Essay

Sehr geehrter Herr Müller

Von Jochen Hörisch
06.04.2008. Offener Brief an Burkhard Müller zur Kritik meines Buches "Das Wissen der Literatur".
Ist es unfein, wenn ein Autor auf die Rezension eines Buches antwortet? Unter deutschen Journalisten wird es häufig so gesehen. Man darf zwar in aller Schärfe kritisieren, aber die Reaktionen der Kritisierten haben so gut wie keinen Filter, durch den sie an die Öffentlichkeit gelangen könnten - auf den Leserbriefseiten gibt's weder Platz noch Freiheit. Und so bleibt den Rezensierten allenfalls ein erboster Brief an den Rezensenten oder auch an dessen Feuilletonchef, der sich zu ein paar tröstenden Worten herbeifinden mag, sofern der Rezensierte in der Öffentlichkeit einen Status hat. Die Kritik aber bleibt zumeist unwidersprochen stehen.

Nun mussten die ans Urteilen, aber nicht ans Beurteiltwerden gewöhnten Kulturjournalisten vor kurzem die Entdeckung machen, dass sie nicht mehr das letzte Wort haben. Durchs Internet ist die Öffentlichkeit rückkanalfähig geworden. Der Widerspruch muss sich nicht mehr durch den Filter der Medien selbst zwängen, um sich zu manifestieren.

Seit einigen Tagen kursiert in den erlauchten Sphären des Kulturjournalismus eine offene Mail des Literaturwissenschaftlers Jochen Hörisch, die auf eine Kritik seines Aufsatzbandes "Das Wissen der Literatur" durch den Autor und Publizisten Burkhard Müller antwortet. Im CC der Mail stehen sämtliche Meinungsführer der kulturellen Öffentlichkeit. Es war eine sehr scharfe Kritik, und es ist eine extrem scharfe Antwort. Hörisch stellt sie ausdrücklich zur Veröffentlichung frei, und wir nehmen ihn beim Wort. Weitere Antworten sind willkommen.

Burkhard Müllers Kritik ist beim Internetbuchhändler buecher.de nachzulesen.

D.Red.


Betr.: OFFENER BRIEF AN BURKHARD MÜLLER (Rezension meines Buches "Das Wissen der Literatur" in der SZ vom 7.3.08)

Sehr geehrter Herr Müller,

auf Ihre Rezension meines im Wilhelm Fink Verlag erschienenen Buches "Das Wissen der Literatur" in der SZ vom 7.März 2008 (ihr gingen sehr positive Besprechungen in der FR vom 10. Oktober 2007 und in der FAZ vom 20. November 2007 voraus) reagiere ich erst jetzt mit diesem offenen Brief, weil ich Ihnen zuvor Gelegenheit gegeben habe, sich für die groben Sachfehler und den pöbelhaften Ton Ihrer Besprechung bei mir zu entschuldigen und dann die für Sie hochpeinliche Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Sie haben von diesem Angebot keinen Gebrauch gemacht.

Zu den schwer zu fassenden sachlichen Fehlern in Ihrer Besprechung (ich füge Ihren Text als attach bei): Sie reagieren "mit einem tiefen Seufzer" auf meine angeblich falsche Verwendung des Begriffs 'Paradoxie'. Ist Ihnen, der Sie doch Altphilologe sind, der Wortsinn dieses Begriffs nicht geläufig? 'Paradoxie' kommt von griech. 'doxa' / Meinung. 'Paradox' ist die kontraintuitive Meinung, wörtlich die Gegen-Meinung, für die ich eine Reihe konsistenter Beispiele anführe. Sie polemisieren gegen meine Wendung, der "alteuropäische Lettern-Handel basiere auf plus/minus 25 Buchstaben" mit dem seltsamen Ausruf: "Eher plus! möchte man dazwischenrufen, in dem Urvertrauen, das man der Form des Buches als solchem entgegenbringt." Ist Ihnen, der Sie doch Lateindozent an der TU Chemnitz sind, wirklich nicht geläufig, dass das lateinische Alphabet 24, das deutsche 26 Buchstaben aufweist? Sie kritisieren sodann ohne einen einzigen Beleg "die vielen Fehler in Hörischs zahlreichen lateinischen Zitaten und Floskeln; keine Druckfehler sind es, sondern solche, die ihm, wenn er dieser Sprache auch nur halb so nahe stünde wie er anzudeuten beliebt, nicht unterlaufen wären." Ich habe mein Buch ganz erschrocken durchgesehen und dabei nichts grob Fehlerhaftes gefunden, wohl aber bin ich auf meine bescheidene Formulierung gestossen "nach den unmaßgeblichen altphilologischen Kompetenzen des neuphilologischen Verfassers" (S. 25 meines Buches). Als "Falschmeldung" brandmarken Sie, dass ich schreibe, "Gesetze wie das BGB oder das Strafgesetz regeln bekanntlich, was rechtlich zulässig ist und was nicht." Muss ich Ihnen nun wirklich darlegen, dass die Unterscheidung Recht / Unrecht die Leitdifferenz der Jurisprudenz insgesamt, des Straf- wie des Zivilrechts etc. ist? Unfassbar ist auch, dass Sie die Äußerung der Frau des Protagonisten Heinrich aus Raabes wunderbarem Roman
'Stopfkuchen' "er erzählt greulich", die ich auf den Vers aus Goethes 'Faust' beziehe ("Heinrich, mir graut vor Dir"), als unhaltbare Assoziation denunzieren - dabei ist, wie ich S. 98 ff. ausführlich und für jeden aufmerksamen und mit dem 'Faust' vertrauten Leser zustimmungspflichtig darlege, Raabes Prosa voller eindeutiger Allusionen auf Goethes Drama, das Ihnen doch auch in etwa vertraut sein dürfte.

