Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2001.

TAZ, 23.04.2001

Der chilenische Systemtheoretiker Humberto Maturana erklärt in einem Gespräch über das Leben in der Diktatur von Pinochet, wie Macht entsteht: "Kurz gesagt lautet meine These: Unterwerfung ist die Ursache, Macht ist die Folge. Wenn ein Diktator oder irgendein Mensch sein Gewehr auf mich anlegt und mich zu einer bestimmten Handlung zwingen will, dann bin ich es, der sich überlegen muss: Möchte ich diesem Menschen Macht geben? Vielleicht ist es für einige Zeit sinnvoll, seinen Forderungen Folge zu leisten, um ihn dann in einem günstigen Moment zu besiegen." Das Gespräch ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem Buch des Autors "Abschied vom Absoluten. Gespräche zum Konstruktivismus mit Heinz von Foerster, Humberto Maturana, Francisco Varela, Paul Watzlawick u. a.", das dieser Tage im Carl-Auer-Systeme Verlag erscheint.

Besprochen wird in der taz eine Ausstellung des "Austrochinesen" Jun Yang in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig.

Und hier der Tom.

FR, 23.04.2001

Peter Michalzik findet, dass Luk Perceval in seiner Inszenierung des "Kirschgartens" "so ziemlich alles richtig (macht), was man bei Tschechow richtig machen kann. Aber, einmal muss es heraus, irgendetwas stimmt hier trotzdem nicht. Im Lauf des Abends wird die Frage immer unabweisbarer, was dieser Aufführung fehlt. Dieser Kirschgarten kreist um den Kontrast von Lopachins Realismus und der beredten Weltvergessenheit der anderen, er ist Gesellschaftsanalyse. Da ist er klar. Was Percevals immer im Dunkel bleibender Aufführung abgeht, ist nicht Transparenz, davon hat sie ein Übermaß, sondern Transzendenz. Von den Bildern, die Tschechow erfunden hat, der Möwe, das ferne Moskau der Drei Schwestern, ist der Kirschgarten das subtilste. Er zeigt nicht nur Sehnsucht, sondern ist die Zeit selbst, die nicht zu fassende Gegenwart und die übermächtige Erinnerung. Bei Perceval kommt dieser Kirschgarten fast nicht vor. Wenn Lopachin erklärt, wie er das Land parzellieren will, wird eine Kirschtorte als Beispiel herangezogen. Wo Garten war, ist Perceval bei seiner Gegenwartssuche Torte geworden."

Weitere Artikel: Hans-Klaus Jungheinrich schreibt den Nachruf auf Giuseppe Sinopoli, und Klaus Walter erzählt in der Reihe "Heimatkunde", wie ihm der Soldatensender AFN "als Fluchthelfer" aus der Heimat diente.

Besprochen werden neben dem Kirschgarten noch die Aufführung von Giselher Klebes Oper "Der jüngste Tag" am Landestheater Detmold und politische Bücher (siehe unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

SZ, 23.04.2001

Christine Dössel hat sich Luk Percevals Inszenierung des "Kirschgartens" in Hannover angesehen: Die Schauspieler, schreibt sie, "sind wie die Teilnehmer einer Selbsthilfegruppe, die noch einmal zusammentreffen, um einander von ihrem Scheitern und von ihren Hoffnungen zu berichten. Doch so erschlafft, wie sie dasitzen, so frustriert und tatenlos, ist von vornherein klar, dass sich da nichts mehr ändern wird. Alle Schlachten sind geschlagen, alle Fragen gestellt, das Leben: verlebt. Therapie zwecklos. Die Sitzung: eine Talkshow. Man labert nur noch, ergeht sich in sinnlosem Geschwätz und trauert darum, wie schnell die Zeit verfliegt."

