Essenzen

Mit Leinen-Anzug nebst Canotier-Hut

Die Duftkolumne Von Claus Brunner
14.07.2020. Manuel Cross ist ein Duft-Archäologe. Sein Eau de Toilette "40 Rogue" ist eine Hommage auf den längst untergegangenen Duft "40 Love" von Jean Desprez. Der Duft - Nelke, Moschus, Eichenmoos und einiges mehr - weckt Assoziationen an Tennis, als dieser Sport noch weiß war. Und man seinen Körper puderte.
Die wirklich originellen Parfums seien wahrscheinlich schon alle gemacht und er glaube nicht, dass noch mal etwas lanciert würde, das sich deutlich unterscheide und einen eignen Charakter habe, behauptete vor nicht allzu langer Zeit der bekannte Parfümeur Geza Schön.

Mag sein.

Ich teile diese Sicht nicht ganz. Ob aber noch einmal ein "Jicky" oder "No5" vergleichbarer Duft in den Olymp einziehen wird, wage auch ich zu bezweifeln.

Was liegt da näher, als sich einmal in der Vergangenheit umzusehen, um vielleicht den ein oder anderen Schatz zu bergen, den die Zeitläufte verschüttet haben. Mancher einstmals gerühmte Duft überstand den Wandel der Moden nicht, ganze Häuser, die früher den Markt dominierten, verschwanden. Mitunter wurden die Rohstoffe zu teuer, oder man entschloss sich, nachdem bestimmte Inhaltsstoffe als gesundheitsschädlich erkannt wurden, auf eine Reformulierung zu verzichten - erst recht, wenn die Anzahl der Konsumenten altersbedingt überschaubar zu werden begann.

Manuel Cross, der Independent-Perfumer aus den USA, dessen Motto, oder besser: Schlachtruf "Bureaucracy Destroys Art" lautet, und der sich vehement gegen die Vorgaben der IFRA (International Fragrance Association) wehrt, indem er sie schlicht ignoriert, hat sich der Bergung einiger dieser Schätze verschrieben.

Foto: Claus Brunner
Die "Resurrection N° 1" gilt einem Duft, den Jean Desprez im Jahr 1947 unter dem Namen "40 Love" herausbrachte (mehr zu Desprez hier). Ursprünglich als Unisex-Duft vermarktet, verschwand er zu Beginn der siebziger Jahre, wurde aber ab 1975 von "Alfin Frangrances Inc.", unter dem Namen "40 Love pour Homme/for Men" als Eau de Toilette, Eau de Cologne und Aftershave bis in die Mitte der achtziger Jahre erneut vertrieben. Seither sind nur noch klägliche Reste zu Mondpreisen im Umlauf, allesamt vermutlich hoffnungslos überlagert.

Mit "Chypre Siam" hat Manuel Cross schon Cotys legendäres "Chypre" als ziemlich freie Interpretation wiederbelebt - eine Art Huldigung auf Augenhöhe. Und genau das ist es, wonach er strebt: keine einfachen Knockoffs, sondern eigenständige Werke im Geiste der Klassiker, die dennoch seine eigene Handschrift erkennen lassen.

Als Hommage ist auch die "Resurrection N° 1" zu verstehen, nicht als Replik. Eine solchen hätte er tatsächlich haben können, als er Reste des alten Duftes in einem Labor auf ihre Zusammensetzung hin untersuchen ließ. Die Ergebnisse dienten ihm schließlich als Roadmap zu seinem eigenen Duft, seiner Verbeugung vor "40 Love", zu "40 Rogue".

Was "40 Love" bedeuten solle, war mir zunächst nicht ganz klar. Dass der Duft eine Ode an seine Entstehungszeit sein sollte, erschien mir angesichts von Krieg und Verwüstung, die einen Großteil dieses Jahrzehnts prägten, eher abwegig, zumal dem Flakon, vorausgesetzt, die "Resurrection N° 1" kommt dem Original halbwegs nahe, so gar nichts Offensives entweichen will. Es sei denn - und das könnte passieren - man fühlt sich von einer Puder-Bombe erschlagen.

