Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2001.

FAZ, 20.04.2001

Heinrich Wefing kommentiert die erste öffentliche Expertenanhörung zur Frage, ob und wie das Berliner Schloss wiederaufgebaut werden soll. Die Sache scheint ganz entspannt gelaufen zu sein. "Sogar der unendliche Streit um die Fassaden scheint an Schärfe zu verlieren. Niemand fordert mehr einen totalen Neubau, der jede Erinnerung an das zerstörte Schloss neuerlich tilgt, und niemand, nicht einmal von Boddien, beharrt auf einer vollständigen Rekonstruktion. Gerungen wird nur mehr um das Verhältnis von alt und neu, von Tradition und Innovation."

Zugleich wird das Plädoyer Peter-Klaus Schusters dokumentiert. Der Chef der Staatlichen Museen zu Berlin will bekanntlich sämtliche bedeutende Sammlungen auf der Museumsinsel und dem Schlossareal konzentrieren: "Das Plädoyer für eine singuläre Museumskonzeption im Dialog zwischen Schloß-Areal und Museumsinsel liefert jedoch wenig Antworten auf die Frage, 'in welchem Stil sollen wir bauen?'. Vielmehr versucht dieses Plädoyer eine Antwort auf die Grundfrage, was sollen wir dort überhaupt bauen? Oder, pointierter noch: Was wäre für die Bundesrepublik Deutschland angemessen, dort zu bauen?"

Die PDS hat sich bei der SPD für die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der sowjetischen Zone nach dem Krieg entschuldigt. Mark Siemons illustriert die historische Dimension der Angelegenheit mit einem Zitat. "Die Entschuldigung... ist keine Entschuldigung wie jede andere. Es genügt, die offizielle Darstellung des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR aufzuschlagen, um den Status jenes Ereignisses zu begreifen, das die PDS-Spitze nun bedauert: 'Die Einigung der Arbeiterklasse war die größte Errungenschaft in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des deutschen Volkes seit der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifestes und der Gründung der KPD', heißt es dort."

Maja Turowskaja porträtiert den russischen Schriftsteller B. Akunin, der mit raffiniert gebauten "Retrokrimis" Erfolge beim Publikum feiert: "Lange wurde gerätselt, wer sich wohl hinter dem modifizierten Namen des großen Anarchisten Bakunin verberge. Schließlich stellte sich heraus: Es ist Grigori Tschartischwili, damals noch Stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift Inostrannaja literatura, Übersetzer aus dem Japanischen... und Verfasser eines Buchs über den literarischen Selbstmord."

Weitere Artikel: Der marokkanische Journalist Souad Mekhennet erzählt, dass die Hoffnungen auf eine Demokratisierung und eine Abschaffung der Zensur in Marokko nach der Thronbesteigung Mohammeds VI. langsam schwinden: Die Zeitschrift Le journal ist von Schließung bedroht, die Tabuthemen bleiben die gleichen wie zuvor (hoffen wir, dass sich die Internetadresse der Zeitschrift heute morgen nur aus technischen Gründen nicht ansteuern ließ). Sonja Margolina liest russische Zeitschriften, in denen es um die Zukunft von Kaliningrad geht. Zhou Derong porträtiert einen Buchhändler aus Schanghai, der fünf Buchhandlungen und 15 Zeitungskioske besitzt: Wer in Schanghai gute Bücher sucht, sollte nicht in die offiziellen Paläste gehen, meint Zhou, sondern zu Jifeng. Hansjörg Küster freut sich, dass der Mittelrhein in die Erbeliste der Unesco aufgenommen werden soll. Jordan Mejias schreibt über eine amerikanische Studie, die herausgefunden hat, dass E-Mail-Englisch der gesprochenen Sprache näher steht als der geschriebenen. Siegfried Stadler schildert den Fortgang der Bauarbeiten am Leipziger Bildermuseum. Und Gina Thomas berichtet über Benefiz-Veranstaltungen für die darbende britische Landwirtschaft.

Besprochen werden eine Ausstellung der in Auschwitz ermordeten Malerin Nathalie Kraemer in Haifa, die Ausstellung des belgischen Künstlers Luc Tuymans im Hamburger Bahnhof in Berlin, eine Ausstellung des niederländischen Künstlers Dom Hans van der Laan in Esslingen, eine Performances der spanischen Tänzerin La Ribot in Stockholm, eine Schönberg-Ausstellung in Wien und eine vom Sammler Wilhelm Schürmann zusammegestellte Ausstellung in Dortmund.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht es um die Gemeinschaftsplatte von Anne-Sofie von Otter und Elvis Costello (eine aparte Kombination!), um Ligeti und die Sinfonien von Alberic Magnard.

