Essay

Aufgeplusterte Empörung

Von Matthias Küntzel
18.08.2020. Der "menschenverachtende" Skandal, der den "Offenen Brief" von sechzig Intellektuellen an die Bundeskanzlerin auslöste, ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten: Der Autor Arye Sharuz Shalicar hat den Autor Reiner Bernstein angegriffen. Bernstein hat sich dagegen vor Gericht gewehrt und verloren. Die Gruppe um Wolfgang Benz und andere macht daraus eine Aktion der israelischen Regierung, der sich deutsche Gerichte angeblich unterwerfen und deren schärfste Waffe der Antisemitimusvorwurf sei. Rekonstruktion einer Jagd nach Hirngespinsten.
"Ist Israelkritik erlaubt?" Um diese Frage dreht sich der neue Antisemitismusstreit, den eine Gruppe um Wolfgang Benz vom Zaun gebrochen hat. Die Frage impliziert, dass es eine höhere Instanz gibt, die uns Genehmigungen oder Sprechverbote erteilt - und zwar ausschließlich beim Thema Israel. Niemand würde fragen: "Ist Polenkritik erlaubt?" oder "Ist USA-Kritik erlaubt?" Was also ist bei Israel anders?

Die Antwort hat mit der Geschichte des Antisemitismus zu tun. In der Realität gibt es keinen israelischen Politiker, der Stellungnahmen von Deutschen genehmigt, brandmarkt oder gar verbietet. Die Annahme, man dürfe Israel nicht kritisieren, ist ein Hirngespinst.

Gleichwohl beklagt sich ein von Wolfgang Benz und anderen unterzeichneter "Offener Brief" (hier als pdf-Dokument) an Bundeskanzlerin Angela Merkel über eine "zunehmend auch in Deutschland wirksame Strategie der israelischen Regierung, jegliche Kritik der völkerrechtswidrigen Besatzungs- und Siedlungspolitik als antiisraelisch und antisemitisch zu brandmarken." Als "Beispiel, welches menschenverachtende Ausmaß solche Aktivitäten annehmen können", verweisen die Unterzeichner/innen auf einen Beschluss des Berliner Kammergerichts von Mai 2020.

Der Historiker Reiner Bernstein hatte auf Unterlassung von zehn ihn betreffenden Äußerungen geklagt, die in dem Buch "Der neu-deutsche Antisemit" des Autors Arye Sharuz Shalicar enthalten sind. Das Kammergericht qualifizierte die angegriffenen Passagen jedoch als zulässige Meinungsäußerungen und wies den Unterlassungsantrag zurück. Angesichts der von Israel geschürten "Stimmung der Brandmarkung, Einschüchterung und Angst" wundere es nicht, so die Autorinnen und Autoren des "Offenen Briefs", "dass das Berliner Kammergericht Bernsteins Klage gegen seine Verleumdung zurückgewiesen hat".

Doch halt. Die Vorstellung, Juden aus Jerusalem machten Stimmung und deutsche Richter beugen sich deren Willen, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Sie reproduziert jedoch eine jahrhundertealte antisemitische Imagination: Das Bild vom manipulierenden und strafenden Juden, der besonders uns Deutschen zu Leibe rückt.

"Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum - Vom nicht-confessionellen Standpunkt aus betrachtet" - hieß beispielsweise das Buch, mit dem Wilhelm Marr 1879 den modernen Antisemitismus begründete. Bereits im Titel dieser Schrift wurde das Phantasma jüdischer Allmacht einer vermeintlichen Ohnmacht des "Germanenthums" gegenübergestellt. 130 Jahre später griff der Journalist Jakob Augstein dieses Muster auf: "Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen",  behauptete er 2012 und brachte damit nicht nur jüdische Strippenzieher ins Spiel, sondern evozierte mit dem Verb "sich beugen" das aus der Weimarer Zeit berüchtigte Bild des "Erfüllungspolitikers": Juden geben den Ton an, Deutsche kuschen.