Jörg Häntzschel beschreibt die amerikanisch-mexikanische Grenze, die zu einer "High-Tech-Überwachungswelt" geworden ist: "Stellte man sich eine moderne Landkarte vor, auf der die Schwierigkeitsgrade der Grenzüberwindung dargestellt wären, hätte sich die Gegend um San Diego von einem hellgrünen in einen dunkelroten Bereich verwandelt. Bis Mitte der Neunziger war es die populärste Passage von Süd nach Nord. Heute melden 12 000 seismische Sensoren im Boden verbotene Schritte. Flutlichttürme beleuchten jeden Meter. Hubschrauber knattern nachts über das Brachland und lassen ihre 'Nitesun'-Scheinwerfer kreisen. Und es wird weiter aufgerüstet. Ganz neu ist die Bollard-Mauer aus versetzten Betonpfosten: Durchsehen lässt es sich bequem, durchzwängen könnte sich nicht einmal ein Säugling." Viele schaffen es natürlich trotzdem.

Weitere Artikel: Andrian Kreye meldet, dass die USA gerade unter "kollektiven Panikattacken" leiden. Der Grund: es geht bergab mit ihrer Wirtschaft. Und Wolfgang Schreiber würdigt den Dirigenten Giuseppe Sinopoli, der am Freitag mit 54 Jahren während einer Aufführung von Aida in der Deutschen Oper Berlin an einem Infarkt starb.

Besprochen werden Hans Neuenfels' Inszenierung der Misere der Mütter in Stuttgart, ein Abend mit dem BallettTheater in München, Freddie Hubbards CD "New Colors" und ein Buch von Clarke Blaise über "Die Zähmung der Zeit" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 23.04.2001

Zwei Artikel widmen sich dem Forschungsprojekt "Tradierung von Geschichtsbewusstsein", in dem die "intergenerationellen Gespräche" von deutschen Familien über die nationalsozialistische Vergangenheit empirisch untersucht wurden. Für Harald Welzer zeigen die Gespräche und Interviews, "dass das Geschichtsbewusstsein hinsichtlich der NS-Zeit weit mehr und anderes umfasst, als über die Schule und die Medien vermittelt wird. Im deutschen Familiengedächtnis kommt weder der Holocaust vor, noch ist in ihm Platz für Familienmitglieder, die 'Nazis' waren. Selbst wenn der Grossvater in der SS oder in der Gestapo war, macht ihn dies in der Sicht seiner Enkel nicht zum Anhänger der nationalsozialistischen Politik. Sondern er war es, weil er 'musste', weil er 'gut verdienen' konnte oder sogar, weil er seine Funktion nutzen konnte, um 'Juden zu helfen'. 'Nazis', das waren immer die anderen - und dieses Bild von den verführten und missbrauchten Deutschen, die selbst unter der NS-Herrschaft gelitten haben, schreibt sich auf verblüffende Weise bis in die heutigen Kinder- und Enkelgenerationen fort, die aus Elementen der von den Eltern und Grosseltern erzählten Episoden ganz neue Geschichten komponieren." In einem weiteren Artikel zum Thema schreibt Sabine Moller über das Geschichtsbild speziell der Ostdeutschen.

Markus Jakob erzählt, warum der Welttag des Buchs in Barcelona besonders ausgiebig gefeiert wird: er fällt nicht nur auf den Todestag von Cervantes, sondern ist auch der Tag des Heiligen Georgs, in Spanien Sant Jordi genannt. Es ist Brauch, "dass zu Sant Jordi jede rechtschaffene Katalanin ihrem Liebsten ein Buch verehrt - sei's ein katalanisches oderein spanisches. Die Herren der Schöpfung revanchieren sich mit einer Rose. Darüber mögen nicht nur Feministinnen die Stirn runzeln; es hat aber insofern seine Logik, als in einem Land wie Spanien, wo Frauen wesentlich mehr lesen als Männer, der Nachholbedarf der Letzteren grösser ist. Nicht zum Nachteil der Frauen wird ja auch auf Bücher zehn Prozent Nachlass gewährt, während der Rosenpreis an Sant Jordi ins Unermessliche steigt."

