Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2001.

TAZ, 12.06.2001

Peter Fuchs nimmt aus systemtheoretischer Pervektive zur Bioethik-Debatte Stellung. "Die Biotechnologie zeigt uns, dass der Mensch immer schon ein Bild war. Wer gegen sie optiert, ist genötigt, auf seinem Bild zu bestehen. Er gerät nolens volens in die Falle des Anachronismus, wenn er darauf insistiert, dass sein Bild wahr und deswegen verpflichtend sei. Er residiert in einem asylum ignorantiae, wenn er nach den Verkündigungen der Biotechnologien nicht akzeptiert, dass die Beobachtung des Menschen kontingent, also ersichtlich anders möglich ist." Etc.

Weitere Artikel: Yves Rosset schreibt über die Retrospektive der Fotografin Yva, die in der Weimarer Zeit gefragt war, im Verborgenen Museum in Berlin. Robert Naumann liefert eine Kurzgeschichte über das KaDeWe. Besprochen werden Bücher, darunter ein Gedichtband von Jan Wagner.

Schließlich Tom.

SZ, 12.06.2001

Keine Angst vor der PDS in Berlin, meint Jost Kaiser, denn auch West-Berlin, das bis jetzt regierte, war eigentlich eine DDR: "Wie die DDR hatte West-Berlin eine mediokre Oligarchie hervorgebracht: Apparatschiks, Gestalten, die nur hier etwas werden konnten, da die alte Elite aus der umlagerten Stadt geflohen oder tot war. Hervorgegangen aus der offiziellen CDU-Kaderschule, der juristischen Fakultät der Freien Universität, oder der SPD-Kaderschule, dem DGB, Landesverband Berlin und dem Otto-Suhr-Institut der Universität."

Willi Winkler schreibt über ein eben in den USA erschienenes Buch, das die Geburt von Las Vegas aus dem Kalkül der Mafia schildert: "Money and the Power. The Making of Las Vegas and its Hold on America, 1947- 2000" von Sally Denton und Roger Morris. Auch heute ist Las Vegas "ein florierendes Wirtschaftsunternehmen. Dort wird mehr Drogengeld als je zuvor gewaschen, und besonders eifrig dabei ist die größte Bank des Landes, die den Mormonen des Nachbarstaates gehört. Den Mormonen, das nur nebenbei, sind Glücksspiel ebenso wie Alkohol und alle weiteren Drogen untersagt. Aber so funktioniert schließlich die Welt, und deshalb ist das verruchte Las Vegas auch ein Disneyland für Erwachsene."

Weitere Artikel: Ralph Hammerthaler hat einer Berliner Tagung über die kommende Kulturstiftung zugehört. Anne Erfle stellt das kanadische Künstler-Duo Janet Cardiff und George Bures Miller vor, das für seine Arbeit "The Paradise Institute" den Spezialpreis der Biennale von Venedig erhalten hat. Im Interview erzählt Klaus Löwitsch über das Martyrium, das ihm die deutsche Justiz zumutet ("Ich jedenfalls kann mich nicht mehr bewegen in diesem Land, weil die Vorverurteilungskampagne so groß ist, dass ich Angst haben muss.") Hannah-Arendt-Biograf Alois Prinz antwortet auf die Frage, was ihn zuletzt zum besseren Menschen machte (eine Erzählung von Robert Walser).

Besprochen werden Franzobels "Mayerling ? Die österreichische Tragödie" am Volkstheater Wien, Eine Ausstellung über den Zeichner Lajos von Horvath in Murnau, Conor McPhersons "Port Authority" am in Dresden und der Briefwechsel zwischen Ernst Bloch und seinem Verlger Wieland Herzfelde. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Und auf der Medienseite schreibt Hans Leyendecker zum Fall Boenisch bei Springer (fristlos entlassen) und zum Fall Jahr-Familie bei Bertelsmann (man würde sie gern herauskomplimentieren): "So verschieden der größte deutsche Zeitungsverleger Springer und die Bertelsmann AG, einer der größten Medienkonzerne der Welt, auch zumeist agieren ? in der Mittelmäßigkeit der Argumente, im Dirigismus und in der Großmannssucht treffen sich momentan beide."

