Essay

Wieviel Härte verträgt die Demokratie?

Von Daniele Dell'Agli
01.03.2019. Dass es in einer der reichsten Gesellschaften der Welt weder für ein solidarisches Grundeinkommen noch für auch nur moderate und unbürokratische Erleichterungen der unwürdigen Lage jener, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, die geringste Akzeptanz gibt, ist sozialpsychologisch und psychopolitisch ein Skandal, den niemand als solchen zu bemerken scheint.
Die Geschichte menschlicher Härten ist zwar noch nicht geschrieben, aber folgt man der  Etymologie, so wird im deutschen Sprachraum seit dem 8. Jahrhundert das Widerständige, Ausdauernde und Unnachgiebige als "hart" bezeichnet. Von Stein und Eisen inspiriert, übertrug man ihre wichtigsten Eigenschaften zunächst positiv auf Menschen, genauer gesagt auf Männer: sie sollten durch eine harte Erziehung für die Kämpfe des Lebens abgehärtet werden. Mit harten Bandagen ging es dabei selten fair zu, wer aber hart im Nehmen war, konnte mit einiger Hartnäckigkeit auch seine Ziele erreichen. Die Kehrseite seelischer Verhärtungen und Hartherzigkeiten sollte erst die Therapeuten des 20. Jahrhunderts beschäftigen, während noch bis in die siebziger Jahre hinein - die Älteren werden sich erinnern - Sportlehrer die Leibesertüchtigungen ihrer Zöglinge mit dem Nazimotto antrieben: "Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, schnell wie Windhunde."

Irgendwann, vielleicht auch weil immer mehr Krupp-Hütten und Internate geschlossen wurden, kam die Härtemetaphorik - die "volle Härte des Gesetzes" gegen hartgesottene Intensivtäter einmal ausgenommen - aus der Sprachmode, die Spaß-, Konsum- und Erlebnisgesellschaft hatte andere Sorgen. Sie wollte um jeden Preis vergessen, dass Arbeit hart zu sein hat, hatte sie doch schon Moses als Strafe für den Sündenfall verordnet und die tägliche Mahlzeit nur dem gegönnt, der sie im Schweiße geleisteter Mühsal zu sich nimmt (1. Mos. 3,19). Die SPD hingegen hat ihre Herkunft und mithin die sadistische Bestrafungsideologie des Christentums, die maßgeblich zur Akzeptanz ansonsten unerträglicher Ausbeutungsverhältnisse beigetragen hat, nie vergessen. Und so ist es mehr als ein Echo aus fernen Zeiten, wenn die einstige Arbeiterpartei heute wieder den Chor jener Politiker anführt, die tagaus tagein bei jedem Interview, jeder Pressekonferenz, in jeder Talkshow vom unschätzbaren Wert "harter Arbeit" schwadronieren, die mit angemessenen Rentenleistungen honoriert werden müsse.

Als hart arbeitend, und zwar auf eine Weise, die sich frühestens nach 35 Jahren zu einer respektablen "Lebensleistung" summiert, wird dabei gelobt, "wer morgens aufsteht" (Heil, Hubertus) und seine Haut zu Markte trägt, um genügend Rentenversicherungspunkte zu sammeln. Dass es Leute gibt, die morgens nicht aufstehen, wird nun niemand bestreiten und an Neugeborene, Gehbehinderte und Schwerstkranke denken, doch die stehen auch nachmittags nicht auf und sind deshalb wohl nicht gemeint. Wer aber dann? Antwort: Empfänger von Sozialleistungen. Denn, so die Unterstellung, nur wer ein Leben lang nicht hart genug gearbeitet hat, muss im Alter Grundsicherung oder Sozialhilfe beantragen; und dass Hartz IV-Empfänger den ganzen Tag in der Horizontale verbringen, ist ja hinlänglich bekannt.

