Essay

Wege aus dem Schlamassel - Teil 2

09.04.2012.
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Teil 2: Goldenes Kalb und Klassenkampf - Kritik ist nicht Zerstörung - Seid eures Unglücks Schmied



Goldenes Kalb und Klassenkampf


Jede Krisenzeit provoziert die selben, im Brustton des besten Wissens vorgebrachten Verwünschungen, etwa die Klage über die Herrschaft des Geldes. Sie ist legitim, solange man hinzufügt, dass nicht seine Existenz, sondern seine Knappheit, die Beschlagnahme durch eine Handvoll Leute, den Skandal darstellt. Entgegen den Analysen frommer Soziologen leiden Franzosen, Engländer, Deutsche nicht an einem Sinn-, sondern an einem Gelddefizit, und das Hauptproblem der Einkünfte liegt in ihrer ungleichen Verteilung. Das Leben erhält sehr schnell seinen Sinn zurück, wenn das Portemonnaie sich wieder füllt. Geld kauft Zeit, Freiheit, Sorglosigkeit. Selbst die "Empörten" - so das neueste Label auf dem Protestmarkt - erregen sich über die ungleiche Verteilung von Erbschaften und beklagen das besiegelte Schicksal der kommenden Generationen. Unfehlbarer Test: Wer immer in der Öffentlichkeit gegen das Goldene Kalb wütet, verehrt es im Innersten seines Herzens und genießt in der Regel ein komfortables Einkommen.

 Geld bleibt ja auch ein einzigartiges Mittel, um durch Arbeit persönliche Unabhängigkeit zu erlangen, es gehört zu den Accessoires des "Guten Lebens", selbst wenn es nicht damit zu verwechseln ist. Es stellt für jene, die es haben und die ohne Komplexe damit umzugehen wissen, überhaupt kein philosophisches Problem dar. Aber statt die Mehrheit zu beglücken, bleibt es den Bevorzugten vorbehalten und liegt wie geronnen in den Händen einiger weniger. Die Statusdifferenzen zwischen Wohlhabenden und Mittellosen bekommen mehr und mehr eine geradezu metaphysische Konsistenz, als würde eine unerbittliche Theologie die einen retten und die anderen zurückwerfen in die Schwärze der Nacht. Die Mauer zwischen den Gehältern stellt unweigerlich Kastengrenzen wieder her, die diesmal auf materiellem Profit und nicht wie in der einstigen Aristokratie auf Blut, Tradition, Größe beruhen. Mitleidig blicken die Plebejer von oben herab auf die Plebejer unten, die murren und mit den Füßen scharren. Das Drama ist nicht, dass einige wenige auf unerschöpflichen Goldhaufen hocken, sondern dass die Mehrheit keine Gelegenheit mehr bekommt, sich zu bereichern und ihr Los zu verbessern. Willkommen zurück in der Ära des Prekariats, in der die große Mehrheit der Bevölkerung mit Bangen auf das Monatsende blickt, sich verschuldet, mit seinem Budget nicht mehr auskommt und nichts mehr fürchtet als das Gespenst des sozialen Abstiegs. Zählen, den Gürtel enger schnallen, verzichten - man ist wieder klamm, zurück in einer Zeit des Mangels, der Improvisation, ja der Unterernährung, die man nach dem Zweiten Weltkrieg vergangen wähnte. Nach der Verschwendungssucht der gloriosen Nachkriegszeit erinnern wir uns der von unseren Eltern und Großeltern gepredigten Werte: Sparen, Vorsicht, Wissen um Knappheit, das in neurotischen Geiz umschlagen kann. Keine Nahrung wegwerfen, nichts vergeuden, auf den Strom- und Wasserverbrauch achten, Müll trennen, Metalle zurückgewinnen, Papier recyceln - und so weiter.

Das Neue der Ökologie liegt nicht darin, dass sie uns für die Natur sensibilisierte - das hatte die Romantik bereits getan -, sondern dass sie die Sparsamkeit in den Rang einer Tugend erhob. Sie hat die Erde in ein System der Erbsenzählerei eintreten lassen, in dem die geringste Aktivität, bis hin zum Atmen, in Begriffen von Soll und Haben abgerechnet wird. Sie hat unsere Urmutter Gaia in ein Kleinunternehmen verwandelt, das sich jedes Jahr einer Bilanz unterziehen muss und, entkräftet, vor dem kosmischen Bankrott steht. Ironischer Weise hat diese gegen die Logik des Produktivismus gerichtete Bewegung den Krämergeist auf Weltniveau gehoben. Wider Willen erschließt sie so dem Kapitalismus neue Gewinnchancen wie in den sechziger Jahren die Hippies, die der Touristikbranche prächtige Weltgegenden öffnete.