FR, 12.06.2001

Der israelische Soziologe Nathan Sznaider kommt noch einmal auf das Selbstmordatentat vor einer Tel Aviver Diskothek zurück, bei dem vor allem junge Mädchen umkamen, die in die Disko drängten: "Man steht sprachlos vor der Grausamkeit dieses Ereignisses. Sicher, es gibt die Besatzung, die tagtäglichen kleinen Unterdrückungen des Alltags, die mit einer Besatzung einher gehen. Die alltäglichen Erniedrigungen, die die Besetzten von den Besatzern erleiden müssen. Man liest auch manchmal, dass der Terror die einzige effektive Waffe der Schwachen gegen die Starken ist. Man weiß das alles, wenn man gleichzeitig panisch versucht, auf seine Kinder aufzupassen und sich Überlebensstrategien ausdenkt." Und weiter: " Natürlich wird es Vergeltung geben, denn die Spielregeln verlangen das. Ohne Vergeltung wird bald die nächste Disko in die Luft gehen. Auch das gehört zu den Spielregeln. Und mit Vergeltung auch."

Weitere Artikel: Roland Burgard stellt Hans Holleins Media Tower in Wien vor. Dirk Fuhrig bespricht den Band "Vor der Auslöschung ... Fotografien, gefunden in Auschwitz". Besprochen werden weiterhin Edward Yangs Film "Yi Yi", die Dresdner Musikfestspiele und eine israelische Inszenierung von "Kabale und Liebe" in Mannheim.

FAZ, 12.06.2001

Jörg Thomann untersucht auf der Medienseite den "rasanten Abstieg der CDU-Vorsitzenden in der öffentlichen, von den Medien entscheidend geprägten Wahrnehmung", der für ihn "untrennbar verbunden ist mit ihrem rasantenAufstieg". Darin erkennt er eine alte deutsche Mentalität: "Angela Merkel wurde hochgeschrieben wie ein Popstar, und wem solches hierzulande widerfährt, der wird bald ebenso genüsslich niedergeschrieben."

Heinrich Wefing kritisiert Julian Nida-Rümelins Konzept einer Bundeskulturstiftung, deren Errichtung und Ausstattung mit 25 Millionen Mark morgen im Kabinett beschlossen werden soll. Nida-Rümelin will das "Innovative" in der Kunst fördern, und Wefing fragt, ob das überhaupt nötig ist: "Die Galerienszene birst nur so vor Arbeiten junger Künstler, die selbst von großen Wirtschaftsunternehmen begierig gesammelt werden. Nachwuchsschriftsteller können sich in einem Dschungel von Preisen und Stipendien derart verlaufen, dass der Basler Theaterdirektor Michael Schindhelm dieser Tage auf dem ersten kulturpolitischen Bundeskongress in Berlin fragte, ob es denn überhaupt noch so etwas wie Autorenförderung geben müsse. Und Nida-Rümelins These, es fehle an Austausch zwischen Kunst und neuen Medien, wird derzeit auf der von Videoclips überschwemmten Biennale in Venedig grandios widerlegt."

Dieter Barteztko erzählt die traurige Geschichte der spektakulären Fresken, die letztes Jahr bei Pompeji gefunden wurden. Nichts passiert zu ihrer Restaurierung. Aber eigentlich, so Bartetzko, ist das "der Normallfall in Pompeji, wo seit Jahr und Tag, allen Reformen, Leitungswechseln und jedem versprochenen Neubeginn zum Trotz, das antike Welterbe verwaltet wird, als sei es Bestand eines launisch geführten Heimatmuseums, in dem Schlamperei, Faktenhuberei und Jux koexistieren."

Franzobels Habsburger-Farce "Mayerling", die in Wien uraufgeführt wurde, charakterisiert die scharfzüngige Eva Menasse wie folgt: "Auf höchstem Assoziationsniveau ganz tiefe Witze machen. Jedes Klischee auswringen, bis es quietscht. Die habsburgischen Gründungsmythen dem Publikum als Spiegel vorhalten, den Spiegel (oder das Publikum?) dabei mit Kalauertomaten bewerfen und jeden Interpretationsversuch nachhaltig hintertreiben, damit die Kritiker und Germanisten sich, bitt'schön, zum Gaudium aller anderen den Hals brechen - das alles ist ungefähr 'Mayerling'."

Gerd Roellecke findet es Unsinn, dem zweizelligen Embryo bereits Menschenwürde zuzugestehen: "Von allen Embryonen sterben mindestens zwei Drittel und gehen unbemerkt mit Monatsblutungen ab. Ein Überfluss an Früchten sichert die Erhaltung der Gattung. Die Rede von Menschenwürde im Zusammenhang mit Embryonen blendet solche Bedingungen der Evolution des Homo sapiens aus. Sie ist eine moralisierende Scheinrationalisierung."

