohnung, in der sich vom Boden bis zur Decke islamische Literatur stapelt. Er ist der jüngere Bruder von Hassan al-Banna, dem Begründer der Muslimbruderschaft. Sein Vater, ein gelehrter Imam, hatte 40 Jahre damit verbracht, rund 45.000 Berichte über die Mohammed zugeschriebenen Aussprüche und Taten (Hadithe) zu katalogisieren. Gamal al-Banna, jetzt 86 Jahre alt, hat sein Leben dem Studium des Islams und seines Verhältnisses zur Politik gewidmet. Ein Mann von ruhiger Klarheit, verlor er doch ein wenig die Beherrschung, als die Sprache auf die Perversion des Islams durch Sayyid Qutb kam, den ägyptischen Apostel des extremistischen Takfiri-Islamismus und für al-Qaida ein Held .

Gamal al-Banna argumentiert, dass "es keinen Widerspruch zwischen absoluter Gedankenfreiheit und Religion gibt" und dass "der Islam kein Monopol auf Weisheit beansprucht". Kritische Gedanken zum Islam sollten mit Worten bekämpft werden, "nicht durch Konfrontation, Terrorismus oder Takfir - wo jemand mit dem Bannstrahl belegt wird, in dem man ihn zum Ungläubigen erklärt". Was die Apostasie betrifft, "haben Muslime das Recht, sich vom Islam abzuwenden, die Verse des Korans sind in dieser Hinsicht sehr eindeutig: 'Es gibt keinen Zwang im Glauben' (al-Baqara, Die Kuh, II, 256). Die Abkehr von der Religion wird mindestens fünf Mal im Koran erwähnt, nie ist sie mit einer Bestrafung verbunden. In der Zeit des Propheten wandten sich viele Menschen vom Islam ab, einer von ihnen war ein Korangelehrter. Keinen einzigen von ihnen hat der Prophet bestraft."

Der Ausspruch, der oft dem Propheten zugeschrieben wird - "Wer seine Religion ändert, den tötet!" - wurde von Imam Muslim, einem der frühesten und meistgeachteten Zusammensteller der Hadithe, als nicht authentisch verworfen. Imam al-Bukhari dagegen, ein weiterer Sammler, nahm sie in seiner Version auf. "Die Anzeichen für eine Verfälschung sind in diesem Ausspruch sehr deutlich", kommentiert Banna, "und er widerspricht vielen Versen des Korans, die die Freiheit der Glaubens bestätigen".

Vergleichen Sie dies mit Ayaan Hirsi Alis kühner und unverblümter Äußerung in einer Rede, die sie voriges Jahr in Berlin gehalten hat. "Ich denke, dass der Prophet Mohammed Unrecht hatte, als er forderte, Apostaten umzubringen." Wer von beiden, denken Sie, zeigt hier ein tieferes historisches Wissen des Islam? Wer von beiden wird eher nachdenkliche Muslime in der Überzeugung ermutigen, dass sie sowohl gute Muslime als auch gute Bürger einer freien Gesellschaft sein können?

Ich will damit nicht sagen, dass wir den einen oder anderen Ansatz wählen müssen. Wir müssen die Dissidenten anhören und unterstützen, diejenigen außerhalb des Islams wie Hirsi Ali, aber auch diejenigen innerhalb des Islams wie Banna. Er und andere dissidente muslimische Intellektuelle, wie Mohsen Kadivar in Teheran - ihre Namen sind im Westen kaum bekannt - weichen stark von den verschiedenen konservativen, staatlich geförderten und extremistischen Positionen ab, während sie doch gläubige Muslime bleiben. Als Monolith existiert der Islam nur in der Vorstellung des Westens (und, wie wir hinzufügen sollten, in den vom Westen beeinflussten politischen Träumen einiger revolutionärer Islamisten). Was die muslimische Welt aber tatsächlich durch die Geschichte hindurch ausgezeichnet hat, sind die großen Unterschiede in dem, was Muslime unter dem Banner des Islams sagen und tun.

Die Dissidenten innerhalb des Islams sind eine kleine Minderheit. Dies sind aber auch die Takfiri-Extremisten, von denen die Selbstmordattentäter indoktriniert wurden. Doch beide Minderheiten sind in der Lage, große Teile der Mehrheit zwischen ihnen zu erreichen - vor allem unter den im Westen lebenden Muslimen. Die Stimmen dieser Dissidenten müssen deutlicher gehört werden. Der Kampf um muslimische Herzen und Köpfe sollte von Muslimen entschieden werden, die untereinander diskutieren. Wir Nicht-Muslime allerdings schaffen den Kontext - und kontrollieren einen Großteil der Medien - in dem dieser Kampf ausgetragen wird

Die Standard-Position einiger westlicher säkularer Intellektueller, die sich an dieser Debatte beteiligen, scheint zu sein: Nur ein Ex-Muslim ist ein guter Muslim. Das ist ebenso herablassend wie kontraproduktiv. Und es beinhaltet eine simplistische Parodie der tatsächlichen Vielfalt des Islams. Natürlich sollten wir Nicht-Muslime versuchen, uns über das Wesen des Islams selbst klar zu werden, mit den begrenzten Mitteln, die uns dafür zur Verfügung stehen. Aber nichts erscheint aberwitziger und dümmer als westliche, säkulare Intellektuelle, die weder vom Arabischen noch von islamischer Geschichte, Philosophie oder Recht die geringste Ahnung haben, die aber erklären, dass Gamal al-Banna kein solch wahrer Repräsentant des Islams ist wie Sayyid Qutb oder Osama bin Laden. Und dumm zu sein, können wir uns nicht erlauben, wenn wir frei bleiben wollen.

Aus dem Englischen von Thekla Dannenberg

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Timothy Garton Ash, geboren 1955, ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Isaiah Berlin Professorial Fellow am St. Antony College. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Freie Welt".

Der Artikel erschien zuerst im Guardian am 15. März 2007.

Pascal Bruckner hat mit seiner Polemik gegen Ian Burumas Buch "Murder in Amsterdam" und einen Artikel Timothy Garton Ashs eine internationale Debatte ausgelöst. Alle Artikel zu dieser Debatte finden Sie auf Deutsch hier, auf Englisch hier.