Fallende Blätter

Das Karussell der immergleichen Protagonisten

Von Daniele Dell'Agli
07.10.2003. Nein, es gibt wahrlich keinen Grund, um dieses Feuilleton zu trauern. Einige erbitterte Erwägungen.
Dank Perlentaucher kann man an dem von Thomas Steinfeld angezettelten Hallenser Treffen über das Feuilleton und der dort verhandelte Debatte simulativ teilnehmen. Unsere Leser setzen die Diskussion um das Feuilleton fort (eine Übersicht mit allen Artikeln). Hier ein Beitrag von Daniele Dell'Agli.

Das Adorno-Jahr ist um und die wichtigste Frage, die sein Werk dem Feuilleton aufgibt, wurde nicht gestellt: hätte Adorno, tauchte er als Niemand auf, heute eine Chance? Würde irgendein Redakteur, gleich welcher Zeitung oder Zeitschrift einen Adorno-Essay veröffentlichen? Gibt es, anders gefragt, in diesem Kulturbetrieb ein Forum, wo für intellektuell ambitionierte Texte, die sich nicht durch schnelles Überfliegen bei Espresso und Croissant erschöpfen und deren Analysen über den aktuellen Anlass ihrer Entstehung hinaus Gültigkeit bewahren, Aufmerksamkeit erzeugt wird? Wer die rhetorische Absicht dieser Frage wittert, tritt die Flucht nach vorn an und verweist darauf, dass es hin und wieder doch Beiträge dieses Typs im Feuilleton zu lesen gibt, nennt eine Handvoll auch international gut klingender Namen - und geht doch in die Falle. Denn es geht nicht darum, ob ein vielfacher Suhrkamp-Autor, Preisträger, Professor, Medienstar etc. im Feuilleton sich auf seinem Denk- und Schreibniveau bewegen darf, sondern darum, ob jemand ohne diesen Status-Dekor eine Chance hätte, für Zumutungen an das Zweimallesen, an das Mit- und Selbstdenken Zugang zur Öffentlichkeit bekäme. Offensichtlich nicht, denn sonst müssten einem für diese Möglichkeit andere Kronzeugen als die immergleichen Großkopferten einfallen.

Es geht also um ein Spiel mit zwei ineinander verzahnten Variablen und man kann es mit beliebig anderen Protagonisten und Gattungen durchspielen (mathematisch geschulte Statistiker mögen die Wahrscheinlichkeiten auszurechnen): welche Chancen hätte ein Celan heute zu debütieren? Sicher, ein obskurer Kleinverlag findet sich fürs Schwerlesbare immer, wird man einwenden. Aber eben, nur ein "obskurer": weil ein Kleinverlag keine Öffentlichkeit bietet, das dort Publizierte im Dunkeln bleibt, also gerade nicht "erscheint". Unter allen lebenden Autoren genießt einzig Botho Strauß das Privileg, nicht aufgrund von Attributen wie "schwierig", "überdeterminiert" oder "dunkel" sogleich aussortiert zu werden. Als Newcomer hätte auch er selbstverständlich nicht die geringste Chance.

Denn auch hier, auf der Ebene der Rezensionen, der Statuskomplex: wer nicht bei Suhrkamp-Hanser-Rowohlt-Fischer plus neuerdings Dumont publiziert, darf nicht damit rechnen, auf dem Redaktionstisch überhaupt wahrgenommen zu werden, schon deshalb nicht, weil die anderen Verlage kaum Anzeigen schalten. Nehmen wir noch Quartalsemergenzen wie Klett, Piper und Kiepenheur & Witsch sowie Alibi-Außenseiter wie Droschl, Residenz und Engeler dazu, dann finden wir ein Dutzend von angeblich 1200 Literaturverlagen, also gerade mal ein Prozent in den Literaturseiten repräsentiert: das ganze Gerede um Konzentration auf dem Buchmarkt dient also dazu, die schon längst in den Köpfen, Briefkästen und Prospekten erfolgte Selektion zugunsten eines Präferenzkartells zu verschleiern.

Das ist nur scheinbar ein anderer Schauplatz, denn diese Vorauswahl auf dem Buchmarkt treibt wiederum das Karussell der immergleichen Protagonisten im Feuilleton an: Wer was wann wo in welcher Länge zu welchem Tarif und mit welcher Resonanz in diesem Land veröffentlichen darf, das bestimmt einzig sein Status. Dieser bemisst sich nicht nach der Qualität der jeweiligen Produktion, sondern einzig nach Ort und Anzahl der zuvor bereits angehäuften Bonusbesprechungen, die zugleich auch die anderen Schleusen der Stipendien- und Preisvergaben, der Einladungen zu Vorträgen, Lesungen und Rundfunkbeiträgen steuern, wobei es sich von selbst versteht, dass in den jeweiligen Kommissionen Jahr ums Jahr dieselben Entscheidungsträger sitzen, die mit den Rezensenten, welche zuvor mit den Verlagslektoren usw. usf....

