Essay

Klangvergessenheit

Über Disziplinen der Schwerhörigkeit und die Freiheitspathologien der Moderne Von Daniele Dell'Agli
27.08.2021. Die Geschichte der Neuen Musik ist eine der Befreiung der Klänge. Was die Befreier aber nicht bedacht haben: Die Freiheit von den Form- und Strukturzwängen der Harmonielehre erweist sich als gleichbedeutend mit der Entsorgung von Affekten, Gedächtnisspuren und Assoziationsbahnen und damit von potenziellen Klangresonanzen jedweder Art. Man hatte gewissermaßen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und anschließend gehofft, für das Unerhörte, das man zu erforschen begann, würde sich irgendwann ein neuer Subjektraum mit neuen Gesten und Gefühlen von selbst einstellen. Claude Debussy beschritt den anderen Weg.
Seitdem Heidegger seine berühmte These von der Seinsvergessenheit der abendländischen Metaphysik lancierte, haben in der deutschen Bildungssprache eine Reihe polemisch aufgeladener Vergessenheits-Komposita Einzug gehalten, am geläufigsten vielleicht die Geschichtsvergessenheit, die, je nach Kontext und Zeitgeist, auch mühelos mit passenden Inhalten korreliert werden kann. "Klangvergessenheit" klingt demgegenüber rätselhaft, schließlich ist das in Vergessenheit geraten sein sollende Spezifikum ein Phänomen, das uns beim Musikhören tagtäglich begleitet und vertraut ist. Doch der selbstverständliche Umgang mit klingenden Artefakten täuscht darüber hinweg, dass der Begriff des Klangs weder umgangssprachlich noch musikästhetisch vor Missverständnissen und falschen Inanspruchnahmen geschützt ist.


I

Alle Menschen machen Erfahrungen mit der sinnlichen Präsenz der Musik, im Gegensatz zu der für die meisten eher okkulten Dimension ihrer grafischen Aggregatszustände, die man Töne nennt. Und hier drängt sich sogleich die grundlegende Paradoxie auf, dass sich über diese okkulte Dimension sehr viel genauer und wortreicher sprechen lässt - also über Harmonik, Rhythmik, Form und Struktur der Tonverhältnisse - als über die uns unmittelbar berührende, aber so schwer zu fassende Erscheinungsform der Klänge. Daraus folgt die nächste Paradoxie, die darin liegt, dass für die professionell mit Musik Befassten die Unmittelbarkeit eines Klangeindrucks, der ja immer zugleich ein Höreindruck ist, keineswegs, wie man erwarten sollte, ein zentrales oder gar das zentrale Forschungsfeld ist. Schon das Kompositum "Klangkomposition", mit dem seit Ligetis "Atmosphères" (1961) in zunehmender Frequenz Werke der zeitgenössischen Musik charakterisiert werden (inzwischen jedes zweite), impliziert, dass es auch andere, nicht klingende beziehungsweise nicht auf ihr Klangwerden angewiesene Kompositionen gibt - etwa im Sinne von Adornos Diktum, dass die beste Aufführung die beim Partiturlesen im Kopf sich abspielende ist. Womit wir bei der ersten Form von Klangvergessenheit wären.

Die in diesem Begriff verdichtete Diagnose ist im übrigen nicht so einzigartig, wie ich zu Beginn meiner Recherchen zu dem Thema gehofft hatte. Der Wiener Musikologe Nikolaus Urbanek hat sie bereits 2013 gestellt, sie allerdings anders akzentuiert. In seinem Aufsatz "Die Spur des Klangs"1 wirft er seiner Zunft vor, sich vornehmlich als "Partiturwissenschaft" verstanden zu haben und in ihren Analysen die Phänomenalität des Klangs in der Musik vor 1900 kaum zur Kenntnis genommen zu haben und wenn, dann nur dort, wo das Koloristische die Instrumentation bestimmt, also bei Berlioz und Wagner, und auch da nur halbherzig - als Ausdruck musikalischen Sinns. Erst die kompositorischen Strategien des 20. Jahrhunderts hätten die Wissenschaftler gezwungen, die Klangkonzepte der jeweiligen Werke ernst zu nehmen. Urbanek plädiert für eine "posthermeneutische Musikästhetik, die den Klang in seinem Eigenrecht, seiner Eigensinnigkeit und Eigensinnlichkeit denkt". Es geht darum, schreibt er "das Bewusstsein für das zu schärfen, was im Klang phänomenal gegeben ist, mithin die Materialität, die Körperlichkeit, die Ereignishaftigkeit", also das, was schon Nietzsche als das "Elementarische" oder "die sinnliche Oberfläche der Musik" an Wagner hervorhebt ("Der Fall Wagner"). Posthermeneutisch wäre eine solche Musikwissenschaft, wenn sie sich nicht darauf beschränkte, den "Sinn" oder die "Bedeutung" einer Komposition anhand der Analyse ihrer Partitur herauszuarbeiten, sondern das "Unreine, Unabgegoltene, Widerständige des Sinnlichen", das sich dem Verstehen entzieht, zur Geltung bringt.