Dieses Muster taucht auch in dem von Wolfgang Benz kürzlich herausgegebenen Sammelband "Streitfall Antisemitismus" auf. "In Israel herrscht eine Atmosphäre der Einschüchterung, die jetzt exportiert wird", zitiert Benz zustimmend aber ohne die Spur eines Nachweises eine israelische Soziologin (Seite 16). "Energisch" trage "das israelische Ministerium für strategische Angelegenheiten zur Instrumentalisierung des Kampfes gegen Antisemitismus bei."(Seite 31) So sei auch der Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages nicht aus freien Stücken zustande gekommen, sondern "nur im Zusammenhang mit einer breit angelegten Kampagne der israelischen Regierung zu verstehen", schreibt Muriel Asseburg, eine Mitarbeiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik. (Seite 292) In Benz' Buch werden der Reihe nach all jene, die Israel angeblich auf seine Seite ziehen konnte, vorgeführt: Da ist Volker Beck als "unermüdlicher Anwalt offizieller israelischer Interessen"(Seite 104), da ist die Zeitschrift Jungle World, die "sich traditionell der israelischen Regierungslinie zugewandt zeigt" (108), da sind "durchsetzungsstarke Vertreter der Interessen Israels … wie das American Jewish Committee" (Seite 136), ganz zu schweigen von all den "lokalen (durchaus unterschiedlich motivierten) Verbündeten … der israelischen Regierung", wie zum Beispiel der "Zentralrat der Juden, die Springer-Presse und pro-israelische Lobbyorganisationen, wie zum Beispiel die Werteinitiative, NAFFO und die Initiative 27. Januar; Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Publizistik sowie die Beauftragten für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus auf Bundes- und Landesebene." (Seite 293f) Sie alle scheinen keinen eigenen Verstand zu haben, sondern blind irgendwelchen "offiziellen israelischen Interessen" zu dienen.

In einem Interview malt Benz das Ausmaß der "Bearbeitung" weiter aus:  "Sehr viel" deute darauf hin, dass Israels Regierung heute mehr als früher Einfluss nehme. "Dafür spricht etwa, wenn Sitzungssäle, wenn Vortragsräume verweigert werden auf einen Wink jüdischer Seite hin, die die Politik Netanjahus verteidigen." (So Benz im Gespräch mit dem Deutschlandfunk.) Man erlebe "die Auswüchse einer zunehmend auf Zerstörung und Vernichtung Andersdenkender gerichteten Debatte." (Seite 12.)

Hier koppeln sich - auch dies ein bekanntes Muster aus der Geschichte des Antisemitismus - die Ängste vor vermeintlicher jüdischer Strippenzieherei - dem "Wink von jüdischer Seite" - mit paranoiden Fantasien, die die Wirklichkeit auf den Kopf stellen. Denn auch heute noch wollen Antisemiten Juden vernichten, nicht umgekehrt.


Arye Sharuz Shalicar

Zwar trifft es zu, dass sich Israels Präsident Benjamin Netanjahu im Herbst 2018 an die Bundesregierung wandte, um eine Kürzung der öffentlichen Gelder für das Jüdische Museum in Berlin zu erreichen, dem er die Förderung "antiisraelischer Aktivitäten" vorwarf. Diese Einmischung wurde in Israel wie auch hierzulande derart massiv kritisiert, dass keine weiteren Schritte dieser Art folgten. Demgegenüber ist die aufgeplusterte Empörung über die Causa Bernstein vs. Shalicar, jener "menschenverachtende" Skandal, der dem "Offenen Brief" an die Bundeskanzlerin zugrunde liegt, an Lächerlichkeit kaum zu überbieten.

Opfer ist hier der "sorgfältig differenzierende Historiker" Reiner Bernstein, der sich, so der "Offene Brief", seit Jahrzehnten "für eine gerechte und gewaltfreie Lösung des Israel-Palästina Konflikts" eingesetzt habe. Täter ist Arye Sharuz Shalicar, ein israelischer, in Deutschland aufgewachsener Jude mit iranischen Wurzeln und Autor des Buchs "Der neu-deutsche Antisemit - Gehören Juden heute zu Deutschland? Eine persönliche Analyse". Hat einer der sechzig Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Briefes - darunter bedeutende Autoren wie Christoph Hein, Ursula Krechel, Sten Nadolny oder Fania Oz-Salzberger - dieses Buch je gelesen? Es handelt sich um einen sehr persönlichen und auch wütenden Bericht über das, was Shalicar als Jude auf deutschen Straßen wie auch im Kontakt mit deutschen Israel-Korrespondenten erlebte.