Der mal gegeißelte, mal belächelte intrigante Promi-Zirkus der Talk-Shows findet längst in den auf Seriosität bedachten Redaktionskonferenzen des Edelfeuilletons statt und es sind pikanterweise dieselben Leute, die nicht müde werden, über unstatthaften Selektionsdruck von der Gentechnologie über Insidergeschäfte bis zur politischen Korruption zu schwadronieren, die zugleich den Aufmerksamkeitsbonus für Artefakte just nach denselben inkriminierten Verfahren verteilen. Denn im Zeitalter kultureller Überproduktion geht es nur noch um sozialdarwinistische Zuchtwahl, also um Ranglisting und Exklusivitätsmanagement, um berechnete Rückkloppungen und Vorteilsannahme.

Connections, Filz, Proporz, Lobbyismus, Präferenzkartelle, das sind Symptome eines Statusfetischismus, das im Zeichen des Matthäusprinzips - "Nur wer hat, dem wird gegeben" -die intellektuelle Substanz des Feuilletons mehr ausgehöhlt hat als der von Steinfeld angeführte, letztlich ökonomisch induzierte Strukturwandel der Medien. Der hier angedeutete mentalitätsgeschichtliche Zerfallsprozess greift tiefer und gehört in den von Sennett zuerst beleuchteten Kontext einer "Tyrannei der Intimität". Unausweichlich ist dieser Vorgang schon deshalb, weil angesichts steigender Textangebote bei gleichzeitiger kulturalistischer Relativierung verallgemeinerungsfähiger Kriterien zu ihrer Qualitätsbestimmung den Redaktionen nichts anderes übrig bleibt, als die Distributionsmechanismen wie beschrieben zu refeudalisieren.

Selbstzerstörerisch sind seine Auswirkungen a la longue, weil sie auf eine systemische Zensur hinauslaufen. Dieser in liberalistischen Gesellschaften hochgradig tabuisierte Begriff ist nicht übertrieben, wenn man sich vergegenwärtigt, welch geistige Ressourcen der Öffentlichkeit mutwillig vorenthalten werden, wenn nur Markenautoren gestattet wird, das Standardpensum von mainstreamkonformen zehntausend Zeichen zu überschreiten; wenn also die Entwicklung komplexer Zusammenhänge und gar erst die polemische Zuspitzung bieder breitgetretener Themen an einen Zelebritäts-Ausweis geknüpft wird. Seiner Signalwirkung zuliebe darf sogar - entsprechende Ranghöhe und somit Satisfaktionsfähigkeit vorausgesetzt - gegen Korrektheitsgebote verstoßen oder ein solcher Verstoß angezeigt werden, der Skandal und damit die Auflagensteigerung sind damit programmiert. Allein der - ohne jeden sachlichen Anhaltspunkt losgetretenen - Schlammschlacht um Martin Walsers Kritiker-Satire sind im vergangenen Jahr drei Wochen lang rund hundert andere Beiträge zum Opfer gefallen, mehr als jede profitmotivierte Schrumpfung des Zeitungsmarkts in demselben Zeitraum hätte verursachen können.

Unter den vielfältigen Formen der Zensur, die der Verfasser dieses Nachrufs im vergangenen Jahrzehnt, also zur "Blütezeit des Feuilletons" gewärtigen musste, bleibt ihm als perfideste jene einer Wochenzeitung in Erinnerung, die einen seiner Essays unter der Auflage erheblicher Kürzungen erst angenommen, dann den Zeitpunkt des Erscheinens monatelang verschleppt und schließlich sogar ein Honorar bezahlt hat, um endlich Ruhe vor den lästigen Nachfragen des Autors zu haben und den Text für immer aus dem Verkehr zu ziehen (eine für das renommierte Intelligenzblatt nicht unübliche Praxis, wie man mir versichert). Warum dieser Beitrag zu einem aktuellen und brisanten Thema - es geht um das Verhältnis personaler, lokaler, regionaler, nationaler, europäischer und globaler Identität - anschließend selbst in gekürzter Fassung auch in keiner anderen Zeitung und keiner Zeitschrift erscheinen durfte, ist eine Frage, die sich jeder selbst beantworten möge. Ebenso die Frage, was von einem Kulturbetrieb und seinem öffentlichen Auftrag zu halten ist, der glaubt es sich leisten zu können, auf unverbrauchte Argumente zu einem so zentralen und doch seit Jahren uninspiriert bis fahrlässig zerschwatztem Problem zu verzichten. Ob eine befriedigende Erklärung ohne Rückgriff auf die hier skizzierte Dekadenztheorie des Feuilletons als feudale Agentur zur Zuteilung von Publikationslizenzen nach Maßgabe von Statuszugehörigkeit möglich ist, darf bezweifelt werden.

Nein, es gibt nach alledem wahrlich kein Grund, um dieses Feuilleton zu trauern. Wer nun, so darf abschließend gefragt werden, wird dem Untergang dieses Feuilletons nachtrauern? Wenn es stimmt, dass es vornehmlich von Leuten gelesen wird, die selbst schreiben und somit größtenteils einer ähnlichen Dauerfrustration ausgesetzt sind wie der Verfasser dieses Nachrufs, wird sich der Trauerzug in Grenzen halten. Adorno, soviel steht fest, wäre so oder so nicht dabei.