Dieser programmatischen Skizze möchte man spontan zustimmen, auch wenn sie auf den zweiten Blick entscheidende Fragen offen lässt, offen lassen muss, weil deren Beantwortung die Systematik eines musikästhetischen Diskurses sprengen würde. Schon an der vorgeschlagenen neuen Terminologie bemerkt man die anhaltende Verlegenheit, Klänge sprachlich zu fassen zu bekommen: ohne Metaphern geht es nicht, doch die in jüngster Zeit immer häufiger kursierende Rede von der Materialität und/oder Körperlichkeit des Klangs gaukelt eine Evidenz des dinglich Greifbaren vor, die nicht zu ihrem flüchtigen Wesen passen will. Hier sucht die neue Klangwissenschaft ihrem Gegenstand eine Objektivität zu verleihen, ganz analog zu der alten Partiturwissenschaft, die sich an die Texte hielt; und wie diese formuliert sie ihre Erkenntnis akustischer Phänomene entlang visueller beziehungsweise räumlicher Metaphern: ihre Klang-Morphologie oder Klang-Physiognomik untersucht Klangformen, -farben, -flächen, -felder, -figuren, -gesten, -bänder, -massen usw.. Und all diesen Elementen ist neben der optischen Suggestion gemeinsam, dass sie nicht von dem handeln, was beim Hören dieser Klänge passiert. Die neue Klangwissenschaft interessiert sich nicht für Höreindrücke, Hörerlebnisse, Hörerfahrungen, diesen subjektiven Krempel lagert sie - und auch das ist eine Form von Klangvergessenheit - wie schon ihr Vorgängermodell an Sekundärdisziplinen wie Musikpsychologie oder Psychoakustik aus. Aber kann man die Erscheinung des Klangs abspalten von seiner psychophysiologischen Wahrnehmung? Am Ende entscheidet doch nicht das strukturelle oder analytische Hören einiger weniger Experten, sondern das intuitive Hören des wie immer breiten oder schmalen Publikums über Akzeptanz, Resonanz, Bedeutung und damit Fortleben oder Zukunft des jeweils Komponierten.

Und so sympathisch die posthermeneutische Polemik gegen die immanente Sinnfixierung der traditionellen Musikanalyse ist: von der Bedeutung eines Stücks oder auch nur einer Passage oder gar einer Melodie für das Leben zahlloser Menschen; vom ästhetischen, existenziellen, religiösen, psychosozialen et cetera Sinn von Kompositionen in dieser/jener Zeit, dieser/jener Gesellschaft findet sich auch bei ihr keine Spur. Vielleicht, weil sich diese buchstäblich meta-physischen Resonanzen aus den meisten Werken der modernen Musik und spätestens seit der Nachkriegsära ohnehin verflüchtigt haben? Genauer: weil ihre Klanggestalten diese subjektiven Reaktionsformen nicht mehr anbieten, nicht mehr zulassen?

Parallel zur Klangwissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten eine weitere Disziplin etabliert, die prima vista die soeben beklagten Defizite wieder wettzumachen scheint: die Sound Studies. Ihr interdisziplinärer Ansatz widmet sich der Erforschung auditiver Kulturen einschließlich der Modi subjektiver Wahrnehmung von Musik und unter Einbeziehung - endlich - all der fälschlich als "populär" deklassierten Erscheinungsformen von Musik, die nicht oder nur rudimentär oder in Ausnahmefällen als auskomponierte Werke existieren.

Nun hadern auch die Sound Studies, die mit dem Klang die sinnliche Gegenwart von Musik methodisch in all ihren situativen, räumlichen, hybriden, elektroakustischen und so weiter Facetten ins Zentrum ihrer Forschungen rücken, mit dem Problem, dass für eine unendliche Vielfalt empirischer Evidenzen nur ein beschränkter Vorrat an Wörtern zu ihrer Beschreibung zur Verfügung steht. In diesem Fall stand die Sprachverwirrung allerdings schon bei der terminologischen Taufe Pate: Im Englischen bedeutet "sound" je nach Kontext Geräusch oder Klang. Es fängt bei Schall und Laut an, um Ton, Klang und schließlich auch jedes Geräusch zu bezeichnen, das noch nicht als Krach unangenehm oder störend auffällt (noise). Wie man in anglophonen Milieus mit diesen letztlich auch epistemologisch folgenreichen Unschärfen umgeht, entzieht sich meiner Kenntnis, aber dass die Unübersetzbarkeit von sound im deutschen Sprachraum einige Kopfschmerzen bereitet, kann man zum Beispiel dem auch hierzulande genutzten Standardstudienbuch der musikalischen Akustik von Donald Hall entnehmen, wo die Herausgeber zwar versichern, für "sound" je nach Kontext Schall, Klang oder Geräusch eingesetzt zu haben, sich aber um eine Abgrenzung der drei Phänomene drücken, die in dem ganzen 500-seitigen Werk naturgemäß (es ist ja auf Englisch verfasst) auch nicht thematisiert wird. So hat die inflationäre Verwendung des englischen "sound" die Grenzen zwischen musikalisch (kompositorisch, improvisatorisch) induzierten Klängen und kontingenten Umweltgeräuschen weitgehend verwischt und die ästhetische Differenz der Musik gleichsam medienökologisch kassiert. Wo alles Klang ist, ist nichts mehr Klang. Mehr Klangvergessenheit geht nicht.