Den Unterzeichner/inne/n des "Offenen Briefs" zufolge soll aber ausgerechnet dieses Buch "paradigmatisch" für die "zunehmend auch in Deutschland wirksame Strategie der israelischen Regierung" sein, "jegliche Kritik … als antiisraelisch und antisemitisch zu brandmarken" - ganz so als habe Shalicar eine Anordnung aus Jerusalem benötigt, um über seine Erlebnisse als Jude auf Berliner Straßen zu schreiben.

Es sind gerade einmal zwei von 160 Seiten, auf denen sich Shalicar mit Bernstein befasst. Eineinhalb Seiten davon bestehen aus einem kritischen Zitat des Autors Gerd Buurmann über Bernstein, das Shalicar von Buurmanns Blog tapferimnirgendwo.com übernahm. In erster Linie hätte sich der "Offene Brief" also über Buurmann, ein langjähriges nichtjüdisches FDP-Mitglied, beschweren müssen. Dann aber hätte die Kampagne die von ihren Initiatoren gewünschte Stoßrichtung verfehlt - ging es ihnen doch darum, die "Strategie der israelischen Regierung" entlarven.

Buurmann blieb völlig unerwähnt, denn man machte einen Riesenfund: den von Shalicars Verlag publizierten Hinweis, dass der Autor seit 2017 "Direktor für Auswärtige Angelegenheiten im Ministerium für Nachrichtendienste im Büro des israelischen Ministerpräsidenten" sei. "Nachtigall, ick hör' dir trapsen", sagt der Berliner. Die Verschwörung ist entlarvt und der eigentliche Schuldige gefunden. Über Shalicar habe der "israelische Geheimdienst" indirekt "Einfluss auf die Debatte in der deutschen Öffentlichkeit" genommen, gab Micha Brumlik bekannt, um in "aggressiv-populistischer Machart … Stimmen des Friedens … mundtot" zu machen, wie es in dem "Offenen Brief" heißt. Spurenelemente eines Belegs für derartige Anwürfe sucht man vergebens. Der Hass und die Projektion, die hier einem Autor nur deshalb entgegenschlagen, weil er als israelischer Regierungsbeamter sein Geld verdient, sind bemerkenswert.


versus Reiner Bernstein

"Reiner Bernsteins antisemitische Sichtweise hat der Blog www.tapferimnirgendwo.com wie folgt sehr gut auf den Punkt gebracht", schreibt Shalicar, der anschließend Buurmann zitiert. Im Zentrum dieser Blog-Kritik steht Bernsteins Auftritt  von Februar 2018 anlässlich einer Veranstaltung der Evangelischen Kirche in Bochum. Die Veranstalter haben einen Mitschnitt dieser Veranstaltung (circa 100 Minuten) online gestellt. Ich habe ihn mir angehört. Kann hier von "antisemitischer Sichtweise" die Rede sein?

Bernstein zitiert am Ende seines Vortrags eine "Weisung", die der langjährige FAZ-Korrespondent in Israel, Moshe Tavor, ihm einst auf den Weg gegeben habe und die ihn seit Jahrzehnten beschäftige: "Wir wissen um die deutschen Verbrechen", habe Tavor ihm gesagt. "Aber wir wissen auch und bitte, denkt ihr Deutschen daran, wenn ihr nach Israel kommt, so viel Unbefangenheit mitzubringen, dass ihr unsere Politik kritisch begleitet."

Interessant ist, was Bernstein unter "unbefangen" versteht. In Bochum jedenfalls war es für den Historiker eine ausgemachte Sache, dass Israel der einzige Schuldige am Nichtzustandekommen von Frieden mit den Arabern sei. "Die israelische Politik" habe "dafür gesorgt", dass 1967 das Westjordanland annektiert und ein palästinensische Staat seither verhindert worden sei. Kein Wort von der Ablehnung zahlloser Kompromissvorschläge durch die arabische Seite oder den Nasserschen Vernichtungsaufrufen, die dem Sechs-Tage-Krieg 1967 vorausgingen. Stattdessen widmete Bernstein einen größeren Teil seiner Rede der BDS-Kampagne, die er vehement ("Sie merken, dass ich an dieser Stelle entschieden bin!") gegen deren Kritiker verteidigte.