Nein, tatsächlich ist "40 Love" ein Begriff aus dem Tennis. Verkündet die Schiedsrichterin oder der Schiedsrichter "40 Love", so lautet der Spielstand 40:0.

40 Love: Historischer Flakon.
Was der Begriff "Love" mit Tennis zu tun hat, scheint nicht eindeutig geklärt. Plausibel klingt für mich aber, dass der Ausdruck der englischen Redewendung "to do something for love" entstammt, etwas umsonst, für die Ehre tun. Wer mit "Null" vom Platz ging, "did it for love", hatte, wenn schon keinen Punkt, so doch die Ehre auf seiner Seite.

Doch so wenig "40 Rogue" duftenderweise Schlachtenlärm vermittelt (da halte man sich eher an "Vi Et Armis" von "Beaufort London"), so wenig taugt er unseren heutigen, von unzähligen "Cool Water"-Klonen konditionierten Nasen als Sport-Duft.

Wer sich mit "40 Rogue" besprüht, der riecht nämlich nicht, als käme er (oder sie!) nach ausgiebiger Dusche, begleitet von ozonischen und maritimen Duftwolken, geradewegs aus der Umkleide eines Tennisheims. Vielmehr lässt der Duft in mir das Bild von jemandem entstehen, der morgendlich seine aromatischen Stellen mit kerniger Seife reinigt, diese ordentlich überpudert ("Felce Azzurra" lässt grüßen!), anschließend mit einem hellen Leinen-Anzug nebst Canotier-Hut bekleidet zum Barbier eilt, wo man ihm nach der Rasur sanft ein frisches Cologne auf die Wangen klatscht und ausgiebig Haarwasser in die Kopfhaut massiert.

So riecht "40 Rogue" für mich: nach Seife, nach Puder, nach frisch-krautigem Cologne, nach Körper, und sogar ein ganz klein wenig nach Sex.

Nach Sport? Nicht eine Sekunde.

Schon immer hat mich gewundert, dass Estée Lauders Duft "Aliage", diese gigantische Puderwolke von 1972, den Untertitel "Sport Fragrance" oder "Sport Perfume" trug.

Aber genau das ist es: sportlich bedingtem Odeur rücken wir heute ganz anders zu Leibe als noch vor einigen Jahrzehnten. Damals, als Sport in aller Regel Freizeitvergnügen war und längst noch nicht so kampfbetont, war Puder tatsächlich das Mittel der Wahl.

Sehe ich mir dann Fotos früherer Tennislegenden wie Gottfried von Cramm oder Suzanne Lenglen an, kann ich mir durchaus vorstellen, dass man derart elegant gewandet frischen Schweiß einfach mal ein bisschen abpuderte - reichte doch! Schließlich warf man sich noch nicht triefnass bäuchlings in den roten Sand von Roland Garros, um aufstöhnend den letzten Ball zu retournieren.

1947 war der Sport tatsächlich noch "weiß": weiße Sportbekleidung, weiße Bälle, weiße Kreidemarkierungen, weißes Körperpuder in den Spinten der ausnahmslos - das nur mal am Rande! - weißen Spieler.

Und Weiß ist tatsächlich die Farbe, die ich mit "40 Rogue" assoziieren würde. Ähnlich wie das viel animalischere "Kouros" vor meinem inneren Auge Weiß projiziert, oder Olivia Giacobettis letzter Geniestreich "Talc". "Weiße Düfte", deren innere Spannung aus dem Kontrast von deutlichen pudrigen Nuancen über pulsierender, erregter Körperlichkeit entsteht: hier der frische Sportschweiß unter weißer Bügelfalte, dort der brünftige Hedonismus der frühen achtziger Jahre in zerwühlten weißen Laken, bis zum feingliedrigen Muskelspiel weiß geschminkter, statuarisch wirkender Butoh-Tänzer.

Nelke, Moschus und Eichenmoos bilden den Dreiklang, der zur Entstehung des weißen Duftbildes in "40 Rogue", alias "40 Love" beiträgt. Lavendel, Pinie, Galbanum, Heu, Sandelholz und Vetiver dürften aber ebenso mit von der pudernden Partie sein, zumindest waren sie es wohl bei "40 Love". Gemeinsam intonieren sie einen wunderbar altmodischen Duft-Sound, der allerdings - ganz klassische Komposition - doch einiges mehr zu bieten hat als die vielen heute so beliebten monothematischen Duftsound-Schnipsel.