Wer morgens nicht aufsteht, obwohl er könnte, gilt im deutschen Sprachraum als "faul". Das ist etymologisch - und damit mentalitätsgeschichtlich - ein Sonderweg: das Nichtstun mit Prozessen des Verfaulenden, Siechenden, Verwesenden zu assoziieren, bis hin zu den begleitenden Ausdünstungen (stinkfaul). Im Englischen dagegen schwankt man zwischen lazy (lässig), idle (eitel) und sloth (träge, indolent), womit die lateinische pigritia (frz. paresse, ital. pigrizia, span. pereza) übersetzt wurde, jener entschleunigte Lebenswandel, auch Müßiggang genannt, der von seinen Verächtern gern irreführend mit der acedia, der "Trägheit des Herzens" kurzgeschlossen wird, die im christlichen Mittelalter wegen der verweigerten (oder gemiedenen) Anstrengung eines gottgefälligen Lebens zu einer der sieben Todsünden gekürt wurde. Auch in dieser Tradition zeichnet sich die Verklärung des Arbeitens als Quintessenz eines Lebens voller Mühsal ab, das dann vom protestantischen Arbeitsethos verbindlich für die deutsche Leitkultur der letzten zweihundert Jahre festgeschrieben wurde.

Natürlich kennen Vertreter aller Fraktionen Umfragen, die belegen, dass gerade von Geringverdienern, Mindestlöhnern und Teilzeitjobbern die heftigste Ablehnung jeder  Nachbesserung der Hartz IV-Bestimmungen ausgeht, gehören sie doch zu jenen Einkommensbeziehern, denen nach Abzug der Fixkosten gerade noch der Stolz bleibt, nicht von der Stütze abhängig zu sein. Doch anstatt das Schicksal der Ausgebeuteten und Habenichtse so zu verändern, dass sie keinen Grund mehr hätten, nach oben zu bücken und nach unten zu treten, wetteifern unsere Eliten um die effektivste Verbreiterung ihrer Wählerbasis, indem sie deren Unmut gesamtgesellschaftlich verallgemeinern. Wann immer es um die Entsolidarisierung der unteren Stände geht, werden sie nicht müde, das schuldhafte Versagen von Arbeitslosen, ja selbst erwerbslos Arbeitenden zu betonen (das mit beschämend niedrigen Staatshilfen bestraft gehört) und nur jene Arbeit gelten zu lassen, die "hart" verrichtet wurde, und zwar möglichst ein Leben lang. Kein anderes Attribut kommt ihnen beim Stimmenfang ganz unten häufiger und schneller über die Lippen -, nicht kreativ, sinnvoll, erfüllend, umweltverträglich, familienfreundlich, gerecht verteilt oder gar gerecht bezahlt soll anerkennenswerte Arbeit sein, sondern hart.

Nun darf man erwarten, dass derart exklusiv gepriesene Arbeitshärte, zumal lebenslänglich verordnete, sich entsprechend auszahlt. Doch das Gegenteil ist der Fall: denn die existentielle Härte besteht ja gerade darin, mit einer täglich an die Grenzen der Erschöpfung treibenden Plackerei knapp das Existenzminimum zu erwirtschaften und im Alter auf Grundsicherung angewiesen zu sein. Dafür lockt die symbolische Belohnung in der Abgrenzung zu jenen nichtsnutzigen Parasiten, die offenbar ohne je einen Finger gerührt zu haben zwar nicht das Existenzminimum, aber doch genug vom Staat erhalten, um nicht zu verhungern. Und das sind praktisch alle, die nicht 35 (plus minus) Jahre regelmäßig in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Dass es Hunderttausende Selbständige gibt, darunter viele Freiberufler im Kulturbetrieb, die wegen der erbärmlichen Honorare, mit denen sie abgespeist werden, nie oder nur selten Beträge für die Rentenkassen abzweigen können, ist nach wie vor in öffentlichen Diskussionen kein Thema. Ebensowenig darf über die zahllosen Dividendenempfänger geredet werden, die fast stündlich der Vermehrung ihrer Vermögen zusehen können - ohne einen Finger zu rühren. Das wäre ja eine Neiddebatte, sowas geht gar nicht. 