Als ein Diskussionsteilnehmer höflich auf die Existenz von Hamas und Hisbollah und deren Auslöschungsaufrufe verwies, die man angesichts der Shoah-Erfahrung vielleicht doch ernst nehmen solle, reagierte Bernstein, anstatt darauf einzugehen, mit einer Salve von Gegenfragen: "Waren Sie mal in Jerusalem am Jerusalemtag?", rief er, jetzt hoch erregt. "Haben Sie gehört, dass Tausende gebrüllt haben: 'Tod den Arabern'? Haben Sie mal erlebt, dass Haufen von Juden, von Israelis, in Jerusalem randalierend durch die Gassen ziehen? Wie die Palästinenser ihre Läden dicht machen müssen?" Hier zeigte Bernstein mit beeindruckender emotionaler Intensität, dass er ein sehr wesentliches Moment des Nahost-Konflikts - die Politik von Hisbollah und Hamas - nicht thematisiert haben will.


"Israelkritik" ohne "Palästinenserkritik"

Daran aber erkennt man den großen Unterschied zwischen einer "Kritik" an der israelischen Regierung, die die besondere Gefährdung des Landes natürlich zu berücksichtigen hat und einer "Israelkritik", die diesen Kontext israelischer Existenz leugnet oder verschweigt, wie dies bei Bernsteins Bochumer Vortrag der Fall war.

"Ist Israelkritik erlaubt und wenn ja wie viel?", fragt Benz in seinem jüngsten Buch (Seite 9). Natürlich ist "Israelkritik" erlaubt! Aber es gibt kein Argument, das das Ausblenden der realen Bedrohungen Israels rechtfertigt. Wer dennoch die eliminatorischen Formulierungen in Dokumenten und Äußerungen von Führungspersonal im Iran, bei Hamas oder in arabischgeprägten Ländern mutwillig ignoriert, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht dadurch den Kräften, die Israels Existenzrecht negieren, ein Zeichen heimlichen Einverständnisses gibt.

Darüber hinaus wird er den Vorwurf, er betreibe israelbezogenen Antisemitismus, in Kauf nehmen müssen: Denn er delegitimiert die israelischen Verteidigungsanstrengungen, indem er so tut, als gäbe es für sie überhaupt keinen Grund. Er dämonisiert die israelische Politik, indem er so tut, als wolle diese mutwillig Krieg und er legt an den jüdischen Staat einen doppelten Maßstab an, da man jedem anderen demokratischen Staat, der angegriffen wird, das Recht auf Verteidigung zugesteht. In den Worten Shalicars: "Wer 'Israelkritik' übt, aber keine ,Palästinenserkritik', ist ein Antisemit."

"Im Hass auf Israel treffen sich seit Jahren alle Antisemiten, gleich welcher politischen oder ideologischen Ausrichtung", hat Monika Schwarz-Friesel in der Welt vom 28. Juli zutreffend geschrieben. Überall in der Welt, wo Antisemitismusforschung ernsthaft betrieben wird, ist man sich darüber einig, dass gegenwärtig der israelbezogene Antisemitismus die häufigste Erscheinungs- und Ausdrucksform von Judenfeindschaft ist. Es gibt somit keinen "Streitfall Antisemitismus", wohl aber bei einigen den Wunsch, diesen wesentlichen Aspekt der Antisemitismuskritik zu desavouieren.

Es ist zu vermuten, dass viele Unterzeichner des "Offenen Briefes" "Israelkritikern" wie Bernstein einen Persilschein ausstellen, weil sie dessen Einäugigkeit teilen und diese zu verteidigen suchen. Sie wehren sich damit aber nicht nur gegen die Fortschritte in der Antisemitismusforschung, sie wollen diese nicht nur auf einen Stand zurückzerren, wie er vor fünfzig Jahren üblich war, sondern sie greifen mit ihren Anschuldigungen gegenüber Israel auch auf antisemitische Muster zurück.

Schlimm genug, dass sich hieran selbst ein Wolfgang Benz führend beteiligt, den viele für den Doyen der deutschen Antisemitismusforschung halten. Doch so lächerlich es 1879 war, einen "Sieg des Judenthums über das Germanenthum" zu behaupten, so lächerlich ist der gegenwärtige Versuch der "Israelkritiker" sich zu Opfern einer heimtückischen Strategie Israels zu stilisieren.

Matthias Küntzel