Essay

Phänomen Abstieg

Von Robin Detje
24.08.2006. Was unternimmt der noch jugendliche Großkritiker, wenn auf einmal niemand mehr Großkritiker braucht? Wohin verschlägt es den Feuilletonisten, wenn die Zeit der Edelfedern zu Ende geht?
Politisch, ästhetisch und privat, in kulturpolitische Zusammenhänge gesetzt und versehen mit Materialien zum Niedergang des bürgerlichen Theaters von Robin Detje

1. Abstieg, politisch: Freundliche Übernahme

"Kultur" ist eine Standesorganisation wie die Ärzteschaft oder die Justiz (vergl. hierzu Alexander Kluge: "Korti", in: "Lebensläufe", Stuttgart 1962). Die Angehörigen des Kulturstandes (heute oft irreführend: "Kulturbetriebes") schützen die Ihren. Aber wie? Und wovor? Man begreift sich gern als Opfer, ohne diese Fragen beantworten zu können.

Ein Gedankenspiel des ehemaligen Theaterkritikers D.:
Übernahme des ehemals bürgerlichen Kulturbetriebes durch die Unterhaltungsindustrie. Ein Konsortium - Vivendi, Metropolen-Magazin Prinz, Nestle - kauft für eine Summe von einem Euro den deutschen Stadttheaterbetrieb. Problem: Man darf das nicht sagen. Allein die Präsentation der Idee in satirischer Form würde den Stadtkämmerern so viel Wasser im Munde zusammenlaufen lassen, dass ihre Verwirklichung kaum noch zu verhindern wäre: der weiße Ritter!

Businessplan:
Vivendi sorgt dafür, dass in den Aufführungen die Musik der konzerneigenen Label verwendet wird. Die Theaterkünstler dürfen zur Premiere wichtiger neuer CDs Revuen inszenieren. Gelegentlich kann ein Musikstar, der bei den Labels des Konzerns unter Vertrag ist, für eine Theaterproduktion ausgeliehen werden. Weitere Kooperationsmöglichkeiten: Theaterstücke nach Computerspielen von Vivendi Universal, die dadurch künstlerisch aufgewertet werden, während die Theater neue Zielgruppen ansprechen. Der Imagetransfer nützt allen.

Vivendi übernimmt außerdem die Weitervermarktung der Rechte aller deutscher Theaterinszenierungen und benutzt die deutsche Schauspielerschaft als Talentpool für eigene Filmproduktionen; das Kreativgeschäft auf dem deutschen Markt wird hier ideal gebündelt.
Das Metropolen-Magazin sorgt für die Vermarktung der Theaterevents, auch im redaktionellen Teil. Die Theater versorgen das Blatt vor den Premieren mit spannenden Geschichten, die Leser erhalten die Informationen aus erster Hand, und zwar positive, fröhlich stimmende, den Kartenverkauf fördernde Informationen. Die Gleichschaltung von Presse und Pressestelle spart Kosten und dient den eigentlichen Interessen des Publikums viel besser als der teure Umweg über die miesepetrigen Kritiker.

Nestle beliefert Kantinen und Foyers mit Wellnessdrinks und sorgt auch dafür, dass zum Beispiel in modern gestalteten Tschechow-Inszenierungen auf der Bühne deutlich sichtbar Nestle-Produkte verzehrt werden.

Die an den Subventionstheatern üblichen hohen Gehälter werden weiterbezahlt , allerdings wird dafür von den Künstlern auch mehr erwartet, zum Beispiel der Einsatz als Schauspieler in der Werbung für die Unternehmen des Konsortiums ohne Extrahonorar oder als Regisseur und Dramaturg bei der Umsetzung von Fernseh- und Kinospots auf die Bühne und ihrer nahtlosen Einarbeitung in Interpretationen der klassischen Dramenliteratur. Eine Aufgabe von großem kreativen Reiz. Viele Hände waschen viele andere.

