Essay

Hätte Freud Emails geschrieben...

Von Philipp Baar
09.05.2011. Archive konstruieren nicht nur die Vergangenheit. Sie strukturieren auch das Denken. Was verändert sich durch ihre Digitalisierung?
Hätte Freud Emails geschrieben, wäre die Psychoanalyse etwas völlig anderes. Mit anderen Diskursen, anderen Texten, anderen Theorien. Der Grund dafür? Das Archiv der Psychoanalyse wäre ein anderes, da Freuds Aufzeichnungen digital entstanden wären. Denn im Archiv wird die Realität nicht nur aufgezeichnet, sie wird dort entworfen. Dies beschreibt Jacques Derrida in "Dem Archiv verschrieben". Im Archiv wird bestimmten Dokumenten ein Ort der Dauer zugewiesen an dem sie längere Zeit aufbewahrt werden. Um die Schöpferkraft des Archivs zu bebildern beschreibt Derrida ein Szenario, in dem die Psychoanalyse mit Hilfe modernster Technik entwickelt wird. Freud und seine Kollegen kommunizieren per Email, Fax, etc., das "alte" Kommunikationsmittel Brief wird nicht benutzt. Die Bewahrung der Geschichte der Psychoanalyse findet in Derridas Fiktion also nicht auf gedrucktem Papier statt, sondern elektronisch. Damit verändert sich allerdings nicht nur die Form der Aufbewahrung der psychoanalytischen Schriften, sondern auch ihre Inhalte. Die Nutzung anderer Aufzeichnungsmedien hätte die "Geschichte von Grund auf und im anfänglichsten Drinnen ihrer Hervorbringung, schon in ihren Ereignissen verwandelt". Das liegt daran, dass die der Speicherung zugrunde liegende "technische Struktur" die Struktur ihrer Inhalte schon vor deren Entstehen bestimmt. Schon bei der Anlage eines Archivs wird festgelegt, welche Dokumente zum "archivierbaren Inhalt" gehören, indem eine Entscheidung darüber gefällt wird, welche Qualitäten eines Materials überhaupt dokumentiert werden können.

Beim Hervorbringen von Ereignissen spielen die Medien naturgemäß eine zentrale Rolle. Etwas überspitzt gesagt: Was nicht im Internet steht, hat auch nicht stattgefunden. Weil es nicht im Archiv auftaucht. Unnötig zu sagen, dass die Geschichte der politischen Manipulationen, Kriege und Bürgerkriege immer auch ein Interesse daran hatte, "sich eine Macht über das Dokument, seinen Besitz, seine Zurückhaltung oder seine Auslegung anzueignen."

Will eine Regierung Transparenz signalisieren, kann sie Archive öffnen und den Bürgern Akten zugänglich machen. Dieser Tradition folgend wurde kürzlich in Rumänien das Securitate-Archiv geöffnet. Vor der Öffnung des Archivs hatten die Medien dem Lyriker Oskar Pastior zu literarischer Größe verholfen. Ihm wurde posthum der Büchner-Preis verliehen, seine schriftstellerische Biografie wurde in zahlreichen Nachrufen konstruiert und die Geschichte in den Archiven begraben. Angesichts der nun zu Tage getretenen Akten muss Pastiors Rolle als bloßes Opfer der Securitate jedoch neu überdacht werden. Stellte sich doch heraus, dass Pastior von der Securitate auch als IM geführt wurde. Hier bestätigt sich die Macht des Archivs als Produktionsort von Vergangenheit - die Biografie Pastiors wird im Archiv konstruiert. Tauchen neue Akten auf, muss die Historie eventuell modifiziert werden.