Wieviele Bäume mussten für dieses Feuilleton wieder sterben?

NZZ, 20.04.2001

Roman Bucheli meditiert anlässlich eines Luzerner Kolloquiums über "die Literatur im Zeitalter der Digitalisierung": "Was soll man von der digitalen literarischen Revolution halten? Was hat die Netz-Literatur dem Buch voraus, was seiner Ästhetik? Und leistet sie tatsächlich eine Erweiterung des Literaturbegriffs, wie ihre Vertreter emphatisch betonen?" Bucheli stellt einige Projekte vor und kommt dann immerhin zu einer Antwort: "Netz-Arbeiten bestehen einerseits aus einer sichtbaren Oberflächenästhetik und anderseits aus dem verborgenen Programm-Code. Diese konstitutionelle Voraussetzung müsse die digitale Literatur reflektieren, damit müsse sie spielen." Bucheli gibt in seinem Artikel viele Links auf die besprochenen Literaturprojekte.

Besprochen werden die Retrospektive Annelies Strba im Kunsthaus Zug und ein "Falstaff" in Mailand. Außerdem schreibt Stefan Zweifel zum 100. Geburtstag von Michel Leiris.

SZ, 20.04.2001

Willi Winkler unterhält sich mit dem Psychoanalytiker Paul Parin. Er denkt unter anderem über die jüngste 68er-Debatte nach: "Oft kann man es im Gespräch mit deutschen Intellektuellen merken, wo sie in der 68er Zeit standen. Sie hat physische Merkmale hinterlassen, selbst bei der CDU. Etwas wird bleiben von dieser Revolution, hat ein guter Freund von mir gesagt: Polizisten werden Bärte und lange Haare tragen dürfen, und genau so ist es gekommen."

Der Iran braucht Meinungsfreiheit, schreibt der liberale Ayatollah Montazeri. Es scheint sich allerdings nicht um einen Originalbeitrag zu handeln, denn sein Text fängt so an: "Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers." Dann kommt er zur Sache: "Leider halten einige der Verantwortlichen - ohne sich um die öffentliche Meinung und die Rechte der Nation zu scheren - die Regierung für ihr rechtmäßiges Eigentum und halten sich selbst für das System, die Revolution und sogar den Islam. Tatsächlich ist es aber so, dass keine Ordnung von einzelnen Personen abhängt, vielmehr hängt ihr Bestand vom Volk ab. Und das Land gehört dem gesamten Volk, und die Herrschaft ist abhängig vom Volk. Sogar die weltliche Regierung des Propheten und auch die Regierung Imam Alis wurde durch das Volk legitimiert."

Kurt Oesterle bespricht den Briefwechsel Celans mit seiner Frau Gisele Celan-Lestrange, der bei Suhrkamp erscheint: "Mädchenhaft-demütig hatte ihre Liebe zu dem 'schönen Dichter' begonnen, der seinerseits hoffte, 'die Türen dieser Welt zuschlagen' zu können, wenn er bei ihr war. Sie fühlte sich ihm beschämend unterlegen, begnügte sich aber nicht damit, zu ihm aufzuschauen, 'eine Zuschauerin aus dem Hühnerhof, letzte Reihe' zu sein, wie sie ihm im September 1952 trotzig mitteilt. Unermüdlich treibt sie sich an, Celan zu verstehen, lässt sich Deutsch von ihm beibringen und versenkt sich in seine Gedichte, von deren 'furchtbaren Wirklichkeiten' sie sich zugleich bedroht fühlt." (Siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

Weitere Artikel: Otto Kallscheuer teilt Impressionen vom Wahlkampf in Rom mit. Olaf Kaltenborn beschreibt eine Reorganisation der Kulturpolitik im Ruhrgebiet, die dem Land NRW größeres Gewicht verleiht. Jay Rutledge stellt Senegals Superstar Baaba Maal vor, der auf eine kurze Deutschlandtournee geht. Besprochen werden Matthieu Kassovitz Film "Die purpurnen Flüsse", das Musical "Les Miserables" in einer Fassung von John Dew in Bonn, eine Sibylle-Berg-Inszenierung in Hamburg und eine Ausstellung von vier türkischen Künstlerinnen in Baden-Baden.