Wir sind ja schließlich nicht in Schweden, wo man öffentlich einsehen kann, wer womit wieviel verdient und wo auch freimütig darüber diskutiert wird. Eine Debatte darüber würde in Deutschland schon der Informationsbeschaffung wegen die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer erfordern, denn die Reichen halten sich bekanntlich bedeckt. Aber man wird ja noch fragen dürfen: Warum soll eigentlich eine Kindergärtnerin nicht soviel verdienen wie ein BMW-Ingenieur (7.800 Euro)? Arbeitet sie nicht auch auf ihre Weise an der Zukunft unserer Verkehrsformen? Warum müssen Polizisten für 1800 Euro Leib und Leben riskieren, um Eigentum und Wohlbefinden wesentlich besser Verdienender zu schützen? Warum dürfen all jene, die durch ihre Lieferdienste die tägliche Reproduktion des Gemeinwesens aufrechterhalten, nicht auskömmlich von ihrer nervenzehrenden Hetzerei leben? Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Sie müsste vor jeder Wahl Aufmacher jedes Leitartikels und  Gegenstand jeder Talkshow sein. Ein kleiner Härtetest für unsere konsensverwöhnte Elitendemokratie. Nein? Kein Interesse?

Versuchen wir es andersherum: Dass es in einer der reichsten Gesellschaften der Welt weder für ein solidarisches Grundeinkommen noch für auch nur moderate und unbürokratische Erleichterungen der unwürdigen Lage jener, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, die geringste Akzeptanz gibt, ist sozialpsychologisch und psychopolitisch ein Skandal, den niemand als solchen zu bemerken scheint. Die Rhetorik des ständischen Separatismus im Parlament stellt dafür die erwünschten Stimmungswerte zur Verfügung: Denn was den Underdogs die Missgunst für die angeblich Bessergestellten, die fast genau soviel fürs vermeintliche Nichtstun bekommen wie sie, das ist allen anderen (Angestellten, Beamten,  Mittelständlern etc.), von deren Abgaben die Sozialleistungen finanziert werden, die Wut auf die Schmarotzer, die auf ihre Kosten leben. Die aber ist alles andere als selbstverständlich.

Warum sollte jemand, der einem einträglichen und erfüllenden Beruf nachgeht, sich auch nur eine Sekunde lang darüber ärgern, dass andere Zeitgenossen, die entweder gar nicht oder schlecht bis unbezahlt arbeiten, wenigstens mit dem offiziell errechneten Existenzminimum von 60 Prozent des Durchschnittseinkommens (1.100.-) ausgestattet werden? Das weitverbreitete Ressentiment gegen ein solches Grundeinkommen zeigt doch nur an, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung, der gern bei Umfragen seine Zufriedenheit darüber bekundet, dass die Arbeitsplätze "sicher" seien, in Wahrheit zutiefst frustriert ist, weil man entweder der falschen (ungewollten) Arbeit nachgeht bzw. diese als sinnlos oder schädlich empfindet - oder als erniedrigend, wenn man für sie überqualifiziert ist; oder weil man Gesundheit und Lebenszeit mit wechselnden, meist unnötig anstrengenden und unwürdigen Jobs für ein armseliges Entgelt verheizt; oder zwar den richtigen Beruf ergriffen hat, diesen aber unter strapaziösen Bedingungen und ohne die gebührende Anerkennung ausüben muss (in der Pflege, in Erziehung und Bildung); oder durch eine absurde Bürokratie davon abgehalten wird, seine Fähigkeiten angemessen einzusetzen (die Klage aller Krankenhausärzte, aber auch engagierter Sozialarbeiter), usw., usf..