Public Relations:
Allen ist gedient, wenn alle dem Konsortium dienen. Eigentlich liegt dem Konsortium ausschließlich das Gemeinwohl am Herzen, für dessen Pflege es sich aufopfert und den öffentlichen Kassen eine große Last abnimmt. Vor allem muss deutlich werden: Die Wohltätigkeit des Konsortiums richtet sich auf die Freiheit und Unabhängigkeit der Kunst, zu deren Schutz es antritt und deren Sicherung es den Städten und Gemeinden aus den zu schwachen Händen nimmt.

In den Zeiten der Globalisierung ist das Konsortium die sorgende Weltmutter.

Sie kann auch streng sein. Es darf erwartet werden, dass die abhängig Beschäftigten sich wie Abhängige verhalten und den Konzerninteressen subtil zu dienen verstehen, also nicht gerade Agit-Prop-Stücke gegen die Globalisierung auf den Spielplan setzten. Man muss sich schließlich benehmen können.

Der Optimismus, der in der freien Wirtschaft herrscht, ihr Tatendrang werden hell auf die künstlerische Arbeit ausstrahlen. Alles wird viel kraftvoller wirken. Markt ist Glück, Glück gibt Kraft, Arbeit macht frei. Die neue Konsortialkunst ist vorwärtsgewandt. Düstere, also geschäftsschädigende Untergangsvisionen erledigen sich daher von selbst.

Absehbare Schwierigkeiten:
Die Probleme solcher Übernahmen und Merger sind bekannt. Die Zusammenstoß unterschiedlicher Unternehmenskulturen erzeugt Reibungsverluste. Die Strukturen werden schlanker, passen aber nicht mehr zusammen. Zu den erhofften Synergieeffekten kommt es nicht. Trotzdem bringen Übernahmen immer mehr Glanz in immer weniger Hütten. Sie sind modern, man fühlt sich wohl dabei. Bei sinkenden Renditen muss die Wertschöfpungskette so eng wie möglich geknüpft, das Netz so weit wie möglich ausgeworfen werden, das ist logisch. Die Notwendigkeit dazu lässt sich in Konferenzen mit rationalen Argumenten vermitteln.

Der Prozess erfordert ständige Überwachung: Finetuning. Das Gesamtkonzept ist eine Idee der Controller, die im neu geschaffenen Gebilde ihre Stellung am besten ausbauen und alle von sich abhängig machen können. Nur sie verstehen die wuchernden Konzernstrukturen bis in ihre letzten Verästelungen und können sie so manipulieren, dass ihre Position sicher bleibt und ihre Macht wächst. Die anderen - Manager wie freie Mitarbeiter - werden zu Marionetten einer Bürokratie, die sich der sowjetischen Planwirtschaft unter Breschnew anverwandelt. Die Globalisierung stärkt vor allem die Verwaltung.

Für D. spricht viel dafür, dass die Übernahme ohne viel Aufhebens, ohne Verträge (also unter Umgehung des Anwaltsstandes) in den Köpfen bereits stattgefunden hat. Innerlich berichten junge Theaterkünstler bereits an völlig andere Vorgesetzte als einst Kortner.

Abstieg im Theaterkünstlermilieu heute:
Geschäftlich wird kein verbindlicher Umgang mehr gepflegt. Vereinbarungen werden beinahe demonstrativ gebrochen. Die Brutalität ist oft erstaunlich. Man setzt darauf, dass die schwächere Partei sich schon keinen guten Anwalt leisten können wird. Das Recht des Stärkeren ist stärker geworden. Freiheit bedeutet vor allem die Freiheit zum sozialen Abstieg.

Natürlich war der Kulturbetrieb noch nie demokratisch organisiert. Immer herrschten feudalistische Strukturen, Vetternwirtschaft, sexuelle Ausbeutung Abhängiger. Deshalb macht man es schließlich. Jetzt fällt es auf. Die Abhängigen sind mehr geworden. Sie sind abhängiger geworden, also ausbeutbarer. Sie abhängig zu halten liegt im Interesse aller, die noch feste Stellungen haben. Verbindlichkeit ist für sie nur von Nachteil. Wichtig ist, dass die abhängigen Freien ihre Abhängigkeit weiterhin als Unabhängigkeit erleben. Armut macht schließlich irgendwie auch frei.