Zu glauben, dass die soziale Frage durch die Krise verschwinden wird, ist ebenfalls ein gravierender Irrtum: Streiks, Arbeitskämpfe, Aufstände werden um so bitterer sein, als Arbeiter und Angestellte sich keine Illusionen mehr machen. Zwanzig Jahre Lohndrückerei im Namen der Vollbeschäftigung und der Gleichgewichte haben ihre Geduld aufgebraucht. Das Gespenst der Armut wird jeden dazu treiben, den Arbeitgebern und dem Staat ein Maximum an Konzessionen abzupressen. Auch der Glaube an ein Verschwinden der Egoismen zugunsten einer neuen Großzügigkeit und der Lobpreis der Armut, der man höhere Werte andichtet, gehören ins Reich der frommen Wünsche. Gewisse Solidaritäten mögen sich verstärken, aber in begrenzten Bereichen und um den Preis von Gewalt und sozialer Rache, denn die Not wird die Interessenkonflikte innerhalb der Familien, Generationen, Unternehmen und Staaten noch verschärfen. Es wird Hilfsbereitschaft geben, aber im Rahmen geschlossenen Communities, die zunächst ihresgleichen helfen. Wir werden eine brüchige und begrenzte Brüderlichkeit erleben, die niemals die anonyme Liberalität des Wohlfahrstaat ersetzen kann.

Zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall ist der Klassenkampf in unseren Demokratien erbitterter denn je - ein Klassenkampf, der nach den Worten des Milliardärs Warren Buffett von den Reichen ausgerufen und gewonnen wurde.



Kritik ist nicht Zerstörung


Dennoch werden wir die viel geschmähte Konsumgesellschaft verlassen, auch wenn mehr und mehr Bürger in ihrer Not in Billigläden kaufen, Preise überwachen und sich überdies über die Auswirkung der Produkte auf den Planeten Sorgen machen. Auch der "bewusste Käufer" ist von den Produkten besessen: Er unterzieht sie gelehrten Vergleichen, statt sich von ihnen zu befreien. Das ist ein wichtiger Wandel - aber innerhalb der Warenwelt. Die Gegenmacht der Kunden bedeutet, dass sie die Spielregeln besser beherrschen, nicht dass sie aufhören zu spielen. Was sich in unserem Alltag ausbreitet, ist ein Geist der Rechnerei, die Mathematisierung unserer Existenz. Gewiss, die ökonomische Religion der letzten dreißig Jahre reduzierte das menschliche Los auf die bloße Gier und Anschafferei, die als Modelle der Freiheit gepriesen wurden. Was ist finsterer als eine Ladenpassage, wenn sie zum einzigen Horizont für Millionen Menschen wird, was ist trister als die vielen kleinen Städte in Nordamerika und Europa, die in Wohn- und Gewerbegebiete aufgespalten sind, mit der Straße dazwischen als einzigem öffentlichem Raum? Wenn sich Shopping als Lebensstil verkauft und die Einkaufspassage der einzige kollektive Raum ist, in dem die Leute flanieren, sich treffen, heiraten, dann wird er zu trübsten aller Utopien und ertränkt uns in einer Flut aus Plunder.

Aber täuschen wir uns nicht: Kritik heißt nicht Zerstörung. Der totale Sieg der Warenwelt, die Uniformierung des Verhaltens, die Verwandlung des Menschen in einen emsigen Hamster, der nur mehr konsumiert und produziert, werden in Frage gestellt. Aber der Widerwille gegen die Exzesse der Spekulation und die Herren der Finanzwelt kommt nicht einer globalen Verweigerung gleich. Kapitalismus und Demokratie kritisiert man im Namen nicht gehaltener Versprechen. Der Markt mischt sich dennoch mit unserer Zustimmung in unser Leben, denn er begleitet die Definition des Einzelnen als ein Wesen im Aufstieg, das sich von den materiellen Zwängen löst, um sich selbst zu verwirklichen. Wohlstand ist eine Errungenschaft, deren Verlust als Trübsal empfunden wird, weil er jedem einzelnen Zeit und Kraft gibt, sich den Tätigkeiten zu widmen, die ihm gefallen. Es gibt keine materielle Entwicklung, die nicht auch geistig wäre und neue Wege bahnte. Die Lust am Komfort ist nicht obszön oder überflüssig, sondern befreiend. Denn der Komfort erlaubt eine Befreiung von der Außenwelt und der Sorge um Nahrung und Wohnung. Armut ist ja gerade die Unfähigkeit, sich vom Bedürfnis zu lösen, der Zwang, Tag und Nacht das Joch der Notwendigkeit zu spüren. Es gibt nichts Kommerzielles, das nicht auch einen Widerhall in der Seele hat, der Konsum geht einher mit der Leidenschaft, man selbst zu sein, und die Technik ist, anders als die Nostalgiker glauben, keineswegs künstlich, sondern sie ist zur zweiten Natur geworden, zur Ausdehnung unseres Nervensystems, die uns vergrößert, statt uns zu unterwerfen. Wir wollen den Markt, wenn er uns dient, nicht wenn er uns versklavt, weil wir alles opfern müssen um zu überleben. Wirtschaft und Geld müssen Mittel bleiben und dürfen sich nicht in Zwecke verwandeln, die uns ihren unkontrollierbaren Mechanismen unterwerfen.