Nur vor dem Hintergrund dieser teils unterdrückten teils uneingestandenen epochalen Unzufriedenheit, die spätestens mit den krankheitsbewehrten Spätfolgen des verpfuschten Arbeitslebens bei den Best Agern offen ausbricht, wird nachvollziehbar, warum es vom Postboten bis zum Professor, von der Friseuse bis zur Staatsanwältin, vom Dachdecker bis zum Bürgermeister keine Sympathie, keine Großzügigkeit, kein Verständnis und keine Toleranz für Grundeinkommensbedürftige gibt. Nur wer selbst ungern arbeitet, unterstellt anderen, sie würden sich am liebsten davor drücken. Nur wer selbst unter dem Joch verinnerlichter Fleiß- und Disziplindiktate stöhnt, unterstellt den davon Befreiten Faulheit. Nur wem jede Freude am Berufsleben abgeht, missgönnt anderen die Chance, erwerbsfreien Tätigkeiten nachzugehen. Dabei wissen es alle: die totale Arbeitsgesellschaft ist am Ende. Art, Umfang und Wertschätzung der Erwerbsarbeit müssen und werden sich ändern, ebenso ihre maßlose Überschätzung als Hauptquelle von Selbstwertgefühlen und Identitätsgarantie, die im übrigen - wie die epidemische Ausbreitung von Depressionen zeigt - längst aufgehört hat, ein probates Mittel gegen die Schrecknisse von Endlichkeitserfahrungen und Langeweile zu sein.

Eine auffällige Toleranz gibt es hingegen für die immer weiter klaffende Schere zwischen Arm und Reich. Pierre Rosanvallon hat in seinem Buch "Die Gesellschaft der Gleichen" auf die achselzuckende Duldung sozialer Ungerechtigkeiten, also großer Einkommens- und Vermögensunterschiede hingewiesen: ein überwältigender Teil der Bevölkerungen überall auf der Welt lehnt diese Entwicklung ab, erkennt in ihr ein gefährliches Potenzial für soziale Unruhen - aber niemand tut etwas dagegen oder denkt auch nur daran. Warum? Rosanvallon bietet hierfür manch kluge Erklärung (zum Beispiel die Kluft zwischen konkreten persönlichen Sorgen und abstrakten Moralvorstellungen), doch die naheliegende fehlt: Wohlstand macht träge. Wer sich im Hamsterrad von Leistung und Kompensation, Maloche und Konsum, Sonderschicht und SUV eingerichtet hat, wird immer "die Sicherheit des Arbeitsplatzes" zum entscheidenden Wahlkriterium erheben und für Kritik, Visionen, Initiativen gegen die Polarisierung der Gesellschaft und den sinnentleerten demokratischen Prozeduren, die diese verschärfen, unempfänglich bleiben. Und wer an der unteren Einkommensskala schuftet und sich mit dem propagierten Härte-Phantasma identifiziert, hat weder die Kraft noch die Neigung, gegen seine Daseinsenteignung aufzubegehren.

Nun fallen die modisch frisierten Durchhalteparolen - man habe wenigstens 35 Jahre lang (besser wären 45) die Vollzeitleistung zu bringen, um im Alter nicht finsterer Armut entgegenzugehen - in einer Zeit, da sich das Wachstum der Wirtschaft längst vom Wachstum der Lebensqualität abgekoppelt hat und einschlägige Umfragen belegen, dass den Menschen Verteilungsgerechtigkeit und mehr Freizeit wichtiger sind als die ungebremste Zerstörung unserer Lebensgrundlagen im Namen des Profitstrebens. In einem offenen Brief an die EU haben sogar 200 namhafte Wissenschaftler die Abkehr vom Wachstumswahn gefordert - es hilft nichts: Politiker aller Parteien setzen weiterhin auf den ruinösen Steigerungsmodus und trompeten ihre falschen Versprechen durch alle Kanäle, als befänden wir uns noch in der Aufbauphase der 60er Jahre. Und während auf Kongressen und in Thinktanks die kommende "Postwachstumsgesellschaft" entworfen wird, verkündet die Bertelsmann-Stiftung, Deutschland sei künftig auf die Zuwanderung von 260.000 Fachkräften jährlich angewiesen - damit die Wirtschaft ihre Wachstumsspirale so weiter drehen kann wie bisher.

