Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2001.

FAZ, 11.06.2001

Edo Reents empfiehlt allen deutschen Ethikexperten, die sich über die Folgen der Biopolitik klar werden wollen, den Gang in die Videothek: "Wenn man sich Filme wie 'Terminator II' von James Cameron, 'Species' von Roger Donaldson oder eben Niccols' 'Gattaca' heute wieder ansieht, kann man vielleicht etwas lernen, was man in Ethikräten nicht zu hören bekommt."

Auch das Innere von Frank Gehrys Haus für die DG Bank in Berlin ist nun fertig, und Heinrich Wefing ist ganz aus dem Häuschen: "Jetzt endlich, nach Monaten des Feilens an den millimetergenau berechneten Details, ist das vorbildlose Auditorium vollendet, das der Architekt aus Kalifornien in den überglasten Hof des berlinischen Bankgebäudes gestellt hat. Und man reibt sich die Augen, wandelt staunend um die silbrig schimmernde Metallblase herum, die wie nebenbei die Grenzen zwischen Architektur und Skulptur verwischt. Es ist eine dreidimensionale Phantasie aus dem Computer, ein Hymnus an Bewegung, Energie und avancierte Technologie, ein flüssiger Strom nie gedachter Gedanken, der nur für einen großartigen Moment erstarrt zu sein scheint."

Jürg Altwegg porträtiert in seinem Blick durch französische Zeitschriften den unvermeidlichen, in den französischen Medien omnipräsenten Schriftsteller Philippe Sollers: "Keine Saison ohne Sollers: Im Frühling sind elfhundert Seiten Essays erschienen ('Eloge de l'Infini') und eine Bildbiographie ? 'Philippe Sollers oder der Wille zum Glück'. In der Elle porträtiert der Schriftsteller sieben Frauen seines Lebens - darunter Mutter, Gattin (Julia Kristeva) und Dominique Rolin ('Zweimal pro Jahr reisen wir nach Venedig'). Für Marianne isst er die nationale Spezialität 'Crêpe Suzette'. Der Figaro litteraire besucht ihn im Verlag und erfährt mehr, als er schreiben darf: 'Wenn Sollers den Mut hätte, alles zu sagen, was er denkt, wäre er heute der große Schriftsteller, von dem er träumt.'"

Weitere Artikel: Christian Schwägerl kommentiert die Tatsache, dass der Kanzler heute den Atomausstiegsvertrag unterzeichnet, als angesichts der Gendebatte merkwürdig gestriges Ritual. Fortgesetzt wird die Diskussion von Tom Kirkwoods Reith-Lecture über das Altern (wir könnten älter werden, wenn man uns nur ließe, meint er). Paul Ingendaay unternimmt einen Rundgang über die Madrider Buchmesse, die man sich als eine populäre Verkaufs- und Signiermesse vorzustellen hat. Klaus Englert beschreibt das Projekt eines amerikanischen Milliardärs: eine City at Sea, das größte Schiff der Welt, für 40.000 Gäste, das als ortloser Wohnsitz nurmehr auf den steuerlich jungfräulichen Weltmeeren kreuzen wird. Kerstin Holm erzählt die Geschichte der unter den Zaren gegründeten Petersburger Porzellanmanufaktur, die nun als Aktiengesellschaft wieder auferstanden ist und Profite macht. Jürgen Richter beklagt, dass die Japaner unter ihren Mangaserien und ?filmen meist nur Billigware a la Pokemon und Digimon exportieren, nicht aber die Meisterwerke.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Anfänge der Freilichtmalerei ("Paysages d'Italie ? les peintres du plein air" im Grand Palais, Paris), die Choreografie "Stimmen, Hände, brüchige Stille" von Daniel Goldin in Münster, die Deutschland-Tournee von Mark Knopfler, die Märchenkomödie "Der Drache" von Jewgeni Schwarz, inszeniert von Sebastian Hartmann in Basel, ein Festival mit antiken Dramen in Syrakus und das Salzburger Pfingstfestival mit alter Musik.

NZZ, 11.06.2001

Mit der Kulturpolitik des Präsidenten Vicente Fox in Mexiko, die neokonservative Züge trage, befasst sich Anne Huffschmid. Sie bemerkt Züge zur Rekatholisierung der Politik in dem laizistischen Land, schildert aber auch das offizielle Programm der Kulturpolitik. Stichwort ist hier die ciudadanizacion: "Was genau es bedeutet, ist selbst bei Spanischkundigen umstritten. Bürgerbeteiligung oder Dezentralisierung, Entstaatlichung oder eine Art Kulturföderalismus, mit der Einrichtung von kommunalen Kulturräten im ganzen Land. Klar ist nur, dass angesichts der knappen Kassen - das Kulturbudget liegt mit 450 Millionen Dollar für 2001 noch unter dem des Vorjahres und mit einem Anteil von 0,45 Prozent der Staatsausgaben weit unter der Unesco-Empfehlung von 1,5 Prozent - verstärkt private Sponsoren und Mäzene aktiviert werden sollen."

Der Schriftsteller Klaus Merz besucht das Museum La Congiunta für die Skulpturen Hans Josephsohns im Schweizerischen Giornico. Und er vergleicht Josephson mit einem anderen großen Schweizer Bildhauer: "Giacometti nimmt ständig Material weg, Josephsohn setzt es hinzu, um den Kern seiner Figuren sichtbar zu machen. Als Antipoden möchte man die beiden Bildner gern bezeichnen, die unter dem Äquator hindurch insgeheim doch miteinander verbunden sind. Verwandte auch durch ihr unermüdliches Arbeiten - zwischen Figuration und Abstrahierung - am 'Menschenmaß'. Als Halt. Aus Passion."