In diesen Akten nun eine historische Wahrheit über Oskar Pastior zu suchen ist ein müßiges Unterfangen. Denn es handelt es sich um Texte, die den Regeln zur Konstruktion von Dokumenten des Securiate-Archivs folgten. So bemerkt auch Dieter Schlesak in der FAZ, als Freund und gleichzeitig Objekt der IM-Tätigkeit Pastiors, wie wichtig es sei, "dass wir diese Akten niemals als 'Wahrheitsquelle' ansehen, dass wir Rückschlüsse daraus ziehen, als wären sie 'tatsachengerecht', denn es sind meist Produkte oder Teilprodukte eines Führungsoffiziers". Und ein solcher Führungsoffizier stand ganz im Zeichen der konstruierbaren Wirklichkeit durch die Securitate, wählte unter diesen Vorzeichen sein Material aus, modifizierte und speicherte es. Das Studium der vom Spitzel Pastior angelegten Akten kann für Schlesak also nur eine Annäherung an die historische Situation bieten, keine Rekonstruktion der Realität. Unter welchen Bedingungen die Akten entstanden und wie groß der Verrat an den Schriftstellerfreunden gewesen sein mag, ist lediglich zu vermuten. Die Zukunft muss zeigen, welcher Pastior-Entwurf im Archiv der Weltliteratur Bestand haben wird.

Durch Digitalisierung und somit veränderte Aufbewahrungstechniken verändern sich auch unsere Archive. Ein Beispiel für ein ambitioniertes Archivprojekt im Internet ist das Rossetti-Archiv. Es stellt Material von und über den Lyriker und Maler Dante Gabriel Rossetti bereit. Archivgründer und Textwissenschaftler Jerome McGann muss sich darum sorgen, wie die Zukunft des Archivs nach dem Tod seiner Gründer aussehen soll. Denn trotz seines klar begrenzten Gegenstandes kann das Archiv niemals Vollständigkeit erreichen, da es auch zukünftige Publikationen zu Rossetti potentiell aufnehmen muss. Neben dem Rossetti-Archiv treibt McGann in Forschung und Lehre verschiedenste Projekte voran, um Wissenschaftlern und Studenten digitale Möglichkeiten zu eröffnen. Möglichkeiten, wie die elektronische Verwaltung von sehr großen Bibliotheksdatensätzen, plus deren Verfügbarkeit von überall auf der Welt; interaktive Schlagwortkataloge, welche die Relevanz von Informationen immer wieder neu modifizieren lassen oder eine Volltextsuche erscheinen dem Literaturwissenschaftler wie der lang ersehnte Landstrich am leeren Horizont der Philologie.

Bei aller Begeisterung stellen sich McGann dennoch editions- und textwissenschaftliche Fragen, die es zu beforschen gilt. (vgl. aktuelle Projekte hier) Die spezifischen Formen elektronischer Texte verlangen nach einer digitalen Editionswissenschaft, um Standards für deren Form zu gewährleisten. So sieht der Archivar Eric Ketelaar mit der Digitalisierung statt Chancen eher Herausforderungen auf seinen Berufsstand zu kommen. In seinem Essay "Archive im digitalen Zeitalter: 'New Uses for an Old Science'" (hier als pdf-Dokument) wird die Digitalisierung als soziokulturelles Phänomen beschrieben, das den gesellschaftlichen Alltag sowohl im Privat-, als auch im Berufsleben beherrscht und somit die Produktion von potentiellem Archivmaterial bestimmt. Dabei produziert die Technologie lediglich digitale Daten, physische Informationen können den Archivaren nicht länger als Bearbeitungsgegenstand dienen. Die Verwendung moderner Technologien beeinflusst die Inhalte archivierbaren Materials, verbreitert ihre Reichweite und integriert sie in einen dynamischen Prozess, in dem Dokumente in unterschiedlichen Kontexten und Erscheinungsformen immer wieder neu entstehen und modifiziert werden.