Eine unlängst vorgestellte Harvard-Studie hat den Gender Pay Gap in einer großen Verkehrsbehörde von Massachusetts untersucht, um herauszufinden, warum selbst in einem auf strikte Lohngleichzahlung verpflichteten Unternehmen die Männer mehr verdienen als die Frauen. Die Antwort überrascht nicht wirklich: Frauen leisten deutlich weniger Überstunden, Nacht-, Wochenend- und Feiertagsschichten und sind auch nicht bereit, flexibel auf Urlaubstage zu verzichten. Lassen wir den aktuell brisanten Aspekt beiseite, dass einmal mehr der feministische Vorwurf sexistischer Diskriminierung am Arbeitsplatz widerlegt wurde, so ist festzuhalten, dass Frauen - und vieles deutet daraufhin, dass die Ergebnisse der Studie verallgemeinerbar sind zumindest für die hochentwickelten Staaten der Nordhemisphäre - durch die Setzung anderer Prioritäten genau das tun, worauf es künftig für alle ankommen wird: weniger Erwerbsarbeit und damit weniger Konsum gegen mehr Freizeit oder überhaupt mehr selbstbestimmte Zeit einzutauschen. Das ist der erste Schritt in die Postwachstumsgesellschaft.

"Postwachstum" ist ein - in Anlehnung auf das vom Club of Rome 1972 empfohlene "Nullwachstum" geprägter - Verlegenheitsbegriff, mit dem weitgehend abseits der Öffentlichkeit seit einem Jahrzehnt Phänomene diskutiert werden, die sich bei unseren Nachbarn als "degrowth", "décroissance oder "decrescita" größerer Resonanz erfreuen, während hierzulande jede Projektfantasie gegen die Suggestion zu kämpfen hat, dass Wachstum unauflöslich mit Steigerung gekoppelt ist und "Schrumpfung" nur negative Konnotationen auslöst. "Negatives Wachstum" scheint ein Widerspruch in sich. So wird etwaigen Visionen eines angestrebten Umkehrschubs sogleich der retardierende Faktor ungezählter Widerstände ebensovieler Interessengruppen eingebaut. Hätten die politisch Verantwortlichen den Mut, endlich das semantische Register zu wechseln und das Maligne des widersinnigen Endloswucherns ins öffentliche Bewusstsein zu heben, würde noch dem letzten potentiellen Krebskandidaten - also allen Menschen - schlagartig das Selbstmörderische des angeblich alternativlosen Systemzwangs deutlich.

Das Konzept der "décroissance", von André Gorz bereits 1972 unter dem Eindruck des Meadows-Berichts vorgeschlagen, erfuhr nach einer längeren Latenzphase erst in den 90er Jahren durch Serge Latouche in Frankreich und Paolo Cacciari in Italien eine bis heute anhaltende, wenn auch kontroverse Popularisierung mit Strahlkraft in den angelsächsischen Raum hinein, wo es unter anderem von Tim Jackson aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Was man auch hierzulande inzwischen, wenn auch marginal, als Degrowth bezeichnet, fängt mit der radikalen Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Besteuerung der steigenden Produktivität an, eine Steuer, mit der man problemlos die zeitökonomisch und/oder digital entlasteten Arbeitskräfte mit einem komfortablen Grundeinkommen versehen könnte.

Stattdessen werden weiterhin Milliarden Überstunden jährlich gehäuft, dank Handy und Multitasking die Reichweite der Funktionsimperative bis in Freizeit und Intimsphäre hinein verlängert. Nachhaltigkeitsrhetorik wiederum soll kaschieren, dass man, um so weiterzumachen wie bisher alle kosmetischen Korrekturen am Wachstumsparadigma in den Dienst der Effizienzsteigerung und damit wiederum des wachstumsbedingten Ressourcenverbrauchs stellt - was abermals Arbeitsplätze vernichtet oder prekarisiert, das Vermögen der oberen drei Prozent weiter vermehrt und die Armutsfallen für das untere Drittel der Bevölkerung (Wohnen, Pflege, Alter) vergrößert - von der mutwillig in Kauf genommenen Verkürzung unserer Restlaufzeit auf dem Erdball ganz zu schweigen.