In der Kulturbürokratie versteht man sich am besten darauf, die eigenen Stellen zu sichern; so schlau ist man schon. Dort bleiben möglichst viele Fördermittel hängen. Am sichersten würden sich Kulturförderer und Kulturfördermittelverwalter in einem System ganz ohne Künstler fühlen.

Kollektiv der Globalisierung:
Nach dem Sieg über den Kommunismus entdeckt der Kapitalismus Vermassung, Bevormundung, Überwachung, Zwangsmaßnahmen. Die technischen Voraussetzungen sind gegeben. Auch die Abschaffung des Bürgertums gehört zu den Voraussetzungen. Ein stolzer Bürger hätte es sich verbeten, dass ein Produkt, dass er bezahlt und in die gesetzlich geschützte Privatsphäre seiner Wohnung getragen hat, von dort aus ohne sein Wissen an Unbekannte über ihn berichtet und seine Kontrolle über das gekaufte Produkt einschränkt. Ein starkes, stolzes Bürgertum hätte Prozesse gegen solche Missstände angestrengt und gewonnen.

Ein Pferd zum Beispiel, das sich vom Käufer nur unter bestimmten Umständen reiten lassen mag und dem Pferdehändler erzählt, wohin der Käufer reitet, hätte man dem Pferdehändler zurückgebracht und sein Geld eingeklagt. Ein Kohlhaas hätte die Stallungen des Pferdehändlers niedergebrannt und dessen Knechte erschlagen. Aber nichts.

Kohlhaas war selbst Pferdehändler. D.'s Großvater war Pferdezüchter.
Mit dem Computer entgleitet dem Bürger die Kontrolle über seinen Besitz. Ein Präzendenzfall: Es ist gelungen, eine Technologie zu entwickeln, die dem Kunden den Kontrollverlust schmackhaft macht.
Das deutsche Stadttheater war eine obrigkeitlich geförderte Institution zur Feier des bürgerlichen Individuums. Dieses Individuum war staatstragend. Heute trägt es die Wirtschaft nicht mehr. Es ist der Industrie nicht mehr Kunde genug. Das Stadttheater kann dessen Abschaffung nicht überleben. Nur seine Mauern stehen noch.

Keine Satire, sondern Wirklichkeit:
Die Firma Philips hat eine Multimediaplattform entwickelt, die beim Fernsehen das Umschalten in Werbepausen nicht zulässt. Das Gerät schreibt dem Zuschauer vor, was er sieht. Es fehlt der Fernsehsessel, der dem Zuschauer in Werbepausen verbietet, aufzustehen, zum Beispiel mit Hilfe einfacher Metallklammern oder Gurte.

Nutzungsrechte:
In der Unterhaltungsindustrie hat man in den vergangenen Jahren vor allem versucht, die Rendite durch die Einschränkung von Nutzungsrechten zu erhöhen, notfalls mit polizeilichen oder geheimdienstlichen Methoden (Geheimsoftware). Überwachen und Strafen. Die Industrie will darüber entscheiden, wie oft der User ein von ihr erworbenes Musikstück hört. Danach zerstört es sich von selbst und muss neu gekauft werden.

Lässt sich das Geschäftsmodell nicht auch auf die Theater übertragen, fragt in der Konferenz der Controller des Konsortiums, ein Herr G.?

Lässt sich eine Technik implementieren, die vom Konto eines Theatergängers, der eine Woche nach dem Theaterbesuch noch an die Aufführung denkt oder über sie spricht, den Kartenpreis automatisch erneut vom Konto abbucht?

Kann hier ein RFID-Chip in der Theaterkarte helfen? Ein den Theaterbesuchern unter die Haut implantierter Chip, der Gedanken ließt und Hirnströme misst?

Allgemeines Interesse. Eine Arbeitsgruppe wird gebildet.



2. HeimatIm Frühsommer besucht der D. seine Heimatstadt:
In der Zeitung hat er gelesen, dass die deutsche Provinz verödet. So sieht er es nun: Seltsam herausgeputzt, aber leer liegt die stetig schrumpfende Großstadt vor ihm, unter einem mitleidlosen blauen Himmel, ausgedörrt, und das in einer sonst eher regnerisch-windigen Gegend. Die Wüstenwinde der globalen Erwärmung sind über die Backsteinhäuser hinweggegangen und pfeifen durch die Gassen.

