Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2001.

TAZ, 03.04.2001

Brigitte Werneburg hat in der Evangelischen Akademie in Tutzing einer prominent besetzten Tagung über 68 zugehört. Unter anderem waren Friedbert Pflüger und Konrad Adam dabei. Aber eine qualifizierte konservative Position zum Thema musste Werneburg missen: Für Pflüger und Adam "ist 1968 eine neue, zweite 'deutsche Vergangenheit'. Und da sind Schuldbekenntnisse gefordert und Vergangenheitsbewältigung. Friedbert Pflügers Einlassungen an diesem sonnigen, frühlingshaften Sonntagmorgen am Starnberger See waren recht besehen ein Desaster. Denn es stellte sich heraus, dass eine vollkommen legitime konservative Position nirgends in die CDU/CSU, in keinem ihrer Teile, vertreten ist. Das politische Feld wird vollständig den Meyers, Kochs und Stoibers überlassen, ihrem reaktionären Rechtspopulismus, mit dem sich Pflüger in seinem Fischer-Skinhead-Vergleich geistig kurzschließt."

Besprochen werden eine Ausstellung der Sammlung von Wilhelm Schürmann in Dortmund und einige Bücher, darunter ein Band mit literarischen Essays von Gilles Deleuze.Ferner war Volker Weidermann dabei, wie Hans Eichel in Berlin ein "Euro-Zelt" einweihte, und Maxi Sickert schreibt einen Nachruf auf John Lewis.

Schließlich Tom.

FR, 03.04.2001

Viel zu spät kommt die Verhaftung Milosevic' für den in Kroatien lebenden Schriftsteller Nenad Popovic: "Sie hätte ihren Sinn vor Jahren gehabt, als er der General des postjugoslawischen Infernos war. Da hätte eine Anklage als Kriegsverbrecher oder die Verhaftung tausendfachen Tod verhindern können, zehntausendfachen Verlust an Beinen, Armen, Augen. Jedoch, vor acht, vor sechs, vor drei Jahren noch war Slobodan Milosevic ein respektierter politischer Partner. Ein feierlicher Unterzeichner des Daytoner Friedensvertrages, zum Beispiel. Ach, wie stolz schüttelten sie ihm die Hände: Mitterrand, Chirac, Kohl, Jelzin, der britische Premierminister und der US-Präsident. Trotz Vukovar, trotz Sarajevo, trotz Westbosnien und seiner KZs, trotz millionenfacher ethnischer Verfolgung, trotz Kosovo."

Reiseimpressionen Kurt Scheels, der bei einer Journalisten- und Schriftstellerreise nach Kaliningrad dabei sein durfte: "Wenn die Frühlingssonne scheint und wenn man ein höflicher Besucher ist und wenn man keine persönlichen oder familiären Erinnerungen mit Königsberg verbindet, dann sieht der Platz in Kaliningrad, auf dem einmal das Schloss stand, gar nicht so abscheulich aus, wie man erwartet hatte."

Weitere Artikel: Adam Olschewski weist auf die Deutschland-Tournee von Paul Weller hin. Hans Wolfgang Hoffmann kommentiert die Entscheidung für den Wiederaufbau der Berliner Stadkommandantur für Bertelsmann ? Gütersloh Unter den Linden. Besprochen werden die Pariser Ausstellung "Les annees pop" (mehr dazu hier), "Frühlings Erwachen" in Wien", die Rauriser Literaturtage, Musik von Galina Ustwolskaja im WDR Köln und das 8. Filmfestival "femme totale" in Dortmund.

NZZ, 03.04.2001

Griechenland ist in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Seine innere Zerrissenheit so schreibt Barbara Spengler-Axiopoulos in einem melancholischen Zeitbild, ist im Ausland weithin unbekannt. Zur Illustration zitiert sie den Lyriker Giorgios Seferis: "Oft zieht in seinen Gedichten eine Gruppe von Reisenden durch den zerfallenden helladischen Lebensraum: 'Irrende zwischen zerborstenen Steinen seit drei- oder sechstausend Jahren / Stocherer in geborstenem Bauwerk das leicht unsereigenes Haus wär'."