In seiner vielbeachteten Berliner Rede über "Streß und Freiheit" hat Peter Sloterdijk seine Kritik des giergetriebenen Neoliberalismus nicht zufällig mit einer Erinnerung an die politische Sprengkraft des bis heute verfemten, verdrängten, wenn nicht (z. B. von den beim Vortrag anwesenden "Exzellenzen") erbittert bekämpften Freiheitsbegriff Rousseaus erinnert, demzufolge "die Freiheit des Menschen nicht darin liegt, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will". Im Spätkapitalismus ist das ein Luxus, den sich nur jene leisten können, die von Kapitalvermögen leben. Selbst Kinder werden gegen alle chronophysiologischen Erkenntnisse morgens aus ihren Träumen gerissen und noch halb benommen in die Schulen verfrachtet, wo sie die ersten Stunden unkonzentriert vor sich hin dämmern - Hauptsache, sie werden früh genug für die absurden Anforderungen einer Bauern- und Bäckergesellschaft zugerichtet. Als alternativlos sollen sie Zeitbudgets, Konventionen, Regularien, Rituale, Hierarchien, Normen und Gesetze des Arbeitslebens einüben und für gelungene Anpassung später zwischen politischen Scheinalternativen wählen dürfen. Genau besehen aber ist die einzige Freiheit des zum Arbeitstier degradierten Citoyen diejenige, nicht zu wählen.

Und warum sollten Parteien oder Repräsentanten gewählt werden, die einmal an der Macht ohne Ansehen des (ohnehin zuvor konditionierten) Wählerauftrags ihren Mandanten die Freiheit vorenthalten, keiner Arbeit nachzugehen, die sie - und den Planeten - kaputtmacht? Die stattdessen immer ungenierter die Interessen von Peergroups und Lobbys vertreten und eine selbst in Auftrag gegebene Studie zur Responsivität ihres Tuns, die genau das nachweist, kurzerhand gekürzt veröffentlichen? Leider kann auch die - ironischerweise von derselben Studie als resignative Reaktion auf solch selbstgerechtes Handeln konstatierte - Wahlenthaltung bislang nicht als Druckmittel genutzt werden, denn dazu bedürfte es einer Mindestwahlbeteiligung, die wohl nicht zufällig in der Verfassung nicht vorgesehen  ist. Gäbe es eine Mindestwahlbeteiligung (von sagen wir 80 Prozent), müssten Parteien und Kandidaten solange an ihren Programmen und ihrer Glaubwürdigkeit feilen, bis genug Wahlberechtigte sich vom Abstimmungsverhalten realistische Chancen für eine Änderung der Verhältnisse versprechen. Was sie brauchen oder nicht, was sie wollen oder nicht, würden nicht länger überbezahlte Spindoktoren soufflieren, sondern könnte durch ungeframte Online-Befragungen zwanglos ermittelt werden.

Nun ja, man wird noch träumen dürfen. Irgendwann wird jeder Härtediskurs spröde und zerbricht. Sei Wasser, mein Freund!, empfiehlt Bruce Lee. Leicht gesagt. Aber wenn das Grundeinkommen auf sich warten lässt, bleibt für Alteuropäer doch nur: morgens aufstehen, kaffeetrinken, spazierengehen, meditieren, mittagessen - und sich wieder hinlegen.

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LITERATUR

- Hans-Albert Wulf, :FAUL! Der lange Marsch in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft. Norderstedt 2016.
- Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013 (Hamburger Edition).
- David Graeber, Bullshit Jobs. Stuttgart 2018 (Klett-Cotta)
- Serge Latouche, Es reicht! Abrechnung mit dem Wachstumswahn. München 2015 (oekom)
- Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum. München 2013 (oekom)
- Niko Paech, Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in eine Postwachstumsökonomie. München 2012 (oekom)
- Richard David Precht, Jäger, Hirten, Kritiker. München 2018 (Goldmann)
- André Gorz, Wege ins Paradies. Berlin 1983 (Rotbuch); Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt/M 2000 (Suhrkamp).
- Jean-Jacques Rousseau, Träumerien eines einsamen Spaziergängers. Stuttgart 2003 (reclam). Zitat aus dem 6. Spaziergang.
- Peter Sloterdijk, Streß und Freiheit. Berlin 2011 (Suhrkamp).