In Gruppen ziehen die Minderleister durch die verkarstete Innenstadt, mit einem Hass, dass man fürchten muss, schon eine in die Fresse zu bekommen, wenn man ihnen nur in die Augen sieht. Stolz, aber auch furchtsam sitzen die Besserverdienenden in ihren zwei, drei Enklaven vor teurem und auch gutem Wein, unter immer dickerer und strahlenderer Schminke, und begreifen nicht, dass sie auch dann zu den Verlierern dieser Entwicklung gehören werden, wenn ihr Kontostand steigt. An diese außergewöhnliche, gewalttätige Stumpfheit dem Leben gegenüber, diese Sturheit bis zur Lebensuntüchtigkeit, diese Herzensblödigkeit kann der Autor sich aus seiner Kindheit noch gut erinnern, sie muss lange gewachsen sein, bis sie nun zu ihrer idealen Ausprägung findet. Hier konstituiert sich ein neuer, protestantischer Barock: Rund um die Erscheinungen nackter Armut und offener Zerrüttung zieht sich aller Glanz im Emblematischen und Zeremoniellen zusammen. Aber er tut es vor lauter Angst und das Zeremoniell ist frei von Überschwang und Lebenslust, ausgezehrt, nicht prall. Hier herrscht ein Glanz ohne Himmelreich, ohne Erlösung, und die Reichen bechern einfach den besseren Bölkstoff, innerlich nicht weniger leer als die Armen, die sich im Grüngürtel an die Bierdosen klammern.

Das Schauspiel der Stadt steht natürlich zur Disposition.

Bei gutem Wein kommt der D. auf politische Gedanken:
Ohne Unterlass flimmern auch in der Backsteinstadt Christiansen, Miegel, Rürup in die Stuben der Armen und die Stuben der Reichen, danach Miegel, Rürup, Christiansen. Bilder der großen Welt in den engen, herzensblöden Gassen. Der Geheimrat Unternehmensberater flüstert dem Minister Leitsätze ein, die dieser im Konzil der Talkshow öffentlich verkündet und so auf wirkungsvollere Weise Gesetz werden lässt, als sie es auf demokratischem Wege je könnten. Der offen zur Schau gestellte Feudalismus scheint die Bahnen der Demokratie nicht zu stören. Er wird ganz öffentlich zelebriert. Das Fernsehvolk hat einen so seltsamen Genuss am Zynismus dieses Spektakels entwickelt, dass das Gemeinwohl für die Entscheidungsträger keine Rolle mehr spielen muss. Die Verachtung für Bürokratie und Verwaltung, die man dem Fernsehvolk anerzogen hat, verkleidet die Verachtung für Demokratie und Politik, für Volkes Willen.

In der Republik von Rürup und Miegel muss die Pleite als Modernisierungsvorwand herhalten. Seit Jahren hecheln die Eliten der Nation ihr im verschärften Ausnahme- und Erregungszustand hinterher und dienen dem Popanz so servil wie einst dem Kaiser. Wenn sie nicht gerade dienen, bringen sie ihre Schäfchen ins Trockene. Manchmal kann man das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden. Für alle Schäfer reichen die Stallplätze nicht. Nur wer sich die Hände schmutzig macht, steht nachher nicht im Regen. Die Pleite ist Anreiz. Sie ist der gute Herrscher, nach dem Deutschland sich schon so lange sehnt und der uns nun leider zwingt, all das Schreckliche zu tun, was seine Protektion als unvermeidlich hinzustellen uns erlaubt.

Im Ausnahmezustand können unauffällig alte Rechnung beglichen werden. Klassenkampf geht wieder; ihn beim Namen zu nennen ist aber streng verboten, weil wir übereingekommen sind, dass unser aller Überleben vom Sieg der da oben abhängt. Weil sie nämlich eigentlich unsere Gönner sind, die selbst unter dem Joch der Globalisierung schaurig sich krümmen und nichts mehr sehen als den Boden vor ihren Füßen. Wir springen der Großindustrie bei, als würden wir einem zitternden alten Weiblein über die Straße helfen. Während das Weiblein uns die Taschen leert, kommen wir uns dabei wenigstens wie gute Menschen vor.