Um die Authentizität einer Akte zu gewährleisten, muss der Archivar sicherstellen, dass Form, Inhalt und Struktur mit der ursprünglichen Erscheinung der Akte übereinstimmen. Bei physischen Akten fällt dies leicht, elektronische Daten müssen jedoch erst mittels verschiedener Medien sichtbar gemacht werden, sie liegen nur potenziell vor. Jedes Dokument existiert immer nur als Variante, es gibt kein eindeutiges Original mehr, sondern es muss durch Kopien jedes Mal neu generiert werden. Mit der Art der Speicherung von Dokumenten ist im digitalen Raum stärker denn je eine Bewertung verbunden, bei der bestimmte Aspekte bewahrt, andere vernichtet werden, je nach dem in welchem Format digitale Daten abgelegt werden, verändert sich ihr Erscheinungsbild.

Der Archivar muss weiterhin gewährleisten, dass die ursprüngliche Ordnung einer Akte, ihre Quelle und ihr Kontext erkennbar bleiben. Angesichts digitaler Daten entsteht das Problem, dass Kontexte teilweise modifiziert werden oder generell nur schwer vollständig zu erfassen sind. So ist zum Beispiel die Auswertung der Kommunikation der nordafrikanischen Widerständler über Facebook oder Twitter für den Archivar eine Sisyphusarbeit. Oft zeichnen außerdem nicht länger einzelne Bearbeiter für eine Akte verantwortlich, sondern Dokumente entstehen im Konglomerat Vieler.

Jedes Archiv, nicht nur die digitalen, funktioniert mittels Wiederholung. (vgl. dazu auch Mercedes Bunz "Ökonomie des Archivs") Durch die Speicherung an einem bestimmten Ort wird dem Dokument ein Potenzial, in der Zukunft wiederholt zu werden, verliehen. Die Quelle wird in Strukturen eingeschlossen, in denen ihre (der Vergangenheit angehörende) Ursprungsform wieder entstehen kann. Folgt man Derrida ist in der Wiederholung eine Modifikation der Ursprungsquelle enthalten, die diese nachhaltig verändert, da jede Wiederholung der Ursprungssituation etwas hinzu fügt. Mit Derrida gesprochen: "Das Archiv arbeitet allzeit und a priori gegen sich selbst." - denn die zu archivierenden Gegenstände werden mit ihrer Aufzeichnung verändert, eine dem Ursprung vollkommen identische Aufzeichnung kann niemals gelingen.

Jedes Archiv bewahrt also nicht nur Vergangenheit, es öffnet auch Möglichkeiten für die Zukunft. Dem gespeicherten Dokument wird das Potenzial verliehen, zu einem späteren Zeitpunkt neu zu erscheinen und in anderen Kontexten relevant zu werden. Wie Mercedes Bunz über "Die Ökonomie des Archivs" formuliert: "Vergangenheit bleibt offen für die Zukunft, denn Zukunft besteht in der Neuordnung des Archivs." Dieser Aspekt wird im Falle digitaler Archive wesentlich verstärkt. Gerade im Internet fällt es leicht, das Dokument in neue Kontexte zu integrieren, indem es beispielsweise kopiert oder verlinkt wird. Der Archivar kann jedoch über diese Prozesse keinerlei Kontrolle ausüben, mehr noch: er kann sie in vielen Fällen nicht einmal vollständig beobachten. Sind Akten erst einmal online erschienen, vollzieht sich ein immenser Kontrollverlust - das Internetarchiv ist ein Archiv ohne Hüter.

Soweit die Theorie. Ihre verschiedenen Probleme schlagen sich in der Praxis vor allem im Falle von Wikileaks nieder. Das Motto der Seite "We open Governments" soll für einen neuen Investigativjournalismus stehen, der unabhängig von Regierungen ist und deren Machenschaften offen legt. Als Evidenz werden Regierungsdokumente, die meist der Geheimhaltung unterliegen, veröffentlicht. Das Material wird zwar journalistisch aufbereitet, die Seite funktioniert aber nicht wie eine journalistische Plattform, sondern ist ein Archiv. "Und genau darauf gründet ihr Einfluss. Wikileaks ist eine radikale Demokratisierung des Archivs", so Johannes Thumfart auf ZeitOnline. Auf Wikileaks werden schlicht Dokumente gesammelt, die Auswertung des Materials bleibt den Nutzern überlassen. Es ist bezeichnend, dass größere Enthüllungen immer eine doppelte Debatte anstoßen: Einerseits wird über die zu Tage getretenen Inhalte der jeweiligen Dokumente gestritten (Über wen enthüllen sie was? Sind sie echt? Was für Konsequenzen haben sie? Für wen?), andererseits wird Wikileaks an sich in Frage gestellt (Bringen die Veröffentlichungen jemanden in Gefahr? Ist die Veröffentlichung legal? Darf man Wikileaks trauen?).