Dorothea Dieckman setzt sich mit der Welle der RAF-Literatur in Deutschland auseinander. Besonders schlecht schneidet dabei Leander Scholz' "Rosenfest" ab: "Die spektakulärsten Daten aus fünf Jahren kompiliert er zu einem pointenrasselnden Bürgerkriegsmarsch von wenigen Wochen und lässt darüber das Bonnie-und-Clyde-Motiv ertönen."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann beschreibt "neue Produktionen und Perspektiven der Brüsseler Oper". Besprochen werden Goyas Zeichnungs-Alben in einer Londoner Ausstellung, eine Düsseldorfer Ausstellung über den Rhein in der Literatur und einige Bücher, darunter Catalin Dorian Florescus Roman "Wunderzeit". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 03.04.2001

Beqe Cufaj, der kosovo-albanische Schriftsteller bekennt, dass ihm Milosevic leid tut: "Jeder Mensch ist in gewisser Weise ein Produkt seiner Umgebung. Dies gilt auch für den serbischen Ex-Diktator. Er war nicht denkbar ohne die serbische Bevölkerung und die serbischen Intellektuellen, die ihn hervorgebracht haben. Dass er sich bald nicht mehr um jene scherte, denen er seine Position verdankte, und noch weniger um andere Völker, hatte er mit anderen Diktatoren gemeinsam."

Zhou Derong erzählt, warum China die Meldung von dem chinesisch-amerikanischen Militärzwischenfall erst abends brachte, obwohl er sich morgens zutrug: Man hatte Angst vor patriotischen Demonstrationen der Studenten. "Doch zu dieser Zeit ist es für jede Demonstration, welcher Art auch immer, schon zu spät. Denn dazu braucht man eine polizeiliche Genehmigung, und die zuständige Stelle ist längst geschlossen. Natürlich kann man sich seinen Ärger über die amerikanischen Aggressoren immer noch im Internet von der Seele schreiben, was auch auf den Webseiten wie washeng.com oder sina.com.cn kräftig geschehen ist. Wer hier Dampf abgelassen hat, verspürt aber nicht mehr das Bedürfnis, auf die Straße zu gehen. Also hat die Partei eine ruhige und friedliche Nacht."

Dieter Bartetzko beschreibt die Arbeit von Herzog & de Meuron: "Es brodelt Lust unter der Last und Leidenschaft in der Askese."

Christian Geyer fürchtet, dass bei den biopolitischen Debatten im Bundestag nicht im Interesse der Vierzeller entschieden wird: "Augenscheinlich will man die offene Auseinandersetzung um die gesellschaftlich umstrittenen Projekte der Lebenswissenschaften dadurch umgehen, daß eine große Koalition der Durchwinker derartige Projekte mit der rechtlichen Konstruktion 'rechtswidrig, aber straffrei' auf dem Schleichweg in die Welt setzt."

Die ambitionierten Pläne der Los Angeles Opera, deren künstlerischer Leiter Placido Domingo ist, schildert Jordan Mejias: Eines der spektukulärsten Projekte "ist Wagners 'Ring', eine Erstaufführung für Los Angeles. Peter Mussbach führt Regie, und Industrial Light & Magic, das vom 'Star Wars'-Barden George Lucas gegründete Studio für 'special effects', liefert die Ausstattung. William Friedkin, der Meister des 'Exorcist', darf sich zuvor an Bartoks 'Herzog Blaubarts Burg' und Puccinis 'Gianni Schicchi' versuchen. Maximilian Schell, auch er filmisch nicht ganz unerfahren, denkt derweil über den 'Lohengrin' nach."

Martin Kämpchen erzählt von indischen Pressereaktionen auf die Zerstörung der Bamiyan-Buddhas. Vielfach wurde daran erinnert, dass in Indien 1992 die Babri-Moschee in Ayodhya zerstört wurde und die Regierung dabei eine unrühmliche Rolle spielte: "'Es ist bequem, die dunkelsten Energien der Menschheit in entfernten, dämonisierten Gruppen zu lokalisieren, anstatt ihre Manifestationen kritisch bei sich selbst wahrzunehmen', bemerkte der Telegraph. Der politische Aktivist Swami Agnivesh schrieb in der Times of India von einer 'Ironie' in der 'heftigen Verurteilung der Taliban-Abenteuer' durch die Regierungspartei: 'Es beweist wieder einmal, dass die bitterste Opposition zwischen zwei identischen Kräften besteht.'

Weitere Artikel: Florian Rötzer erzählt von neuesten wissenschaftlichen Spielstudien, die herausfinden wollen, ob der Mensch ein Egoist sei und zu dem umwerfenden Ergebnis kamen, dass sich Menschen unterschiedlicher Kulturen sich unterschiedlich verhalten. Jürgen Kaube sieht die Grünen mit Fritz Kuhn im Konsens verschwinden. Wolfgang Sandner schreibt einen Nachruf auf John Lewis, den Pianisten des Modern Jazz Quartet. Wolfgang Pehnt beichtet, dass das architekturhistorisch berühmte Haus Sonneveld in Rotterdam zum Museumsstück wird. Friedrich Dieckmann porträtiert die bibliophile Berliner Dronte-Presse. Martin Ebel hat einer Tagung jüdischer Gegenwartsautoren in Freiburg zugehört. Dokumentiert wird die Laudatio von Joachim Kalka auf Brian Boyd, der für seine Nabokov-Biografie den Einhard-Preis erhalten hat.