3. Abstieg, privat: Das Beispiel D.
Nach 15 Jahren als Theaterkritiker findet der D. niemanden mehr, der seine Arbeit angemessen bezahlt. Er verliert seinen Lebensunterhalt.
D. hat gelernt: Man muss selber Nase fassen. Selbstmitleid ist nicht schön. Auch wenn sich der persönliche Abstieg als politischer Vorgang beschreiben lässt, trägt man die Verantwortung dafür privat und bürdet den eigenen Abstieg nicht auch noch der Gesellschaft auf. Hätte man eben damals auf den Vater gehört und etwas Anständiges gelernt. Der Vater war nach dem Krieg sicherheitsbewusst und hat die Beamtenlaufbahn eingeschlagen.

Der D. hat sich an die neue Zeit nicht anpassen können; so ging die Zeit über ihn hinweg. Das ist nur gerecht. In entscheidenden Momenten weigert er sich, an seinen Vorteil zu denken und versteift sich auf veraltete Prinzipien. Sein Starrsinn hat ihn zu Fall gebracht. Er ist kein Opfer.

Gleichzeitig stimmt aber auch, dass, vom D. zu lange unbemerkt, wirkliche Menschen daran gearbeitet haben, konkrete Strukturen zu ihrem Vorteil zu verändern. Zeitungsverlage suchen heute für ihre Redaktionen keine widerspenstigen Individualisten mehr, sondern treue Konzernsoldaten, die sich kontrollieren lassen. Nicht das Ziel, aber die Folge dieses Strukturwandels war die Entmachtung des D. Es nützt den Betreibern dieses Strukturwandels, wenn die durch ihn Benachteiligten sich an ihrem Abstieg selbst die Schuld geben, weil politische Vorgänge dann nicht als solche erkennbar werden, was sie kritisierbar machen und den Vorteil der Modernisierer schmälern könnte.

Obwohl der D. sich weigert, sich als Opfer zu erleben, gibt es Täter.

Herkunft und Entwicklung des D.:
Er stammt aus einem noch nicht gefestigten Nachkriegsmittelstand: Beamte, Angestellte, Hausfrauen. Häuser mit Garten in der Vorstadt, Kriegstraumata, Buchklub. Ein von den Nazis gelernter Antikapitalismus wird ins Sozialdemokratische gewendet: Stiftung Warentest.

Jugend in Helmut Schmidts "Modell Deutschland". Der Wohlstand scheint gesichert, D. fühlt sich frei, in Kultur zu machen. Er glaubt, ihm könne nichts passieren. Der Staat schuldet dem D. ein Glück, um das Unglück der Eltern wieder wettzumachen. Überhaupt ist die allgemeine Glückserwartung ungeheuer.

Sein Bild vom Künstler und Kulturschaffenden bildet sich in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren. Romantischer Geniekult und spätes Rebellentum treffen auf ein verschwitztes Selbstverwirklichungsmilieu. In einem überhitzten, kathartischen Vorgang sprengt der Einzelkünstler die Fesseln der strukturellen Gewalt der Gesellschaft. In der Selbstfindung des Künstlers kommen auch die Zuschauer identifikatorisch zu sich und überwinden ihre Entfremdung im Urschrei. Unbedingte Feindschaft zur bestehenden bürgerlichen Welt ist Voraussetzung, aber eigentlich dient der Vorgang der Errettung aller und festigt die bürgerlichen Strukturen. Diesem Modell eifert er nach.

Er gelangt in die Außenbezirke höchster gesellschaftlicher Kreise (Gräfin Dönhoff, Ute Lemper) und macht dort eine schlechte Figur. Er weigert sich, seine Position abzusichern und präsentiert sich als der Schwierige. Ihm wird Verantwortung übertragen, aber mehrfach muss sein Mentor mit seiner eigenen Kündigung drohen, um ihm die Stellung zu retten. D. hält das für selbstverständlich.

