Essay

Flucht vor zu viel Erzählung

Von Ralf Bönt
13.09.2009. Krankheit ist eine Zumutung auch für den Gesunden und auf eine perfide Weise sogar gerade für ihn. Sie macht ihm Angst. Sie schränkt ihn ein, sie setzt ihn in den Stand der Hilflosigkeit, gegen den er bald rebelliert. Anmerkungen zur Debatte um die Krebsbücher von Christoph Schlingensief und Georg Diez
Es begann vor drei Wochen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung rief Richard Kämmerlings: "Lasst mich mit Eurem Krebs in Ruhe!" Dann attackierte er die Bücher von Georg Diez (hier) und Christoph Schlingensief (hier) zum Thema. Kämmerlings attestierte beiden Autoren künstlerische Qualitäten, aber beiden, ja sogar allen Autoren, die über Krebs schrieben, eine Kontamination mit dem Boulevard. Man leihe sich automatisch die Dramatisierungsformen der Sensationspresse.

Zwar ist nicht bekannt, dass die Sensationspresse Dramatisierungsformen besäße und diese anderswo nicht verwendbar wären. Eher nimmt man an, dass ästhetische Regeln eine gewisse Allgemeingültigkeit haben. Qualität dürfte sich auch an anderen Dingen festmachen, die zu benennen zum Glück immer schwierig bleiben wird. Unter Boulevard versteht man aber meist Kitsch. Man empfindet ihn, wenn der Erzählgrund für einen billigen Effekt verraten wird. Bei Krankengeschichten im Boulevard geschieht das, wenn der Leser sich für das spezielle, persönliche Drama des Kranken gar nicht mitfühlend interessiert. Oft, so unterstellt ihm Kämmerlings, baut er sich daran auf, dass auch erfolgreichere Menschen sterben müssen.

Georg Diez und seine Mutter, über deren Tod er schrieb, sind aber gar keine Prominenten. Diez ist innerhalb des Publikationsbetriebes als einer der besten Journalisten seines Alters bekannt, ja. Persönlich ist er introvertiert und still. Von boulevardtauglichem Reichtum ist im Buch nicht die Rede, im Gegenteil. Diez hat auf den Artikel auch nicht geantwortet, wie es Christoph Schlingensief sofort tat: Der Theatermann, in der Tat prominent und für Lautstärke bekannt, dazu todkrank, beschimpfte seinen Angreifer ohne die geringste Zurückhaltung, woraufhin die FAZ sich - laut Schlingensief - für den Artikel entschuldigte [Nachtrag vom 14.9.09: Richard Kämmerlings hat uns per Mail darauf hingewiesen, dass sich die FAZ nicht entschuldigt hat.]

Aber damit noch lange nicht genug. Der Spiegel brachte die Krebsgeschichte seines lang gedienten Mitarbeiters Jürgen Leinemann auf die Titelseite. Das ließ bei Michael Angele, Redakteur des Freitag und somit unterhaltsamerweise am Richard Kämmerlings gegenüberliegenden politischen Ende des Zeitungsspektrums, die Galle überlaufen: "Wer hat geil Krebs" schrieb Angele nachts um fünf für die sich gerade zum Blogportal wandelnde linke Zeitung. Angele zitierte damit Charlotte Roche, die der von ihr gehassten Bild-Zeitung eine Fixierung auf diese Frage attestiert hatte.

"Vielleicht hat es", so beginnt Angele seinen Artikel mutig, "auch mit Auschwitz zu tun". Das Ungeheure sei wohl aus unseren Köpfen verschwunden, weshalb die Selbstzensur keine Instanz mehr sei und der Exhibitionismus siege. Der Vorwurf, wie bei Kämmerlings im Diktus des Wutrausches formuliert und argumentativ diffus, schien im Kern derselbe zu sein: Prominenz plus persönliches Leid gleich Bestseller gleich keine Kunst, weil eben Boulevard. Dass kein einziges dieser Gleichheitszeichen gilt, muss man es sagen? Wie schon Marcel Hartges auf den Vorwurf des Opportunismus beim Verlegen der "Feuchtgebiete" entgegnete, erscheinen jedes Jahr Dutzende Bücher von Prominenten, die ganz und gar keine Bestseller werden. Und auch Jürgen Leinemann ist zwar hoch verdienter Journalist, aber nicht prominent.

