Essay

Freiheit als Leitkultur

Über die deutsch-amerikanische Historikerkonferenz "Legacy of 1848". Von Peter Mathews
07.11.2013. In Deutschland und Europa interessiert man sich nicht mehr besonders für die Revolutionäre von 1848. In Amerika sind ihre Ideen dagegen noch präsent. Zum Beispiel an einem kleinen College in Iowa, wo vor kurzem über das "Vermächtnis von 1848" diskutiert wurde.
Da fliegt man von Berlin über 7000 km mit der aktuellen Nachrichtenlage von Snowden, NSA und Merkel-Handy auf dem Smartphone in die USA, um in "The Middle of Nowhere"' am Wartburg-College, Waverly, Iowa - viele Autostunden westlich von Chicago - über deutsch-amerikanische Geschichte zu diskutieren und muss feststellen, dass selbst die neuesten Nachrichten nur recycelte Geschichte sind. Alles schon mal dagewesen, alles Vermächtnis, alles deutsch, konkret "The Legacy of 1848".

Aber der Reihe nach. Waverly ist ein kleines Städtchen mit fast 10.000 Einwohnern im Bremer-County, irgendwo im Bundesstaat Iowa, USA. Das Bremer County war bis Mitte des 19. Jahrhunderts Indianerland, das den Winnebagos, Mequakis und Pottawatomies von meist deutschen Siedlern abgejagt und abgekauft wurde. Auf dem Friedhof findet man Grabsteine mit Namen wie Thiemann, Harnisch oder Brandenburg. Der Ort hat sehr viele - vor allem protestantische - Kirchen, und auf 250 Einwohner kommt ein Geistlicher. Heute baut man auf den fruchtbaren Böden meilenweit Mais an, fährt Autos in der Größe von Kleinlastern und kauft bei Wal-Mart, einem gigantischen Supermarkt in der Größe eines Fußballfeldes, seine Fertigpizza. Gut vorstellbar, dass Gilbert Grape hier auf den Wasserturm steigt, dessen Ballontank die Stadt überragt.

Der erste Governor benannte die Gegend nicht nach Nscho-tchi, Winnetous Schwester oder Pocahontas, sondern nach Fredrika Bremer, einer schwedischen Feministin, die er offenbar sehr verehrte und die wohl einmal durch diesen Landstrich gereist ist. Größtes Unternehmen in dem Ort ist das "Wartburg-College", eine private Hochschule mit protestantischer Prägung. "Eine feste Burg ist unser Gott" steht an der Fassade der Kirche , die der Wartburg ähneln soll, und man versucht mit Rittersaal und allerlei Anspielungen die Verbindungen nach Deutschland zu pflegen. Die 1600 College-Studenten studieren hier vor allem geisteswissenschaftliche Fächer. Die Ausstattung des Campus würde jeden deutschen Uni-Präsidenten vor Neid erblassen lassen. Es fehlt an nichts - vom Indoor Sportpark mit Hallen-Schwimmbad, Indoor-Track - bis zu diversen Konzertsälen und eigenem TV- und Radiosender.

Besucher staunen hier - wie bei allen anderen Colleges in den USA - über die vorzügliche Ausstattung und sind auf den zweiten Blick von der Fürsorge (Vollpension und Doppelzimmer auf dem Gelände) wie den strengen moralischen Maßstäben auf dem Campus irritiert. Bei dem Gedanken, dass ein solcher Aufenthalt pro Jahr 42.000 Dollar brutto (d.h. minus Stipendium und Nachlass für gute Noten) kostet, entspannt man sich dann wieder und denkt an die selbstgekochten Spagetti in der WG, an Bafög und die dreizehn Bier der eigenen Studentenzeit, die man nicht missen möchte. Amerika ist eben anders. An dieser moralischen Anstalt, wie man sie bei uns nicht einmal mehr in Greifswald oder Sankt Augustin findet, diskutierten Ende Oktober 2013 fast vierzig deutsche und amerikanische Historiker über das Vermächtnis deutsch-amerikanischer Geschichte des 19. Jahrhunderts.

Wenn man sich das Programm der Konferenz "Legacy of 1848" anschaut, die 30 Referate und Reden über Carl Schurz, Walt Whitmann und Friedrich Schiller, Franz Sigel, Harro Harring, Theodor Olshausen, Anarchisten, Republikaner und deutsche Generäle im amerikanischen Bürgerkrieg oder über die weltpolitische Bedeutung der Schleswig-Holstein-Frage von 1848-1864 und die Rolle der Paulskirchenversammlung gehört hat, fragt man sich unwillkürlich, warum eine solche Konferenz nicht in der Frankfurter Paulskirche oder der Universität von Jena stattfindet. Warum sich die Aufarbeitung der bürgerlichen Revolution von 1848 in Deutschland in der amerikanischen Provinz verstecken muss. Dafür gibt es Gründe.