FR, 20.04.2001

Staats-, Haupt-, Bundes- und Kulturminister Julian Nida-Rümelin ist seit hundert Tagen im Amt, meldet Martina Meister, und "pünktlich zu den magischen Daten, die die Medien stets zum Anlass nehmen, nach Soll und Haben zu fragen, regnet es seltsame Meldungen. Erstens: Der Hauptstadtkulturvertrag ist immer noch nicht unterschrieben. Zweitens: Die versprochenen 3,5 Millionen Mark für die Staatsoper sind nicht überwiesen. Drittens: Auf der Museumsinsel droht der Baustop. Und wenn man schon beim Baustop ist, darf, viertens, der endlose Konflikt um den Neubau der Ausstellung 'Topographie des Terrors' nicht fehlen, der nur für einen kurzen Augenblick gelöst schien. Im kulturpolitischen Zusammenspiel zwischen Bund und Berlin knirscht es gewaltig, und mitunter wird gezockt wie auf dem Basar."

Michael Mayer greift in die Debatte über die neuen Technologien ein: "Die Frage lautet, ob und wie die Idee und die Praxis der politischen Freiheit des Menschen mit dem neuen bio-technischen Dispositiv synchronisiert werden kann oder nicht. Sie ist heikel genug." Ach so.

Weitere Artikel: Martina Meister (nochmal) kommentiert die Worte des Vorsitzenden der Expertenkommission zur Klärung der Frage, ob das Berliner Schloss wiederaufgebaut werden soll, es könne keine "1:1-Replik" geben. Besprochen werden Hayao Miyazakis Film "Prinzessin Mononoke", die von Frank Barkow und Regine Leibinger konzipierte Blumenhalle der Bundesgartenschau in Potsdam.

Und schließlich kommt Dirk Baecker noch mal auf die Theaterarbeit "massakermykene" Claudia Bosse und Josef Szeiler zurück, die im Oktober 2000 (solange musste er nachdenken) in einem Wiener Schlachthof ihre einzige Aufführung hatte: "Ich will behaupten, dass diese Theaterarbeit aus dem Oktober 2000, die einen knapp einjährigen Probenprozess mit einer einmaligen Aufführung des Stücks beendete, auch etwas mit der Bestandsaufnahme eines Raumes zu tun hatte und damit mit dem Versuch, herauszufinden, was uns ein Raum bedeuten kann. Ich will behaupten, dass diese unter dem Namen massakermykene auch im web dokumentierte Arbeit als eine kognitive Operation beschrieben werden kann, die weniger ein Experiment mit einem Raum ist, als vielmehr als dieses Experiment, echt theatralisch, beobachtet werden will."

TAZ, 20.04.2001

Ein "postsozialistisches Freizeit- und Arbeitskollektiv" soll in Prenzlauer Berg entstehen, meldet Jana Sittnick. Es scheint sich aber nur um das übliche pittoreske Ambiente für die üblichen Multimediafuzzis zu handeln: "Die Bauherren der Backfabrik.de am Fuß des Prenzlauer Bergs wollen 'das größte Multimediazentrum in der kreativen Mitte von Berlin' errichten, auf einem Zehntausend-Quadratmeter-Fabrikareal an der Saarbrücker Straße. Hagen M. Bartels und seine Unternehmensgruppe Real-Estate Merger & Management (R.E.M.M.) gehören zu den größten Privateigentümern von Liegenschaften im Prenzlauer Berg. Auf dem seit drei Jahren brachliegenden Gelände schaffen sie nun 'Hightech-Arbeitsplätze' für die IT- und New-Media-Branche: Software- und Telekommunikationsfirmen, Multimedia-, Werbe- und Castingagenturen, Filmproduktionsbüros und Verlage sollen hier ab Mai dieses Jahres einziehen." Wenn anderswo der Boom vorbei ist, fängt man in Berlin erst an!

Und sonst Musik: Jörg Feyer porträtiert die Bluessängerin Olu Dara. Björn Döring stellt neue Tanzplatten vor. und Thilo Bock präsentiert den finnischen Musiker M.A. Numminen, der "singt, wovon man nicht sprechen kann".

Zum Abschluss Tom.