II

Soweit eine kurze Einführung in das, was man den blinden Fleck, genauer die tauben Rezeptoren musik- und medienwissenschaftlicher Forschung nennen könnte. Sie markieren den aktuellen Stand einer dreifaltigen Geschichte von Klangkompositionen, sie begleitender Klangbefreiungsmanifeste und zeitverzögerter musikologischer Parallelaktionen, die um die vorletzte Jahrhundertwende begann. Damals empfanden nahezu alle Komponisten die Dringlichkeit einer radikalen Erneuerung der Tonsprache - die Notwendigkeit, die als ausgereizt empfundenen Sackgassen der Alterationschromatik des Fin-de-siècle zu verlassen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die semantische Tonika ihrer Selbstverständigungstexte, die sie bis heute begleitet: die Beschwörung einer neuen Freiheit. 1905 ist es Ferruccio Busoni, der in seiner "Ästhetik der Tonkunst" mit einem Paradox debütiert: "Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung."2 Ein seltsamer Satz: wenn die Musik frei geboren wird, wozu muss sie dann frei werden? Man kann sich am ehesten mit Nietzsches - Busonis Lieblingslektüre - berühmter Formel einen Reim machen: Werde, der du bist. Die Musik ist nur als Inbegriff ihrer Möglichkeiten frei gegeben, bedarf daher des Komponisten, um diese zu realisieren.

Das ästhetische Subjekt hat einen "Einfall", wie Busoni sagt, einen "musikalischen Gedanken" und jetzt ist es an ihm, darin das Potenzial eines Stücks zu entfalten. Das Medium dieser akustischen Eingebungen, das demnach weder erfindet noch konstruiert, muss gleichwohl das zunächst nur ihm Zugängliche des Entdeckten oder Gefundenen - des Erlauschten oder Vernommenen - so bearbeiten, so verwandeln, dass alle Welt es hören kann. Seine Freiheit ist also in gewisser Weise durch einen Auftrag beschränkt. Besonders, wenn man, wie Busoni, schon die Notation eines Einfalls als "Transkription" begreift, erst recht dessen Ausarbeitung etwa zu einer Sonate und schließlich auch deren Vortrag: alles Transkriptionen - ersten, zweiten und dritten Grades. Man begreift, warum der Mann so viele Werke von Bach und Liszt transkribiert hat.

Doch auf diesen Aspekt - die Konditionierung der ursprünglichen Freiheit durch ein Potenzial des Einfalls, das zwar unendlich viele, aber keine beliebigen Realisierungen zulässt - geht Busoni nicht ein. Vielmehr verkündet er im Ton einer Offenbarung zwei andere Freiheitsbeschränkungen:

"daß die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert, die Entfaltung des Komponisten an dem Studium der Partituren. Wenn 'Schaffen', wie ich es definiere, ein Formen aus dem Nichts bedeuten soll (und es kann nichts anderes bedeuten); wenn Musik zur 'Originalität', nämlich zu ihrem eignen reinen Wesen zurückstreben soll; wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauchtes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll: diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zunächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festgekettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollenden mitfesseln."

Dazu notiert Schönberg (in den handschriftlichen Randbemerkungen zu seiner Ausgabe von 1917) trocken:

"Busoni überschätzt die Neuheit eines Klanges, der bloß durch die Klangwerkzeuge hervorgerufen wird. Schließlich klingt ein C-Dur-Dreiklang in der heterogensten Mischung noch immer einem von Streichern in der gleichen Zerstreuung gespielten ziemlich ähnlich. Wesentliche Klangunterschiede entstehen weniger durch die Setzweise als durch die Satzweise. Art, Zahl, Charakter und Verhältnis, Rhythmus, Akzente oder sonstiges Dynamisches der mitwirkenden komponierten Stimmen ist von viel größerem Einfluß." (S. 69)

Busoni anschließend weiter:

"Vielleicht, dass noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen ausgebeutet wurden... aber die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer Bahn, deren längste Strecke bereits zurückgelegt ist. Wohin wenden wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung führt der nächste Schritt? Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit." (S. 43-45)

Schönberg ist aufgebracht:

"Das bin aber wohl ich und nicht er! Auch das Wort ist von mir!"