Laut eigenen Angaben prüft Wikileaks jedes eingehende Material gründlich, bevor es veröffentlicht wird. Dabei wandern zahlreiche Fälschungen in den Müll. Im SZ-Interview verrät Wikileaks-Sprecher Julian Assange, sie erhielten auch Fälschungen von Geheimdiensten. Hier wird also von Regierungsseite der Versuch unternommen, ein Archiv zu befüllen, das nicht das eigene ist. Die gewünschte Platzierung des Materials bei Wikileaks kann dabei zwei Zwecken dienen. Erstens kann so bereits vorhandenem Material ein Gegenpol gesetzt werden, zweitens soll Wikileaks für Authentizität bürgen, indem die scheinbare Unabhängigkeit von Regierungen für einen von den eigenen Interessen losgelösten Kontext sorgt.

Die Seite hat sich während ihres vierjährigen Bestehens Freunde und Feinde gemacht. Es gab Versuche Server lahm zu legen, Paypal, Amazon und Mastercard stellten plötzlich die Zusammenarbeit mit den Seitenbetreibern ein. Größter Feind ist wohl die US-Regierung, die massiven politischen Druck gegen Wikileaks-Unterstützer ausübt. Es wurde schließlich sogar eine CIA-Task-Force gegründet, die die Arbeit der Seite überwachen soll.

Die "Macht über das Dokument" (Derrida, s.o.) will vor allem im Kriegsfall nicht verloren werden. Jeder Krieg bedeutet immer auch einen Krieg um Bilder und Texte; Krieg um Informationen also. Um das Bild eines Krieges vor der Weltöffentlichkeit und für den Einzug in die Geschichtsbücher zu prägen, gilt es, die Macht über das Archiv des Krieges zu erlangen. Die einfachste Möglichkeit besteht in der Filterung der Informationen, die zu den Medien gelangen. Wikileaks hat in der Vergangenheit genau diese Steuerung des Informationsflusses unterlaufen, indem zum Beispiel aus Afghanistan oder dem Irak Dokumente veröffentlicht wurden, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Dahinter verbirgt sich die Forderung, dass Regierungen völlig transparent arbeiten, das heißt ihre Archive vollständig zugänglich machen sollten.

Bisher sind alle Versuche Wikileaks ungeschehen zu machen, gescheitert. Durch das Internet hat die Demokratisierung der Archive eine Infrastruktur gefunden, die nicht kontrolliert werden kann - so sehr einige Organisationen dies auch wünschen. Als sich die Angriffe auf die Server häuften, rief Wikileaks zum Kopieren der eigenen Seiten auf, um die Inhalte durch Vervielfältigung gegen Verluste zu schützen. Der Aufruf wurde tausendfach erhört. Denn jedes Dokument, das im Wikileaks-Archiv veröffentlicht wird, tritt sofort in einen sehr dynamischen Prozess der Weiterleitung und Vervielfältigung von Informationen ein. Das von Derrida beschriebene zukünftige Potential archivierter Daten tritt bei den meist brisanten Dokumenten auf Wikileaks sofort in Aktion. Im Kampf der verschiedensten Organisationen gegen Wikileaks geht es um die Kontrolle über das Archiv. Und mit Hilfe des Internets kann diesen Kampf jeder von überall auf der Welt führen. Denn vor den Toren des Internetarchivs sagt man nicht "Sesam öffne dich", sondern "Copy and Paste".

Philipp Baar