"40 Rogue" startet mit einem luftig-frischen Akkord von seifigen Aldehyden in Chanelscher Intensität, untermalt von bitter-fruchtigen Hesperidien und der grün-aromatischen Würze eines provençalischen Kräutersträußchens. Im Herzen entfaltet ein dezentes Blütenbouquet seine feinen floralen Aromen, während untergründig die dicht gewebte Textur eines Eichenmoos-Labdanum-Sandelholz-Teppichs entrollt wird.

Chypre oder Fougère?

Ich würde sagen, beides. Manuel Cross nennt ihn mal "a soft masculine chypre", dann wieder "a bracing fresh fougère". Der pudrige, seifig-frische Grundton erinnert mich jedenfalls sehr an Barbershop-Klassiker wie Fragonards "Zizanie", oder Fougère-Größen wie "Brut" von Fabergé.

Düfte, die mit animalischen Beigaben zwar nicht geizen, vor allem nicht "Zizanie", diese aber so einbinden, dass sie gar nicht weiter auffallen. Nicht so "40 Rogue", der während des gesamten Verlaufes von deutlichen Moschus-Fahnen und leisen Zibet-Anklängen durchzogen wird. "I toned down the animalic aspects by almost half - but no worries! The animalic note is still quite present", berichtet der Parfümeur. Ursprünglich muss "40 Love" also eine ziemlich tierische Angelegenheit gewesen sein. Die heutige, heruntergedimmte Fassung, sollte allerdings verkraftbar sein, erst recht für uns Europäer, "because they are used to smell funky" wie mal ein Basenoter ("Basenotes", englischsprachiges Parfum-Forum) bemerkte - sind wir doch Kaliber gewohnt, die in den USA zuverlässig für Platzverweise und Ohnmachtsanfälle sorgen: "Kouros" sei erneut erwähnt.

Hier kommt also die zweite Seite des Kontrastpaares Köper/Puder ins Spiel: der Körper. Während "Kouros" mit einer deftigen Portion "Animalis" ausstaffiert wurde (eine "Base" genannte Mischung tierischer Sekrete der Firma Synarome), um seinen erotischen Vibes ordentlich Schmutz und Laszivität mitzugeben, bleibt "40 Rogue" schlanker, deutet sein sexuelles Potenzial nur an und lockt damit, statt es schamlos aus geöffneter Hose heraushängen zu lassen. Giacobettis "Talc" wiederum sublimiert die körperlichen Reize mit dem feinen Moschus-Hauch der Ambrettesamen so sehr, dass sie nur noch als künstlerische Idee von Erotik wahrnehmbar sind.

So spannend der Duftkosmos ist, den Manuel Cross hier durchschreitet, "40 Rogue" wird auf viele vermutlich altbacken wirken. Da er seine Werke aber ausdrücklich "Non Commercial Non Contemporary Fragrances" nennt, darf davon ausgegangen werden, dass ihm das herzlich egal ist.

Als Duft-Archäologe genießt er ohnehin weltweit einen Sonderstatus, der ihn in der Community, unter den "Frag-heads" wie er sie nennt, zu einer Art Messias macht, mit dem "die gute alte Zeit" wenn schon nicht wieder aufersteht, so doch zumindest in die Verlängerung geht.

Wer sich allerdings über eine hippe, smarte und urbane Duftsprache vernetzen möchte, wird hier definitiv nicht fündig. Duft-Nostalgiker aber, die dem synthetischen Einheitsbrei und der omnipräsenten funktionalen Parfümerie entrinnen wollen, dürften von Manuel Cross" Kreationen begeistert sein. Die kleinen Flakons sind wahre Zeitmaschinen: schließt man die Augenlider, wie man sie meist unwillkürlich schließt wenn man intensiv an etwas riecht, kann es passieren, dass die entweichenden Aromen augenblicklich eine Schwarzweiß-Filmsequenz mit Laureen Bacall und Humphrey Bogart auf das Innere der Lider zaubern - großartig!

Claus Brunner
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