Schönberg prägte den Ausdruck vom "Triebleben der Klänge", in Adornos Übersetzung: "Die Forderung, dorthin zu komponieren, wohin das Einzelne will." An anderer Stelle: "Das innere Ohr." Das Triebleben aber fordert nicht einfach, es verlangt, es treibt einen vor sich her, gerade in seiner inkubatorischen, protoästhetischen Gestalt im inneren Ohr - das ist das Gegenteil von Freiheit, es ist Zwang im Dienste eines "musikalischen Fortschritts", der von Adorno mit der berühmten Formel von der "Tendenz des Materials" geschichtsphilosophisch geadelt wurde. Im Grunde ist das die hegelsche Vorstellung einer Exekutive des objektiven Weltgeistes, dessen Anweisungen in der Moderne je nachdem von Komponisten, Philosophen oder Schriftstellern vollstreckt werden sollten. In der "Philosophie der Neuen Musik" kommen sogar Adorno Zweifel am Sinn dieses Modells:

"Gelähmt wird mit der Spontaneität der Komposition auch die Spontaneität der avancierten Komponisten. Sie sehen sich vor so unlösbare Aufgaben gestellt wie ein Schriftsteller, der für jeden Satz, den er schreibt, Vokabular und Syntax eigens beistellen muß."

Schönberg wurde bekanntlich kein Fan Busonis, dafür ein anderer, der dessen Freiheitsprojekt energisch weitertrieb: Edgard Varèse. 1908 lernt er Busoni in Berlin kennen und berichtet,

"wie die langen Gespräche mit ihm, während derer sich mir allmählich neue Horizonte eröffneten, mir bei der Kristallisation meiner Ideen halfen und meinen Glauben bestärkten, daß neue Mittel gefunden werden müßten, um den Klang zu befreien, und zwar von den Beschränkungen des temperierten Systems... Mein erster Versuch, der Musik größere Freiheit zu verschaffen, war die Verwendung von Sirenen in einigen meiner Partituren ('Amériques', 'Ionisation') und ich denke, dass es diese parabolischen und hyperbolischen Klangkurven waren, die bereits 1925 gewisse Kritiker veranlaßten, meine Konzeption von Musik als Bewegung im Raum zu begreifen."3



Die Befreiung des Klanges war demnach für Varèse die musikalische "Emanzipation" des Geräuschs. Die ästhetische Grundlage dafür hat er 1939 in einer Vorlesung an der University of South California knapp und erschöpfend formuliert: "Das Rohmaterial der Musik ist Klang." Wenn man also mit Klängen arbeitet, die existieren, bevor sie und unabhängig davon, ob sie notiert wurden - die gleichsam als Versatzstücke herumliegen - ist die Entgrenzung ihrer Akustik, ihrer akustischen Phänomenalität nur konsequent. Varèse sollte der erste in einer langen Reihe von Propagandisten des integralen Komponierens mit musikalisch nobilitierten Geräuschen werden. Ein anderer Komponist, den man als Antipoden von Varèse bezeichnen kann, gelangte von Busonis Prämissen ausgehend zu einer ganz anderen Ästhetik: Igor Strawinsky. In seiner "Musikalischen Poetik" hören wir einen nachdenklicheren Ton:

"Mich überläuft eine Art Schrecken, wenn ich in dem Augenblick, wo ich mich an die Arbeit begebe, die unendliche Anzahl der sich bietenden Möglichkeiten erkenne und fühle, daß mir alles erlaubt ist. Wenn mir alles erlaubt ist, das Beste und das Schlimmste, wenn nichts mir Widerstand bietet, dann ist jede Anstrengung undenkbar, ich kann auf nichts bauen, und jede Bemühung ist demzufolge vergeblich." (Mainz, 1949, S. 45)

Strawinsky schaudert vor der neuen, unermesslichen Freiheit zurück: die Klänge sind tatsächlich frei, im doppelt negativen Sinne, dass sie zum einen losgelöst sind von ihren traditionellen Zuordnungen in einem harmonischen System - man kann sie davon unabhängig "hören" - aber auch zum anderen, dass sie genau deswegen unverbunden und zusammenhanglos daherkommen oder herumschwirren und dem Komponisten die Arbeit aufbürden, herauszufinden, wozu sie frei sind. Dazu muss er sie einfangen und ihnen eine Form und einen Rhythmus geben.

"Bin ich denn verpflichtet, mich in diesem Abgrund an Freiheit zu verlieren? Woran werde ich mich klammern, um dem Schwindel zu entgehen, der mich vor den Möglichkeiten des Unendlichen packt? ... Was mich von der Angst vor der schrankenlosen Freiheit befreit, ist die Tatsache, dass ich mich an die konkreten Dinge halten kann, um die es sich hier dreht: die Kombinationsmöglichkeiten der zwölf Töne jeder Oktave und all diese Spielarten der Rhythmik, welche die gesamte Tatkraft des menschlichen Genies niemals erschöpfen wird. Ich brauche nur eine theoretische Freiheit. Man gebe mir etwas Begrenztes, Bestimmtes, eine Materie, die ich im Rahmen meiner Möglichkeiten bearbeiten kann.... Meine Freiheit besteht also darin, mich in jenem engen Rahmen zu bewegen, den ich mir selbst für jedes meiner Vorhaben gezogen habe."