Er verlangt Anerkennung für seine Schroffheit und den ungeheuren Mut, den sie ihm, wie er findet, abverlangt. Auf Redaktionskonferenzen ist er verloren. Zum Ausgleich klingelt er im Hotel Sacher nach dem Hausdiener und lässt sich die Krawatte bügeln. Er sammelt das Briefpapier deutscher Luxushotels. Meistens fühlt er sich ungerecht behandelt. Er hält sich für einen der besten Theaterkritiker Deutschlands.

Andere Umstände:
Der D. wird älter und wer ihn früher fördern wollte, fühlt sich nun als Konkurrent von ihm bedroht. Auch seine äußere Erscheinung wandelt sich. Seine Schroffheit ist nicht mehr apart, sondern unangenehm. Er hat sich schon früh Feinde gemacht, jetzt werden es rasch mehr.
Sein Verhalten ändert er nicht. Er gibt nicht nach, lässt sich nicht erweichen, er gibt überhaupt nichts, nur seine Texte. Das soll genügen, denn wenn sie nicht genügen, was sind sie dann wert?
Gleichzeitig kommt das ganze Geniewesen außer Mode, der hysterisch übersteigerte Individualismus, dem er anhängt. Stattdessen: Vermassung, Bevormundung, Überwachung, Zwangsmaßnahmen. Die Globalisierung erzeugt eine labile Monokultur aus Angestellten, die ständiger Beruhigung bedarf. Dazu eignet er sich schlecht.

Bei Vollmond packt den D. der Hass:
Die Verachtung von Menschen in Kreativ- und Pseudokreativberufen findet der D. oft berechtigt. Mit dem Konkurrenzdruck wächst die Lust, es auszusprechen. Hätte man vor 20 Jahren die Zahl all jener zusammengerechnet, die auszogen, ihren Lebensunterhalt allein mit der Neugestaltung des Bestehenden zu verdienen, mit Design, also Tapetenwechsel, mit zur Kulturleistung überhöhter Illustration, unterlegt mit einem ekstatischen Gefühl des sich Einbringens und Verwirklichens, ohne die geringste Absicht, das Produktivvermögen des Gemeinwesens zu mehren, während man es gleichzeitig mindert, indem man sich vom Staat finanzieren lässt ("Abzocke"), wie wären einem da die Zehennägel in die Decke gefahren. Recht haben die Restbürgerlichen, sich empört vor der Schrottlawine zu ducken, die ihnen aus den Projektwerkstätten dieser Pseudokreativen mit ihren abstrusen Gehaltsvorstellungen entgegendonnert. Früher haben junge Frauen gestrickt und geklöppelt, bis sie geheiratet wurden, heute basteln empfindsame Metrosexuelle am Häkelwerk schicker Projekte und passen sie geschickt in ein Diskursgeflecht ein, das Fördergremien gefällt.

Das Programm der einschlägigen Spielstätten für modische Bühnenkunst würde er als Ganzes rezensieren wie den IKEA-Katalog, eher lebensweltlich, erweiterter Kulturbegriff: als aktuelle Hinterlassenschaft eines Kulturbiotops mit einem interessant eingeschränkten Reiz-Reaktionsschema. Weigerung, die Talkshow als Feind anzuerkennen, stattdessen Anbiederung durch Erweiterung ihres Diskursmachtbereichs auf das Bühnengeschehen. Unterwerfung. Themenabende. Das ideale Konzept: Theaterkombinat "Urban Hubris/Menopause" verhindert in den Berliner Sophiensälen auf offener Bühne türkische Zwangsehe durch sprachliche Dekonstruktion und intensive körperliche Entrückung. Starke Bilder. Erotik pur. Die Kasse klingelt. Die Blumenranke in neuer Gestalt: Zeitungsschlagzeilen, zum Ornament geflochten und als Kunst verkauft.

Der D. beschreibt die Veränderungen im deutschen Theater:
Eine neue Generation von Regisseuren scheint vor allem den Druck zu verspüren, alles ganz nah an die eigene Welt heranzuziehen. Hamlet im Straßenanzug soll nicht mehr irritieren, sondern beruhigen. Man macht ihn mit sich gemein. Hedda Gabler in der Adidas-Jacke ist wie wir, die Künstler, und wir Künstler sind wie ihr, unsere Generation, deren Musik wir zum Beweis und um Kommunion zu feiern spielen. Wir alle gehören zusammen und wir sind gut und werden auch Ibsen so lange behandeln, bis nichts Fremdes mehr an ihm ist und er ganz und gar zu uns gehört und nach der Musik aus unseren i-Pods tanzt.