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner widmet dem 100. Geburtstag der Wiener Universaledition eine prächtige Bildseite mit lauter Komponistenporträts. Monika Maron schreibt im "Deutschen Wörterbuch" über "Gymnasium, das". Dietmar Polaczek schreibt über den kommenden Ausbau der römischen Biblioteca Hertziana durch Juan Navarro Baldeweg. Martin Thoemmes hat hat eine Tagung über die junge Nachkriegsliteratur verfolgt. Bei Martin Lhotzky erfahren wir, dass Österreich als letztes europäisches Land an der gesetzlichen Diskriminierung der Homosexuellen festhält. Michael Stolleis fürchtet, dass in der Reform der Juristenausbildung die Wissenschaft baden geht. Wiebke Hüster schreibt über Modellversuche für Ballette an Stadttheatern in Freiburg, Weimar und Luzern. Hansjörg Küster macht uns mit der Esche, ihrem Wasserbedarf und ihren Mythen bekannt, denn sie ist der "Baum des Jahres 2001". Ein "WWS." gratuliert Chick Corea zum Sechzigsten.

Besprochen werden Theo Loevendies Oper "Johnny & Jones" über zwei Jazzsänger in Amsterdam in der Nazizeit, Strawinskys "Rake's Pregress" in Hamburg, ein "Figaro" in Stuttgart, eine Thomas-Scheibitz-Ausstellung im Leipziger Museum der bildenden Künste, das Leipziger Bachfest, die Ausstellung "Wertwechsel" in Köln und Andreas Kleinerts Fernsehfilm "Lass mich nicht allein" über das Leben Petra Kellys und Gert Bastians.

NZZ, 12.06.2001

Die neuerliche Diskussion um den schwedischen Dramatiker Lars Noren und die Neonazis greift Aldo Keel auf. Bekanntlich hatten Freigänger aus der rechten Szene, die in Lorens Stück "7:3" mitspielten, 1999 zwei Polizisten umgebracht. Eine neue Fernsehdokumentation zu dem Fall wirft auch kritische Fragen über Norens Verhalten auf. Keel schließt: "Noren als welterfahrenem und geschichtsbewusstem Intellektuellen Naivität zuzugestehen, wäre verfehlt. Sein Versagen liegt darin, dass er den Rechtsradikalismus unterschätzte und nicht begriff, was er mit seinem Projekt in Gang setzte." Und wir verweisen auf Michael Ruschs "Post aus Stockholm" vom 31. Mai, die sich ausführlich mit den schwedischen Diskussionen befasst.

Marie Theres Fögen fragt: "Ist der Biografie-Boom eine feige Flucht vor Strukturen und Systemen? Oder entspringt er aufrichtigem Protest aus humanistischer Überzeugung? Biographie sozusagen als Gegenbewegung, die dem bedrohten Subjekt zu Hilfe eilt, um seine Unentbehrlichkeit und seine höchstpersönliche Verantwortung für das Geschehen in der Geschichte ein um das andere Mal vor Augen zu führen? In diesem Fall hätten wir es geradezu mit einem geschichtstheoretischen und weltanschaulichen Streit zu tun - einer Neuauflage von 'große Männer machen die Geschichte'. Dass ein solcher Streit auch heute tief unter dem Asphalt des biographischen Genres murmelt, kann man nicht ausschließen."

Nicht gerade begeistert war Ueli Bernays von Madonnas erstem Tourneekonzert in Barcelona: "Eine Band, zumeist im Hintergrund versteckt, mühte sich ab auf herkömmlichen Instrumenten, aber so wie die Madonna-Songs oft zu dehnbaren Tracks umarrangiert zu sein schienen, um nur mehr als Background zu fungieren für die Dance-Choreographien, wurden auch die Instrumente überlagert von einer dichten Textur mannigfaltiger Retortenklänge und Techno-Beats. Offensichtlich lässt sich nicht alles, was man im Studio mischen kann, auch live reproduzieren. Madonna auf alle Fälle konnte sich in diesem heterogenen Klangkontext eher als wackere Tänzerin denn als Sängerin profilieren. Ihr Ausdrucksspektrum schien schmal, ihr Gesang farblos und schwächlich ihre Stimme." Der Eintritt kostete übrigens 80 Dollar und soll bei den deutschen Konzerten sogar noch höher sein.

Besprochen werden das Wiener Kunstfestival "Du bist die Welt" und einige Bücher, darunter Kenzaburo Oes Roman "Grüner Baum in Flammen" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr). Und in einer Meldung wird mitgeteilt, dass Henning Mankell einen eigenen Verlag gründen will.