Als er dies 1949 schrieb, war Strawinsky 67 Jahre alt. Im gleichen Jahr erschien Adornos "Philosophie der Neuen Musik", die in Strawinskys Kompositionen die Unfreiheit des kollektivierten Subjekts aufgespürt zu haben glaubte; im Jahr darauf entdeckte John Cage im "I Ging" die unendlichen Freiheiten des Seinlassens der Klänge, die er 1951 mit der "Music of Changes" erstmals realisierte. Sein Programm liest sich so:

"Ich versuchte die Klänge dahin gehen zu lassen, wohin sie wollten, und sie das sein zu lassen, was sie sind. Das führte mich zu einer Kontinuität, die nicht mehr versucht, einen Höhepunkt zu erreichen [...] Mir scheint, dass die Musik - so wie ich es zumindest betrachte - nichts aufdrängt. Sie kann unsere Betrachtungsweise wirkungsvoll ändern, indem sie bewirkt, alles um uns herum als Kunst zu sehen. Aber das ist nicht das Ziel. Klänge haben kein Ziel! Sie sind, und mehr nicht. Sie leben. Musik ist das Leben der Klänge, diese Partizipation der Klänge am Leben, was sich, unfreiwilligerweise, zu einer Partizipation des Lebens an den Klängen entwickeln kann." ("Für die Vögel", Berlin 1984, S. 96)

Damit ist die Apotheose der Klangbefreiung erreicht. Nach der Befreiung vom Korsett der Kadenzharmonik, nach der Emanzipation der Dissonanz, der Klangfarbe, von Tonhöhen und Tondauern, des Details vom Ganzen und des Augenblicks von Sukzession und Dauer nun zuguterletzt auch die Befreiung vom Publikum, dem Adressaten, dem Medium und Klangkörper von Resonanzen. Wo die Klänge "leben", also der Ort, an dem sie nicht als Schwingung verhallen, der Raum, in dem sie ankommen und verwandelt werden: das hörende Subjekt, interessiert nicht mehr.

Was Cage unterschätzt, ist der Eigensinn des Hörens, das - wenn es nicht völlig gestresst, betäubt oder sonst überfordert wird - immer dazu neigt, von sich aus Zusammenhänge selbst zwischen sinn- und referenzlos vagabundieren Klängen herzustellen. Neurophysiologisch betrachtet ist dies dem primären auditiven Cortex geschuldet, das mit seinen Kurzzeiterinnerungen Details von Gehörswahrnehmungen verlängert und auf diese Weise Tonfolgen als zusammenhängend erleben lässt - etwa als Melodien. Der sekundäre Cortex analysiert dazu die Sukzessionsmuster und die rhythmischen Impulse der Zeitorganisation. Die Verhinderung jedes Zusammenhangs der Klänge durch Cages Zufallsoperationen, die den Hörer auf das nackte Jetzt, das mystische Nu einschwören will, scheitert je nachdem an dessen Vermögen, trotzdem Beziehungen zwischen den Klängen zu stiften oder sich bei misslingender Kompensation gelangweilt bis genervt abzuwenden.

Immerhin gab es bei Cage noch eine authentische Leidensgeschichte, sein ganzer Werdegang liest sich als unentwegtes Aufbegehren gegen das Fatum seines Namens: Käfig. Das ging schon auf dem Pomona-College los, wo er das Studium abbrach, weil er sich angesichts der ihm widersinnig erscheinenden Studienaufgaben wie im Gefängnis fühlte. Und es zieht sich als Entsubjektivierungs-Strategie seines Komponierens lebenslang durch. Nur raus aus dem Gefängnis der Subjektivität! Seine Gespräche mit Daniel Charles dokumentieren diesen Affekt des Eingesperrten gegen die ihn nach wie vor umgebende Tradition, für die sein Lehrer Schönberg stand, bei dem er von 1934 bis 1936 studierte:

"Natürlich wusste Schönberg genau wie ich selbst, dass ich kein Gefühl für Harmonie hatte... Er war der Ansicht, dass ich niemals würde komponieren können, weil ich immer vor einer Mauer stünde, der Harmonie, durch die ich nie hindurchkäme. Also erwiderte ich ihm, dass ich mein Leben damit verbringen würde, mit meinem Kopf gegen diese Mauer anzurennen..." ("Für die Vögel", S. 77)

1944 entsteht auf dem Höhepunkt seiner Depression und anhaltender Zweifel, ob er überhaupt weiter komponieren sollte - er hatte bereits eine Reihe jener Werke für präpariertes Klavier geschrieben, die ihn später berühmt machen sollten - das Stück "Four Walls" für Klavier und einen Tänzer mit einem Interludium für Singstimme: eine Dreiviertelstunde verzweifelten repetitiven Hämmerns gegen die Grenzen der Diatonik (ausschließlich auf den weißen Tasten und mit den längsten Pausen der Musikgeschichte). Zugleich eine Studie in manichäischer Kontrastdramaturgie und das einzige von Cage überlieferte Psychodrama. Ein Werk, das in den unzähligen Studien zur vielgepriesenen - manchmal auch gescholtenen - Anarchie dieses Komponisten nie eine Rolle gespielt hat, das aber zweifellos alle seine anderen Nichtwerke überleben und als erratisches Exempel eines tragischen Minimalismus in die Musikgeschichte eingehen wird.