Berechenbarerweise dauerte es dennoch keinen Tag, bis Christoph Schlingensief einen Kommentar unter Angeles Artikel setzte, den wütend zu nennen eine unnötige Verharmlosung wäre (mehr auch auf geschockte-patienten.de). Unter anderem warf er Angele Alkoholismus und dilettantischen Karrierismus vor. Dann schloss sich eine Debatte unter Nutzern an, die eine ganze Woche andauerte.

Zentral ist der Vorwurf beider Kritiker, Autobiografie sei keine Kunst. Aber ist nicht die Frage nach dem Autobiografischen, wenn sie sich der Leser stellt, der eigentliche Boulevard? Schon weil es bekanntlich bei zwei Unfallzeugen immer mindestens drei Versionen des Hergangs gibt, ist die Frage wie es wirklich war, wenig ergiebig. Beim Lesen eines Buches zählt nur das Erlebnis des Lesens, das im Übrigen bei jedem Leser wieder ein eigenes ist. Die Frage wie sich Christoph Schlingensief oder Georg Diez (oder Fritz Zorn, Jan Faktor, Silvia Bovenschen, Lance Armstrong, Kathrin Schmidt und all die ungezählten anderen) wirklich gefühlt haben und fühlen, diese Frage zu stellen ist Boulevard. Sie sollte sich der Kritiker nicht stellen, er sollte keine Mutmaßungen zur Biografie des Autors anstellen, er sollte überhaupt nicht über die Person des Autors schreiben, sondern über Bücher, über deren Misslingen und Gelingen, falls man mal eine der zum Glück ganz wenigen Regeln der Literaturkritik anführen möchte.

Die wiederholten Wutausbrüche sind aber auch nicht allein mit dem Neid auf etwaige Verkaufserfolge zu erklären, nicht mal in unserem schönen Weltzentrum des Neides. Nein, im Reden über das Kranksein setzt sich eine größere Kraft frei. Es ist die Angst.

In der Erzählung mit dem Titel "Eine Geschichte" unterscheidet Imre Kertesz die Menschen in Liebende und Nichtliebende. Im Zug von Budapest nach Wien ist der Zöllner ohne Liebe. Er nimmt dem Autor auf fiese Weise sein bisschen Geld ab. Der Schaffner lässt Kertesz danach im Zug statt nach Wien zurück nach Budapest fahren, obwohl sein Ticket eigentlich nicht gilt. Der Schaffner ist voller Liebe. Sich selbst nimmt der Autor aus dem Test nicht aus: "Der Platz neben mir bleibt frei: ich bin froh, dass niemand neben mir sitzt, in mir ist keine Liebe."

Ganz ähnlich lernt der Kranke, vor allem aber der chronisch Kranke einen Menschen, der ihn vielleicht anhören würde, rasch von einem zu unterscheiden, der dies nicht tun wird. Denn neben sich möchte er nur Liebende sitzen haben. Viele Menschen jedoch wollen nichts oder nicht zuviel vom Kranken hören. Die meiste Abwehr bieten erfahrungsgemäß die Gesunden auf. Der Gesunde kann und will sich oft nicht vorstellen, wie sich der Kranke fühlt. Der Gesunde reagiert wie ein Kind, das nicht versteht, wieso sein Vater immer Rückenschmerzen hat, wenn es toben will. Er will, so glaubt es, ja gar nicht toben.

"Du kannst nicht schlafen?" fragt der Gesunde den Kranken und fährt fort: "Aber irgendwann ist man doch so müde, dass man im Stehen schläft!" Krankheit ist eine Zumutung auch für den Gesunden und auf eine perfide Weise sogar gerade für ihn. Sie macht ihm Angst. Sie schränkt ihn ein, sie setzt ihn in den Stand der Hilflosigkeit, gegen den er bald rebelliert.