Besprochen werden eine Ausstellung über den japanischen Architekt Fumihiko Maki in London, Puccinis "Tosca" im Genfer Grand Theâtre, "Der Drache" am Theater Basel und Modeausstellungen in Antwerpen.

SZ, 11.06.2001

Frankreich diskutiert über die trotzkistische Vergangenheit Lionel Jospins (siehe dazu auch unsere Magazinrundschau). Burkhard Müller-Ulrich erklärt, wie ein junger Mensch in Frankreich zum Trotzkisten werden konnte: "1956 hatte der gerade 19-jährige Jospin erlebt, wie die beiden großen Linksparteien, die Sozialisten und die Kommunisten, ihr Grundprojekt, nämlich die Befreiung des Menschen, verrieten: Die an der Regierung beteiligten Sozialisten der SFIO (Section française de l'Internationale Ouvriere) schickten französische Soldaten los, um Ägypten wegen der Nationalisierung des Suez-Kanals zu bekriegen, und die Kommunisten deckten die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands durch sowjetische Truppen. Da fand ein junger Linker leicht den Weg in die Radikalität trotzkistischer Zirkel, die es in Paris so reichlich gab und gibt."

Fritz Göttler hat Frederic Beigbeders Skandal- und Szenebuch "39,90" gelesen und findet: "Der Ikonoklasmus, den Beigbeder zelebriert, ist bei weitem nicht so locker, wie wir ihn vielleicht gerne sähen. Beigbeders Schreiben ist moralisch affiziert, selbst wenn er nur die Zirkulation der Bilder und Begriffe abzuzocken scheint." Und wir dachten, da steht er drüber.

Christian Kortmann hat das erste Konzert der Madonna-Tournee in Barcelona und dabei so viele Cowboy-Hüte (das aktuelle Outfit der Sängerin) gesehen, dass ihm der MTV-Videoclip wieder einfiel, "in dem die echte Madonna mit unzähligen Fake-Madonnas in einer Disko-Schlange steht und vom Türsteher abgewiesen wird. 'But I am Madonna!', schreit sie verzweifelt und wacht schweißgebadet auf."

Weitere Artikel: Willi Winkler schreibt noch mal zum bevorstehenden Tod von Timothy McVeigh ("Wenn kein neues Unglück geschieht, stirbt dieser heute, aber tot ist er noch lange nicht."). Joachim Käppner hat antiamerikanische Akzente in den deutschen Kritiken zum Film "Pearl Harbor" ausgemacht. Besprechungen gelten den 50. Händel-Festspielen in Halle, einem "Figaro" in Stuttgart und der in Großbritannien kontrovers diskutierten Ausstellung "Taking Positions: Figurative Sculpture and the Third Reich" im Henry Moore Institute in Leeds.

FR, 11.06.2001

Gregor Schneiders "schön deutsche" labyrinthische Konstruktion hat bei der Biennale von Venedig den großen Preis erhalten, berichtet Elke Buhr, und das lief so ab: "Der deutsche Pavillon hat auf der 49. Biennale von Venedig den Goldenen Löwen für den besten Beitrag eines Landes gewonnen. Was den Glamour-Faktor bei der Preisverleihung automatisch niedrig hielt. 'Thank you, good bye', presste der deutsche Kurator Kittelmann schwach hervor. Sein Künstler aber, Gregor Schneider, war sofort nach der Übergabe verschwunden. Wer jahrelang in feuchten Kellern hockt und seine Albträume zu Räumen vermauert, kann nicht plötzlich öffentlich Champagnerflaschen köpfen."

Und sonst: Verena Specks hat zugesehen, wie in Berlin die "Clips 2001" für die besten Musikvideos in Deutschand vergeben wurden. Stefan Keim stellt angesichts des Spektakels "Orte der Sehnsucht" fest, dass Oberhausen eines der lebendigsten Theater Deutschlands ist. Und Fritz von Klinggräf berichtet vom literarischen Rahmenprogramm beim Bundesdelegierten-Kongress des Schriftstellerverbandes in Leipzig.

TAZ, 11.06.2001

Harald Fricke erklärt in seinem Resümee zur Biennale in Venedig ökonomische Hintergründe: "Einen Tag nach der Biennale eröffnet die Kunstmesse in Basel, keine andere Woche im Jahr sind so viele Sammler, Galeristen, Kuratoren und Museumsdirektoren unterwegs. Insofern ist Venedig ein vorgelagerter Businesstreff, auf dem bei Sonnenschein in den Gärten am Canale Grande geregelt werden kann, was der Markt derzeit hergibt: massenweise Video, Verweiskunst und eine programmatische Rückkehr zum Körper."

Bei Thomas Fitzel erfahren wir: "Die Menschenversuche in den Lagern waren keineswegs pseudowissenschaftliche Betätigungen, sondern Teil des regulären Wissenschaftsbetriebs." Dafür entschuldigt sich die Max-Planck-Gesellschaft.

Und Lily Brand erzählt Geschichten aus Berlin, die einem diese Hauptstadt nur sympathischer machen: "Fritz aus Kreuzberg war seiner bulgarischen Frau Iwanka an sich ein guter Ehemann. Sie zahlte ihm monatlich 500 Mark, die er in Heroin umsetzte. Dafür unterschrieb er ihr alle Papiere, die sie und ihr kleiner Sohn brauchten. Das ging zwei Jahre lang so. Dann wurde Fritz in seiner Stammkneipe am Hermannplatz bei einer Schlägerei erstochen..."

Da bleibt nur Tom.