Im Medienforum schildert Sonja Zekri die Mode der Netzwerkpartys, bei denen sich meist männliche Computerspiele in riesigen Fabrikhallen treffen um gegeneinander anzutreten: "Planet-LAN.de, das größte unabhängige Portal für Netzwerk-Partys im deutschsprachigen Raum, verzeichnet heute hundertvierzig Veranstaltungen pro Monat, vor allem in Ballungszentren wie dem Ruhrgebiet; vor einem Jahr waren es gerade vierzig. Knapp hunderttausend junge Männer umfasst die Szene." Ferner geht's um Familienshows im türkischen Fernsehen und die Abdankung des Welt-Fernsehkritikers Josef Nyary.

Besprochen weden "Frühlings Erwachen" in Wien, eine Ausstellung des Bildhauers Henri Laurens in Bielefeld, Genet-Spektakel von Ismael Ivo und Koffi Koko in Stuttgart und das Stück "Drei Mal Leben" in Hamburg.

SZ, 03.04.2001

Katzenjammer in Kalifornien, meldet Petra Steinberger: "In Hollywood drohen Streiks der Drehbuchschreiber und vielleicht sogar der Schauspieler. Die Energiekrise ist noch lange nicht gelöst... Die Wasserreserven werden knapp. Eine Schulschießerei nach der anderen trägt sich ausgerechnet in den angeblich prosperierenden Mittelklasse-Suburbs von San Diego zu... Das Schulsystem gilt als eines der heruntergekommensten in ganz Amerika ? was etwas heißen will. Die Dot.coms in Silicon Valley entlassen, entlassen, entlassen... Und Nicole Kidman und Tom Cruise haben sich getrennt." Aber Petra Steinberger ist optimistisch: "Die zyklisch wiederkehrende Krise ist die für jede Erneuerung notwendige Nachtseite Kaliforniens, ohne die die andere nicht existieren könnte."

Niklas Maak charakterisiert die Arbeit der Basler Architekten Herzog & de Meuron, die den Pritzker-Preis erhalten haben: "Von weitem sieht bei Jacques Herzog und Pierre de Meuron immer alles sehr simpel aus, ernüchternd einfach wie ein betongewordener reiner Gedanke ? aber dann, wenn man der Sache näherkommt, entdeckt man immer wieder ein Labyrinth von Tricks und Überraschungen: In kaum einem anderen Architekturbüro wird mit einer so panischen Energie an Nuancierungen gearbeitet, an unmerklichen Verschiebungen einer Materialchoreografie ? und eigentlich erinnert die Arbeit der 1950 geborenen Architekten weniger an die eines knochentrockenen Ingenieurs als an die eines Parfumeurs, der sich den unsichtbaren Wirkungen der Oberflächen verschreibt."

Richard Chaim Schneider berichtet über einen großen Bildband mit Privatfotos von Auschwitz-Häftlingen: "Seit 1995 arbeiten das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau zusammen mit dem Frankfurter Fritz-Bauer-Institut und dem Holocaust Memorial in Washington an der Erforschung der genauen Herkunft der Bilder und des Schicksals der auf ihnen abgebildeten Menschen. Im Zuge dieser Recherchen gelang es, 600 Menschen auf den Fotos wieder einen Namen zu geben. Man hofft, dass es noch mehr werden."

Weitere Artikel: Sven Siedenberg porträtiert Dörte Lyssewksi, die heute Abend in Bochum in Botho Strauß' "Der Narr und seine Frau" von Botho Strauß die viel erwartete Hauptrolle spielt. Helmut Mauro interviewt den Prominenten-Anwalt Peter Raue, der die designierte, aber noch längst nicht gewordene Bayreuth-Chefin Eva Wagner-Pasquier (und das Interview fängt so an: "SZ: Wahrscheinlich können Sie im Moment noch gar nicht viel sagen, oder? Raue: Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen: Ich kann Ihnen überhaupt nichts sagen.")

Besprochen werden Wedekinds "Frühlingserwachen" am Wiener Akademie-Theater, eine Potsdamer Konferenz über die Rolle der Zeithistoriker, der Film "Solas" und, in Kurzkritiken, der Film "Uneasy Rider", eine Ausstellung des holländisch-britischen Künstlers Kendell Geers (mit Leichensäcken) in Stuttgart und eine CD mit Werken des Bach-Zeitgenossen Jan Dismas Zelenka.