Bevor Sie gänzlich persönlich werden (ich denke an Ihre Äußerungen über meine Präsenz bei gemeinsamen Podiumsdiskussionen), ja bevor Sie pöbelhaft werden, schreiben Sie im Hinblick auf meine "Fehler" und "Falschmeldungen": "es langt". Ja, es langt: Ich halte fest, dass all Ihre Grobheiten sachlich schlechthin falsch sind und von schwer zu fassender Unkenntnis etwa über die Zahl der Buchstaben im lateinischen und deutschen Alphabet oder über Goethes 'Faust' zeugen. Und ich verwahre mich in aller Form gegen den pöbelhaften Ton Ihrer Rezension. Schreiben Sie doch tatsächlich: "man erwartet als nächstes zu finden, dass der rechte Winkel bekanntlich hundert Grad und der Mensch an jeder Hand bekanntlich sechs Finger habe." Folgt der Hinweis: "Was Jochen Hörisch not täte, ist ein ernster Freund." Sehr geehrter Herr Müller: so geht das nicht. Dergleichen wirft ein sehr ungünstiges Licht auf Ihren Stil, Ihr Milieu, Ihre Erziehung. Ich widerstehe der Versuchung, mich auf Ihr Niveau einzulassen und Ihnen eine Freundin, eine Frau oder einen Therapeuten zu empfehlen, die Ihre Ausfälle zu zügeln verstehen. Für sachlich geboten halte ich aber den Hinweis, dass einem Rezensenten, der einen solch peinlich fehlerhaften und pöbelhaften Text abliefert, ein kompetenter, stilsicherer und urteilsfähiger Redakteur not täte, der ihn davor bewahrt, sich öffentlich so zu diskreditieren und zu disqualifizieren, wie Sie es mit Ihrer Rezension getan haben. Ihre Rezension ist eine weitere Schande für das Feuilleton der SZ, das, wie ich ausdrücklich erwähnen will, auch über hervorragende Mitarbeiter verfügt. Ich schreibe "weitere" Schande, weil die Rezension meines bei Suhrkamp erschienenen Essays "Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen" durch Alexander Kissler in der SZ vom 17. Februar 2004 unvergessen ist. Kissler, der sich selbst als "leidenschaftlichen Christen" charakterisiert, schrieb damals, ich empfände "infantile Lust", "spreizte" mich in "Fäkalien" und "verschwiege trickreich" Adornos Sehnsucht, "die Kindheit verwandelnd einzuholen" - wo es in meinem Essay doch u.a. heißt: "Adornos sehnlichster Wunsch war es zeitlebens, nicht erwachsen zu werden", "Adorno ist der Mutter- und Musensohn unter den Philosophen des 20. Jahrhunderts", "kindlichen Fragen und Antworten hat Adorno ? immer die 'Treue gehalten'." Der damals zuständige SZ-Redakteur Ulrich Raulff hat die Veröffentlichung von Kisslers Pöbelei in einem Schreiben an mich bedauert.

Mir liegt daran, mit diesem offenen Brief dazu beizutragen, dass das Feuilleton der SZ nicht mehr und mehr zum Forum für Pöbeleien überforderter Rezensenten wird. Ich erwarte von Ihnen, sehr geehrter Herr Müller, eine öffentliche Entschuldigung für Ihre peinlichen Fehler und Ihre Unverschämtheiten. Sollten Sie die Entschuldigungsbedürftigkeit Ihrer Äußerungen nicht empfinden, so werde nicht nur ich allein auch das mit Interesse zur Kenntnis nehmen. Ich bin gespannt, was nach Pöbeleien wie "Hörisch empfindet infantile Lust, spreizt sich in Fäkalien, glaubt, dass der rechte Winkel 100 Grad und die Hand sechs Finger hat, braucht einen ernsten Freund, es langt" etc. demnächst in der SZ über mich zu lesen steht. In der Hoffnung, Ihnen mit diesen Zeilen gedient zu haben, und besten Empfehlungen

Jochen Hörisch

PS: Alle Leser dieses offenen Briefes können ihn gerne weiterleiten. Der Text steht auch zur Veröffentlichung frei.