Aber auch jene, die viel mit Krankheit zu tun haben oder hatten, und sogar die Kranken selbst, fliehen manchmal vor zu viel Erzählung. Sie haben keine Kraft für all die Details dieses neuen Krebsfalls. Denn das Leid des Nachbarn relativiert auch das eigene Leid, für den man seine ganze Kraft braucht. Dann hört man am besten einfach weg. Vielleicht hat man auch nicht Krebs, sondern etwas anderes. Es ist schon putzig, wenn Lance Armstrong, der bekanntlich und auf Twitter gut sichtbar süchtig nach Bestätigung ist, dem Krebs mehr Aufmerksamkeit erkämpfen möchte. "Noch mehr Krebs?" fragen sich viele insgeheim. Vielleicht zählt Kathrin Schmidt dazu, deren Buch über eine Hirnblutung und die langwierige Genesung Kämmerlings eigentlich verteidigen wollte. Vielleicht zählt Jan Faktor dazu. Sein Problem ist eine Erkrankung, die so selten ist, dass keine Forschungsmittel bereit stehen und die Krankenkasse die unfassbare teure Behandlung nicht bezahlt. Seine Erkrankung existiert nicht.

So ist auch die gute alte Schwermetallvergiftung. Justiziabel nachweisbar ist sie nur, wenn man ein Würfelchen Gehirn erst in einen Mixer wirft und dann in einen Massenspektrografen einbringt, also wenn es zu spät ist. Die Vergiftung ist äußerst schwer erkennbar, wird daher fast immer jahrelang verschleppt, sie ist behandelbar aber inexistent, die Behandlung ist keine Kassenleistung. Wer mitten in der Entgiftung steckt, das Gift mittels injizierter schwefelhaltiger Säuren also vom Gehirn, von den Halsdrüsen und vom Knochenmark den Rückweg durch den Körper antritt, klickt sich deshalb vielleicht besser nicht täglich durch die Foren der Betroffenen. Weder die Klagen der anderen werden ihm gut tun, noch der Hohn der Ungläubigen. Und er sieht sich vielleicht besser nicht das Video an, das zeigt, wie sich eine Nervenfaser unter Einfluss von Quecksilber verhält. In den ganz schwarzen Stunden, wenn er, seit Tagen schlaflos und am ganzen Körper zitternd, im Kopf Tumult und in den Muskeln keine Kraft, mal wieder ausgelacht wurde, wünscht er sich eine besser benennbare Krankheit. Natürlich wünscht er die ewige tägliche Krebsberichterstattung wie Kämmerlings zum Teufel. Aber er weiß zu gut, wie fürchterlich dieser Wunsch ist, und behält ihn für sich. Denn jeder Kranke darf sprechen. Wer Glück hat, dem steht jemand zur Seite, der auch Informationen sortiert.

Doctorow lehrt seine Studenten: ein guter Roman ist immer entweder ein Liebesbrief oder ein Abschiedsbrief. Georg Diez hat zwar keinen Roman geschrieben, aber nur streng genommen nicht, dafür ist er beides: Liebes- und Abschiedsbrief. Es ist auch deshalb ein gutes Buch geworden, weil der Autor keine Angst hat. So spricht er noch den schlimmsten Gedanken ruhig aus, etwa dass er beim Kauf der Wohnung in Berlin daran denkt, das Geld gut gebrauchen zu können, welches er bald erbt. Wer bei Diez Neues liest, hat doppelt Glück: Er musste die Trauerkrankheit noch nicht selbst erleben und besitzt jetzt trotzdem die Erfahrung. Wer alles schon kennt, legt das Buch vielleicht weg, greift aber gewiss nicht den Autor an.

Krebs, wie jede andere schwere Krankheit auch, ist nicht, wie Kämmerlings schreibt, der große Gleichmacher. Krankheit ist immer der große Vereinzeler. Für den Kranken ist es oft die schwierigste Herausforderung und die bitterste Erfahrung, akzeptieren zu müssen, dass der Gesunde und auch der andere Kranke, dass überhaupt jeder Andere, sei es der Lebensgefährte oder ein Blogger in der Nacht, nur begrenzt bereit ist, mitzugehen. Der Kranke kann sein Leiden nicht sozialisieren. Er muss am Ende doch selber sterben oder selber überleben, um an etwas anderem zu sterben. Man wünscht Christoph Schlingensief diese Einsicht. Möge er sich gegen seine Tumoren wehren, gerne mit einem Buch, das so sein soll, wie er es haben möchte. Niemand ist gezwungen, es zu lesen.

Mit Auschwitz hat das alles übrigens wenig zu tun. Außer dass man vielleicht an Martin Walsers Paulskirchenrede denken muss. Auch damals kannte jeder den Impuls der Abwehr von sich selbst. Und jeder wusste sofort, wie peinlich diese Rede war. Weil das Weghören nun wirklich zumutbar ist und eigentlich nicht so viel Lärm macht.

Ralf Bönt