III

Diese kurzen Ausführungen über "Four Walls" könnte man, in einem zugegeben etwas unorthodoxen Sinne, durchaus ein Klangkonzept nennen. Das setzt natürlich ein anderes Verständnis von Klängen voraus als das, was wir aus den Befreiungsemphasen und Autonomiebekundungen von Praktikern und Theoretikern der Neuen Musik gewohnt sind. Nämlich: dass Klänge etwas bedeuten. Genauer, und im Blick auf ihre moderne Bedeutungsentleerung: sie können etwas bedeuten. Wir wissen zwar nie, was, aber wir spüren, wenn sie es tun. Womit ich bei einer weiteren Dimension ihrer mutwillig herbeigeführten Vergessenheit wäre.

Zur Erinnerung: unsere Kulturgeschichte beginnt im antiken, vorklassischen Griechenland mit gleich mehreren Erzählungen - vier mythologischen und einer philosophischen - von der Entstehung der Musik: Musik als Geschenk Apollons an die Musen; die Sage von Pan und Syrinx; die mathematisch berechnete Sphärenharmonie des Pythagoras; der fatal verführerische Sirenengesang in Homers Odyssee und vor allem die tragische Liebesgeschichte des ersten Sängers Orpheus - Sohn des Apollon und der Muse Kalliope -, Inbegriff der höchsten, selbst den Tod überwindenden Wirkungsmacht von Musik, dessen klaggé (klangé) um Eurydike sich im deutschen "Klang" (und Klage) erhalten hat.4 Allein schon diese Etymologie lässt die Faszinationsgeschichte erahnen, die Menschen seit jeher dazu prädestiniert, von Musik ergriffen, verzaubert oder getröstet zu werden.

Von Klängen aber wird man nur ergriffen, wenn sie etwas "bedeuten". Sonoristische Reize mögen uns schockieren, stimulieren, aufkratzen, plattwalzen - ergreifen tun sie uns nicht. Und die Bedeutsamkeit von Musik wiederum hängt an ihrer Wahrnehmung als Sprache, wenn auch einer fremden, die man irgendwie zu verstehen glaubt, obwohl man nicht genau angeben kann, was sie sagt. Und die fasziniert, weil sie für die Dauer ihres Erklingens jene andere Welt lebendig werden lässt, in der Wünsche und Sehnsüchte artikuliert, Ängste und Leiden durchgestanden werden, als wären es unsere, während wir vorübergehend in Zustände einer höheren Intensität eintauchen und selbst bei einem Requiem die Verzückung einer unmittelbaren, erfüllenden Selbsttranszendenz als Resonanzeffekt in uns genießen. Die Beredsamkeit der Musik erzeugt eine Bedeutsamkeit der Klänge, die sich als Resonanz überträgt. Daher sind hörende Subjekte als Medien zu verstehen, als für andere stumme, nach innen schwingende Klangkörper. Unsere Seele, als Selbstwahrnehmung eines Körpergefühls und als Ansprechbarkeitspotenzial, das bewusst und gegenwärtig erlebt wird, wenn und solange es "aktiviert" oder eben "angesprochen" wird, diese Seele ist das den Klängen Sinn und Widerhall verleihende Medium.

Von diesem komplexen Wechselspiel finden wir kaum noch eine Spur in den triumphal befreiten Klängen. Was ihre Befreier nämlich nicht bedacht haben: Die Freiheit von den Form- und Strukturzwängen der Harmonielehre erweist sich als gleichbedeutend mit der Entsorgung von Affekten, Gedächtnisspuren und Assoziationsbahnen und damit von potenziellen Klangresonanzen jedweder Art. Man hatte gewissermaßen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und anschließend gehofft, für das Unerhörte, das man zu erforschen begann, würde sich irgendwann ein neuer Subjektraum mit neuen Gesten und Gefühlen von selbst einstellen. Ist bekanntlich nicht passiert.

Wenn ich die eben skizzierte Tradition der modernen Befreiungspathetiker Revue passieren lasse, dann stelle ich hingegen fest, dass aus dem hypnotischen Sog des Sirenengesangs das maschinelle Alarmgeheul bei Varèse wurde, und dass man gut beraten ist, sich für empathieträchtige Trauergesänge von Zeitgenossen besser an den Blues, an Meredith Monk oder an die osteuropäischen Threnodien von Schostakowitsch, Weinberg, Schnittke, Pärt oder Gubaidulina zu halten. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts haben die Faszinationsgeschichte der Musik durch eine veritable Obsessionsgeschichte abgelöst; sie haben Verzauberung durch Schocks ersetzt und die Konzertsäle in Trainingslager für grenzwertige akustische Zumutungen verwandelt. Donaueschingen heißt das berühmteste dieser Camps für verschärfte (erweiterte) Hörmethoden. Es ist noch nicht lange her, da stand dessen Programm unter dem berüchtigten Adorno-Satz: "Die Unmenschlichkeit der Kunst muss die der Welt überbieten um der Menschlichkeit willen". Das ist, als würde man sagen: das Geräuschklangkontinuum der Neuen Musik muss den Lärm der Welt überbieten um der Stille willen.