Weitere Artikel: Georg-Friedrich Kühn schreibt den Nachruf auf Giuseppe Sinopoli. Besprochen werden die Uraufführung von "Meienbergs Tod" des Berner Duos Lukas Bärfuss (Autor) und Samuel Schwarz (Regie) in Basel und ein "Siegfried" im Genfer Grand Theâtre.

FAZ, 23.04.2001

In der FAZ schreibt Lothar Müller über Luk Percevals "Rosengarten": "Nichts bleibt von Fin-de-siecle-Stimmung und alten Standesunterschieden. Herrschaft, Knechte und Zwischenschichten rücken zusammen, in dieser Parodie einer klassenlosen Welt haben alle die gleiche, geringe Fallhöhe."

Helga Hirsch fasst die Debatte um das Massaker in Jedwabne in Polen zusammen, die "das polnische Selbstverständnis auf eine harte Probe" stellt. Am Ende hofft sie, dass die Diskussion "auch die noch immer übliche Duldung antisemitischer Äußerungen und Taten beenden (wird), so dass in Zukunft nicht mehr schweigend hingenommen wird, wenn erklärte Antisemiten provokativ Kreuze neben dem Konzentrationslager Auschwitz aufstellen; wenn Priester antisemitische Predigten halten können, ohne mit sofortiger Suspendierung rechnen zu müssen; wenn Präsidentschaftskandidaten antisemitische Broschüren und in Fernsehspots dementsprechende Ansichten verbreiten; wenn die Häuserwände von Lodz regelmäßig mit Galgen bemalt werden, an denen Davidsterne hängen."

Mark Siemons hat am Wochenende die "Junge Welt" gelesen und festgestellt, dass sich dort "eine fast vergessene Bevölkerungsgruppe zu Wort" gemeldet hat: "Hohe Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) nehmen dort ihre früheren inoffiziellen Mitarbeiter gegen den 'Diskriminierungsfeldzug' in Schutz, den interessierte Kreise der BRD entfachten, um, wie sie in Anlehnung an eine Diestel-Sentenz formulieren, 'den Osten beherrschbar zu machen'." Siemons ist zwar aufgefallen, dass die ehemaligen Stasi-Offiziere mit ihrer Behauptung, sie hätten nicht die ganze Bevölkerung überwacht, sondern 'Mörder, Terroristen, Nazis, Spione, Schädlinge, Diversanten und skrupellose Menschenjäger', auf die westliche Common-sense-Moral verzichten, eine Meinung hat er dazu nicht.

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner würdigt den verstorbenen Dirigenten Giuseppe Sinopoli, Andreas Rossmann berichtet über Gerard Mortiers Projekte für die Ruhr-Triennale, Nils Aschenbeck erzählt, wie der Taut-Bau eines "gewitzten Plagiators" in Worpswede zum Museum wurde. Und "lm" war dabei, als Friederike Mayröcker in Berlin ihr "Requiem für Ernst Jandl" gelesen hat: "Es ist eine Vergegenwärtigung des Todes und des Toten in Prosa. Zögernd gleitet die Stimme darüber hin, eins will sie auf keinen Fall: sich ins Ungefähre verflüchtigen. Denn der Brückenbau ist eine der exaktesten Künste."

Besprochen werden Fridrik Thor Fridrikssons Film "Engel des Universums", der britische Film "Bridget Jones's Diary" mit Renee Zellweger und Hugh Grant, eine Aufführung von Heiner Müllers "Bildbeschreibung" am BE, ein Konzert von De-Phazz in Darmstadt, die Ausstellung des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers im Brüsseler Palais des Beaux-Arts, "Orchester-Gruppen" bei der "Musik der Zeit" in Köln und Bücher: Sachbücher, politische Bücher, Wirtschaftsbücher, Gedichte von Christian Lehnert und Katja Lange-Müllers Roman "Die Letzten" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).