Der eine ist sicher persönlicher Art. Geschichte wird von Menschen gemacht und Geschichtswissenschaft eben auch. In diesem Fall waren es der unermüdliche Historiker Dr. Joachim Reppmann, den man in ganz Iowa und angrenzenden Staaten nur als "Yogi" kennt, und Daniel Walther, den "distinguished Professor for German History" am Wartburg College, die sich die Sache ausgedacht und die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung geleistet haben. Sie haben sich nicht um die Konventionen der Historikerzunft geschert und zusammengetrommelt, wer und was ihnen interessant schien. Ganz gleich ob Professor aus Berkley und Mainz oder Geschichtsversessene aus der Mississippistadt Davenport oder Kiel. Und nicht zuletzt ist es dem deutschen, in die USA ausgewanderten Arzt Claus Peter Kölln zu verdanken, der - in Deutschland kaum vorstellbar - die ganze Sause bezahlt hat. Aber das ist nur der eine, der amerikanische Teil dieser Konferenz. Der andere ist ernster, weil politisch, und deutsch.


Theodor Olshausen, Carl Schurz, Franz Sigel, Harro Harring

Die 1848er Revolution gilt im allgemeinen Geschichtsverständnis als gescheitert. Und unbestritten hat die Paulskirchen-Versammlung ja auch nicht obsiegt, wurden die Forderungen des Vormärz verraten, politische Ziele verfehlt. Auf die Revolution folgte bald das Deutsche Reich und nach 1919 die Erkenntnis, dass die Deutschen keine Revolution können. Die Protagonisten der Revolte von 1848 gingen reihenweise ins Gefängnis oder außer Landes. Viele von ihnen in die USA. Aber dorthin gingen sie nicht als Geschlagene, sondern als Kämpfer. Sie gründeten Zeitungen, bauten Fabriken und Geschäfte auf, mischten sich in ihrer neuen Heimat in die Politik ein. Fast alle deutschen Revolutionäre beteiligten sich im amerikanischen Bürgerkrieg, kämpften in vorderster Front gegen die Sklaverei und für Freiheitsrechte. Einer von ihnen, Carl Schurz aus Liblar bei Köln, wurde General und später Innenminister der USA. Von ihm stammen die heute im Kern noch gültigen Einwanderungsgesetze der USA und die Doktrin, dass die USA keine Kolonien erobern. Er gehört, wie auch der Dichter und Revolutionär Harro Harring, zu der Gruppe von Menschen, die für Ideen eintraten, die zum Teil erst hundert Jahre später langsam Wirklichkeit wurden. Harring zum Beispiel forderte 1834 gemeinsam mit Guiseppe Mazzini ein "Junges Europa" ohne Fürsten und Grenzen und wurde dafür unter anderem von Karl Marx verspottet. Andere flohen vor der Repression und Bespitzelung, wie sie Metternich in ganz Europa organisierte und die in nichts dem nachstand, worüber wir uns heute bei der NSA aufregen. Auch das ist ein Vermächtnis. Wir müssen erkennen, dass die Freiheit eben manchmal im Namen der Freiheit mit Füßen getreten wird.

Viele von der Repression Vertriebene prägten mit ihren Ideen, ihrem Mut und ihrer Erfahrung die USA nachhaltig. Der Freiheitsgedanke der Revolution von 1848 siegte in den USA, lange bevor er in Deutschland reüssierte. Die Idee der Freiheit als Leitkultur prägte die Deutschen in den USA mehr als alle Deutschtümelei. Die Dutch (Deutschen) bildeten um 1900 die größte fremdsprachige Ethnie in den USA, und doch machten sie ihre Heimat nicht deutsch, sondern wurden Amerikaner. Im ersten und im zweiten Weltkrieg verteidigten sie in der US-Armee die Freiheit des Landes und halfen Europa vom Faschismus zu befreien. Die USA sind ohne die deutschen Einwanderer nicht denkbar. Und die Bundesrepublik Deutschland gäbe es ohne die USA nicht. Das ist das eigentliche Vermächtnis von 1848.

Die Konferenz in der amerikanischen Provinz machte deutlich: Das Vermächtnis von 1848 ist international, es ist das Vermächtnis der Freiheit. Heimat ist da, wo die Freiheit und die Erinnerung wohnt. Zum Beispiel in Waverly, irgendwo in Iowa.

(Die Konferenz fand vom 19.- 22.10. 2013 am Wartburg College, in Waverly, Iowa, USA statt)