Komplementär zum Kult der sich selbst zelebrierenden Klänge wurde das "Hören des Hörens" zum erklärten Ziel der sensorischen Tortur, ein Hören zweiter Potenz also, zweifellos eine interessante Übung in between, auf Dauer aber keinesfalls die "existenzielle Erfahrung", die Helmut Lachenmann sich davon erhofft hatte. Und ebenso anstrengend wie das "performative Präsenzhören", das Christian Utz für musikalische Ereignisse mobilisieren möchte, die das Gehör gezielt überfordern mit extrem gedehnten oder gestauchten, beschleunigten oder verlangsamten, fragmentierten, simultan parallelgeführten oder hyperkomplexen Klangprozessen. Es geht ihm wie anderen Exponenten der neuen Klangwissenschaft - ich nenne noch Gunnar Hindrichs und Tobias Janz stellvertretend für viele andere - um das Trainieren von Wahrnehmungsreflexen einer Hyperwachsamkeit, die (wie übrigens alle körperliche Schwerstarbeit) intensive Unmittelbarkeit verbürgen soll. Sie alle dulden keine Absenz, keine Selbstvergessenheit, keine Immersion; der von Walter Benjamin favorisierte Modus der Zerstreuung dünkt ihnen wie alles Genussverdächtige regressiv.

Dementsprechend wird der Kanon ihrer Kronzeugen von Brian Ferneyhough, Helmut Lachenmann und Salvatore Sciarrino angeführt. Letzterer stellt seine Ästhetik explizit im Zeichen von "little bangs", wie er sie nennt, kleine Klangschocks, geräuschhafte akustische Impulse, die ein sediertes, saturiertes, abgestumpftes Publikum wachrütteln sollen. Dass man die von der Unterhaltungsindustrie verklebten Ohren wieder freisprengen müsste: Dieses kulturkritische Rechtfertigungsmotiv zieht sich von Varèse bis Lachenmann, von Adorno bis Mahnkopf durch alle Selbstaussagen der Avantgarde-Protagonisten: als hätten sie selbst ein Ungenügen an ihrer ästhetischen Haltung gespürt, als wüssten sie um den praktisch nicht vorhandenen Wirkungsgrad ihrer Werke.

Dabei wäre die ganze, mit Busoni und Schönberg einsetzende Auf- und Abräumaktion nicht nötig gewesen, jedenfalls nicht in der historisch beispiellosen Rigorosität. Folgt man Adornos Gedanken, dass Musik schon deshalb ein privilegiertes Verhältnis zur Freiheit unterhält, weil sie nicht an Gegenständlichkeit gebunden ist, und erinnert man daran, dass selbst die hochgradig semantisch aufgeladenen Klänge einer Mahler-Sinfonie nie auf eine Botschaft reduziert werden können: dann bleibt ihre Autonomie gewahrt, auch wenn sie uns eine Gänsehaut über den Rücken jagen, bleiben sie das pure Ereignis ihres flüchtigen Seins. Man hätte sie also von den verbrauchten Konventionen der tonalen Epoche befreien können, ohne die Faszinationsgeschichte ihrer psychohistorischen Evokationsmacht mit zu entsorgen. Und manchen Komponisten ist dies auch gelungen, Strawinsky hatte ich schon genannt, mit einem Hinweis auf Claude Debussy möchte ich schließen.

Von Wolfgang Rihm stammt der Satz: "Für mich ist Varèses Musik mit der Debussys, Schönbergs, Feldmans und Nonos die freieste dieses Jahrhunderts. […] Man hört ihr den Zwang zur Freiheit an." Ein starker, ein paradoxer Ausdruck, der das Triebleben der Klänge noch einmal, als Fluch oder Verhängnis bemüht. Und eine merkwürdige Ahnenreihe, deren Gemeinsamkeit durch diesen Kraftakt besiegelt wird. Doch wenn es einen Komponisten gibt, dessen Werke keinem zwanghaften Freiheitsdrang - im Sinne jener Obsession, die zum Standardgestus der Avantgarde wurde - entspringen, dann ist es Claude Debussy. Das hat ausgerechnet Pierre Boulez genauer gesehen, für den "die moderne Musik 1894 mit dem 'Nachmittag eines Fauns' erwacht": "Seine ästhetischen Bestrebungen fordern Debussy eine neue Syntax ab, die den Kanons und den Verboten der Franck-Schule aus dem Weg geht."5 Aus dem Weg gehen: Debussy muss nicht wie Schönberg "die Fassade der klassisch-romantischen Musik zerschlagen" (Adorno), um etwas Neues, Unerhörtes zu schaffen. Er muss nichts bekämpfen oder überwinden, er wendet sich von der Vergangenheit ab und macht einfach etwas anderes.