Seid eures Unglücks Schmied


Jede Krise ruft zwei Arten von Utopien auf den Plan: Utopien der Versöhnung und Utopien der Zerstörung. Für die ersteren würde es schon ausreichen, Freundlichkeit und Milde wieder zu rehabilitieren, Häuser der Brüderlichkeit zu errichten, in großem Maßstab Fürsorge und "Care" zu praktizieren, kurz: weltweit eine Politik der Güte zu initiieren. Ohne seine Notwendigkeit in der Gesellschaft verkennen zu wollen, ist es aber nicht sicher, dass Wohlwollen allein das Verbrechen entmutigen, den Fanatiker besänftigen, den Gierigen überzeugen, den Bösen bändigen kann. Gelebte Solidarität ersetzt nicht Politik, das heißt die friedliche oder gewaltsame Durchsetzung von Konfliktlösungen und Interessen. So oder so bleibt Geschichte tragisch. Nicht Freundschaft und Liebe begründen die Gesellschaft, es ist zunächst das Gesetz, das erlaubt und straft, und dann die Höflichkeit, die Leo Strauss als "kleine Politik" bezeichnete, ein Bürgersinn, der aus Distanz und Respekt besteht und es Millionen erlaubt, zusammen zu leben, ohne sich gegenseitig umzubringen.

Die entgegengesetzte Schimäre liegt in der Faszination des Schlimmsten, die auf folgendes Axiom gegründet ist: Die Lage ist ernst, wir sollten alles tun, um sie zu verschlimmern. Wir sollten die Grenzen für alle Migranten öffnen, sagt die extreme Linke. Und die extreme Rechte antwortet in symmetrischem Irrsinn: Wir sollten die alten Nationen gegen Brüssel neu errichten, uns in unserem gallischen oder auch germanischen oder ungarischen Dorf einigeln, der Welt die Tür zuschlagen, den Euro abschaffen, das ganze institutionelle Gefüge, das über fünfzig Jahre entstand, in Stücke schlagen. Besorgniserregend ist hier die Vielfalt der Rückzugsparolen: Mit dem Argument des Schutzes pflegt man den Traum, aus der Geschichte auszusteigen, die Begrenzung aufs Lokale soll ein Aktionsfeld nach menschlichem Maß wiederherstellen. Als bräuchten wir einen Radius nach unserem Maß, der den Raum des Privatlebens kaum überschreitet. Der Klaustrophobie von gestern, die den Einzelnen im Gefängnis der Ehe, der Familie oder des Dorfs ersticken ließ, folgt heute die Platzangst, der Schwindel angesichts der Weite. Was uns nahe ist, ist in unserer Hand. Umfragen zeigen politisch pessimistische Bürger, die sich zufrieden über ihr Alltagsleben äußern.

Eine andere Variante dieser Tendenz: Die Versuchung des Rückzugs. Da einige Länder in der Rezession stecken, sollen wir die Schrumpfung mit Freuden akzeptieren. Da wir schon nichts ändern können an unserem Unglück, sollen wir so tun, als ob wir dieses Unglück wollen. Bremsen wir die Industrie, den Handel, das Verkehrswesen, stoppen wir die Atomkraft im Namen der absoluten Sicherheit, begrenzen wir den Zugang zu Autobahnen, Flughäfen, Autos, Schnellzügen, schließen wir uns ein in unsere nachhaltigen Wohnviertel. Lasst uns rein bleiben. Richten wir uns ein in stetem Mangel, solidarischer Armut, ethischer Unterentwicklung.

Eine Sache ist es, eine schwierige Lage zu bewältigen, eine andere, daraus eine neue Gesellschaft zu entwickeln. Ohne Hoffnung auf ein besseres Leben wird man die Menschen niemals mobilisieren. Man muss schon recht pervers oder naiv sein, um zu glauben, dass man sie für ein Weniger begeistern kann. Die Sorge um den Planeten reaktiviert einen alten totalitären Traum von Kontrolle bis hin in unsere intimsten Gewohnheiten: wie wir uns waschen, anziehen, heizen. Glaubt man diesen Aposteln der Askese, dann muss man zu einem radikalen Wandel, einer Revolution des Bewusstseins aufrufen: hohle und beunruhigende Parolen, die an die Slogans der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erinnern. Die Fantasie vom großen Umsturz ist ebenso vergebens wie die Idee, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu setzen. Wie ein Tanker auf hoher See soll die Menschheit als ganze beidrehen und einen anderen Weg nehmen als den von der Aufklärung vorgezeichneten Weg von Demokratie, Pluralismus, Säkularismus, Wohlstand, und ihr Schicksal in die Hände einer eingeweihten Elite aus Weisen legen, die wissen und entscheiden. Man kann sich aber auch vorstellen, dass die Lösung genau in der entgegengesetzten Richtung läge: in der Vertiefung der revolutionären Ideen, nicht in ihrer Preisgabe.

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