Konformitätsdruck wird als Glück erlebt und auf Theaterdichter aus vergangenen Jahrhunderten ausgedehnt. Das Fremde muss ausgetrieben werden.

Als Kritiker verstehe ich nicht mehr, was ich sehe, will es auch nicht. Viele meiner Kollegen, auch die älteren, loben, was geboten wird, nur weil es existiert, also offenbar angesagt ist. Sie wollen mit der Mode gehen und vom Kommenden mitgenommen werden, anstatt es in seinen neuen Grenzen zu beschreiben. Ich habe den letzten Respekt vor meinem Berufsstand verloren, der die Eingliederung der Kultur in den kulturell-industriellen Komplex nicht wahrnehmen will und den eigenen Vorteil in der Wirklichkeitsverweigerung vermutet.

Der Abstieg überrascht den D.:
Er hat noch nicht lange genug oben ausgeharrt, um sich jetzt in der Krise dort halten zu können. Oben ist ihm nicht ausreichend selbstverständlich. Plötzlich ist Herkunft wieder wichtig. Auffällig viele Adlige nehmen Führungspositionen ein. Fernsehadel besetzt den Rest. Im Spiegel liest D., dass Schmidt an der deutschen Misere Schuld sei und es eigentlich schon damals hätte wissen müssen. D. versteht das so: Der Spiegel findet, es wäre für Deutschland besser gewesen, er, D., wäre gar nicht so weit aufgestiegen.

Ausblick des D., politisch und ästhetisch:
Die geradezu tragische Unfähigkeit zum politischen Denken verbittert den D. - die Unfähigkeit also, das Handeln der anderen als auf ihren eigenen Vorteil gerichtet zu erkennen. So könnte man zum Beispiel merken, dass sich die bekümmerten Rürup und Miegel nicht um das Gemeinwesen sorgen, sondern mit Hilfe ihrer Vorschläge zielgerichtet den Einfluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppen stärken wollen, um sich dann unter deren Schutz begeben zu können. Für Menschen ohne Pferd kommt es darauf an, zu wessen Steigbügelhalter man sich macht.

Das Theater findet der D. weniger schlau als Rürup und Miegel. Es ist schutzlos, unter anderem aus Dummheit. Wo liegt sein Vorteil und wer definiert ihn? Und wie ließe sich aus der Schutzlosigkeit ästhetisches Kapital schlagen? Erst wenn das Geld, das die Gesellschaft noch für die Theater ausgeben mag, auf sehr viel weniger Künstler verteilt wird als heute, hätten die Restkünstler Muße genug, diese Fragen zu beantworten. Bis dahin werden auf deutschen Bühnen die Krämpfe der Umverteilung abgebildet, der wirtschaftliche Druck, unter dem man auszuharren beschlossen hat: Gesten der Anbiederung in Inhalt und Form, halb starrsinnig rückwärts gewandt, halb um eine idealisierte Zukunft werbend. Suche nach einem neuen Herrn.

Ausblick des D., privat:
D.?s Vater bleibt der historische Sieger. Beträge, wie man sie ihm im hohen Alter monatlich als Beamtenpension anweist, wird der D. als Freiberufler in den besten Mannesjahren kaum wieder verdienen. Dafür musste der Vater durch den Krieg. Es gibt Gerechtigkeit.
Für den D. sind Umschulungsmaßnahmen notwendig geworden. Sie waren durchaus erfolgreich. Er hat seinen Lebensstandard im ersten Halbjahr 2006 halten können. Nach öffentlichem Einfluss strebt er nicht mehr. Die Zukunft bleibt ungewiss.

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Dieser wurde aus dem neuen Jahrbuch der Zeitschrift Theater heute übernommen.

Robin Detje arbeitet heute als literarischer Übersetzer. Dieser Tage erscheint in seiner Übersetzung im Berlin Verlag Kiran Desais Roman "Die Erbin des verlorenen Landes".