Und er macht es konsequenter und radikaler als alle seine Zeitgenossen, indem er 1903 die erste Klangkomposition veröffentlicht, die diesen Namen verdient und die, obschon bekannt und oft gespielt, trotzdem auf eine verquere Weise in Vergessenheit geraten ist, nämlich so, dass ihre exzeptionelle Bedeutung nie wahrgenommen wurde. Dabei gibt es aus jener Zeit kein Werk, das derart aus allen musikalischen Traditionen und kulturellen Kontexten herausfällt, und das noch heute klingt, als wäre es gestern komponiert: "Pagodes", das erste Stück aus dem Triptychon der "Estampes".

1888 und -89 hatte Debussy in Bayreuth den "Parsifal", die "Meistersinger" und "Tristan und Isolde" erlebt. Nicht auszudenken, wie seine Auseinandersetzung mit Wagner nach "Pelléas et Melisande" verlaufen wäre, hätte er nicht im Herbst 1889 anlässlich der großen Pariser Weltausstellung eine wahrhaft epiphanische Begegnung mit einem Gamelanorchester aus Java gehabt, die sich 1900 mit einem balinesischen Gamelanensemble wiederholen sollte. Unter diesem Eindruck schuf er ein Klavierstück, in dem auf der Basis einer H-Dur-Pentatonik das Harte, Metallische, Mechanische des Gamelan-Orchesters in seiner ganzen polyrhythmischen Vielschichtigkeit und seinem Reichtum an exotischen Klangfarben weich und federnd zum Fließen gebracht wird; harmonische Statik und perkussive Bewegtheit überlagern sich und selbst dissonantische Akkordfolgen greifen dank der Obertöne der im Subkontra pedalisierten Orgelpunkte geschmeidig ineinander. Die in sich kreisenden pentatonischen Klangfiguren bilden zusammen mit pulsierenden Sekunden, rhythmischen Ostinati, Orgelpunkten und der Wiederholung ganzer Abschnitte das Bindende, wenn man so will Form Stiftende des Stücks.

Was Debussy mit relativ simplen Mitteln äußerst raffiniert inszeniert - Raffinessen, die von fast allen Berufspianisten virtuos verspielt werden, empfehlenswert ist einzig die Aufnahme von Alain Planès - ist nichts weniger als ein Spiel der Annäherung, Vermischung und Entfernung verschiedener Musikkulturen, mithin das Grundmodell des postmodern erfolgreichsten musikalischen Genres: des Crossover. Das Klangidiom des Crossovers ist jedoch nicht das einzige Indiz dafür, dass wir bei diesem Werk gleichsam kontradiskursiv von einer Latenz des Materials sprechen können: die "Pagodes" schlafen kompositionsästhetisch sieben Jahrzehnte wie in einer Zeitkapsel, um dann erst mit dem Minimalismus von Terry Riley und Steve Reich und ein Jahrzehnt später in Brian Enos und Jon Hassels Ambient Music wieder auferweckt zu werden. Das betrifft die Pentatonik, die perkussive Klavierbehandlung bis hin zu Glocken- und Gongeffekten, das intentionslose Spiel von Ostinati und Wiederholungsmustern bis hin zur Phasenverschiebung melodischer Patterns, wie man sie erst wieder in Steve Reichs "Marimba-Pieces" hören wird.



Das Klangkonzept dieser wundersamen Maschinerie hält aber noch eine gut versteckte selbstreferenzielle Wahrheit aller gelungenen Musik bereit. Mit einem wehmütigen, eher zu gis-moll tendierenden Motiv beschwört Debussy am Anfang und am Ende der "Pagodes" die seit den Pariser Weltausstellungen und Gaugins Tahiti-Exkursionen im Fin-de-Siècle virulente Sehnsucht nach einem weit entfernt in der Südsee verorteten Paradies. Der alteuropäisch auf- und absteigenden Schicksalsfloskel kontrastieren die im letzten Abschnitt gleichgültig entfesselten 32tel-Figuren der Gamelan-Mallets im Diskant. Wenn dann in den letzten Takten der Gong im Subcontra den Grundton H anschlägt, wechselt die Stimmung - "aussi pp que possible" - vollends ins Elegische, die beiden Welten driften unwiderruflich auseinander, wobei offen bleibt, ob das Paradies für immer verloren oder prinzipiell unerreichbar ist. Damit bereitet die Musik ihr unmittelbar bevorstehendes Verklingen vor, sie nimmt die Trauer vorweg, die den Hörer anschließend ergreift: das Paradies, den anderen Zustand einer höheren Intensität des Daseins gibt es nur in den Klängen und nur solange die Musik spielt: laissez vibrer.

Daniele Dell'Agli

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1 In: Christian Utz (Hrsg.), Organized Sound, Saarbrücken 2013, S. 120f.
2 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Frankfurt am Main 1974, S.11. In der Suhrkamp-Ausgabe auch Schönbergs Anmerkungen enthalten.
3 Spatiale Musik. In: Edgard Varèse / Rückblick auf die Zukunft. Musik-Konzepte Heft 6, 1978.
4 Diese etymologische Perle verdanke ich Peter Matusseks auch sonst ungemein instruktiver Medienästhetik des Klangs (Google PDF).
5 Pierre Boulez, Lexikonartikel Debussy, in Anhaltspunkte.Essays.