Essay

Über das Kriegsende, das keines war

Von Arno Widmann
04.05.2005. Am 8. Mai haben die Deutschen den Frieden gewonnen. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen erst Monate später. In Osteuropa gingen die Deportationen weiter. Unser Gedächtnis vom Krieg muss europäisch werden.
Der 8. Mai des Jahres 2005 ist Internationaler Museumstag. Das ist er nicht, weil sich der der Unesco angegliederte Internationale Museumsrat - den 8. Mai 1945 im Kopf - dachte: nach den Waffen singen die Musen. Er ist es, weil er sich nichts dachte.

Er brauchte sich auch nichts denken. Am 8. Mai 1945 war der Krieg nämlich keineswegs zu Ende und museumsreif. Es ist unser eurozentrisches Gedächtnis, das den 8. Mai als Ende des Krieges feiert. In Asien wurde weiter gekämpft. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen erst Monate später. Für viele - nicht nur unter den Verwandten der Opfer - sind sie und nicht Nationalsozialismus und Stalinismus das Jahrhundertereignis.

Der 8. Mai 1945 markiert das Ende des Nationalsozialismus. Nur für Westeuropa war das auch das Ende totalitärer Barbarei. Gerade in den Anfangsjahren der kommunistischen Herrschaft wurden in ganz Osteuropa wieder die Gefängnisse gefüllt, ganze Bevölkerungsgruppen wurden verfolgt und - um es gelinde auszudrücken - von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Zehntausende wurden in die Sowjetunion verschleppt. Wie viele von ihnen starben - darüber gibt es nur Schätzungen. Viele von denen, die von den sowjetischen Machthabern und ihren Helfern zu Tode gebracht wurden, hatten den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung erlebt, ihn womöglich gefeiert.
Der 8. Mai 1945 ist für die baltischen Staaten nicht das Datum ihrer Befreiung, sondern der Beginn ihres Untergangs. Wer heute in Moskau den 8. Mai feiert, der sollte, der muss auch darüber sprechen. Man versteht sehr gut die Motive derer, die nicht gewillt sind, den 8. Mai als Tag der Befreiung zu feiern und es ist der reine Irrwitz, diese Feiern ausgerechnet in Moskau abzuhalten.

Aber vielleicht öffnet gerade das uns - Paradoxa bringen ja oft diesen Effekt hervor - die Augen für die wirkliche Lage und wir lernen, die Dinge endlich so zu sehen wie sie sind. Wir wissen nicht, wann der Zweite Weltkrieg begann. Wir wissen nur, dass Frankreich und Großbritannien Nazi-Deutschland erst dann den Krieg erklärten, als es in Polen einmarschierte. Das tat es zusammen mit der Sowjetunion. Die beiden wollten sich - alten Traditionen folgend - Polen teilen.

Was läge näher, als am 8. Mai 2005 mit Adam Krzeminski daran zu erinnern, dass von den Kriegsteilnehmern in Europa nur Deutschland, Polen, England und die USA während der sechs Jahre des Krieges nicht die Seiten gewechselt haben? Solche Gedanken mögen die Festtagsstimmung ein paar Minuten lang stören, aber diese und noch ein paar andere Zahlen - zum Beispiel, dass die sowjetische Armee während des Krieges viermal durch Polen zog - gehören zum historischen kleinen Einmaleins des zu vereinenden, des sich vereinigenden Europa.

Wer von Zahlen spricht, kommt in den Verdacht, aufrechnen zu wollen. Darum darf es nicht gehen. Es muss möglich sein, erzählen zu können, aufzuschreiben, was war.

Nun, da der kalte Krieg vorüber ist, ist auch der zweite Weltkrieg endgültig Geschichte geworden. Darum können wir den 8. Mai alle miteinander - Sieger, Besiegte und die, die beides oder weder noch waren - in Moskau feiern. Nichts macht klarer, wie unwichtig der 8. Mai geworden ist. Wir werden weiter um ihn streiten. Niederlage oder Befreiung - diese Frage wird uns noch eine Weile beschäftigen. Aber an ihr entscheidet sich nichts mehr. Generationen haben sich an diesem Knochen erbittert die Zähne ausgebissen. Jetzt werden wir ihn den Historikern zuwerfen. Der Zweite Weltkrieg war der Gründungsmythos des vereinigten Westeuropa. Die "Erbfeinde" Deutsche und Franzosen taten sich zusammen. Ruhrgebiet und Lothringen rüsteten nicht mehr gegen, sondern mit einander. Deutschland zu zähmen, war ein starkes Motiv der europäischen Vereinigung. Es wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Der 8. Mai vergeht erst jetzt. Noch Francois Mitterand legte jedes Jahr eine Rose an Petains Grab ab. Erst Jacques Chirac sprach von der Kollaboration und von der Mitschuld der Franzosen an der Judenvernichtung. Man wird die europäische Geschichte nicht schreiben können, solange man den Nationalsozialismus als eine rein deutsche Geschichte betrachtet. Man wird die deutsche Geschichte nicht schreiben können, wenn man nicht berücksichtigt, was es für die Deutschen bedeutete, den Krieg verloren, radikal verloren und doch die Chance erhalten zu haben, den Frieden gewinnen zu können.