Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2001.

FAZ, 19.06.2001

Gerhard R. Koch kommentiert die jüngsten Entwicklungen in Bayreuth: "Dass Eva Wagner nun ihre Bewerbung offiziell zurückzog, ist über den Triumph des Alten hinaus eine enorme Blamage für Zehetmair, die CSU und den Stiftungsrat. Ja mehr noch, der weißblaue Politiker ist nun regelrecht vor dem zürnenden Patriarchen in die Knie gegangen, hat ihm Zusagen gemacht, die man noch vor einem Vierteljahr für undenkbar gehalten hätte und die alle machtpolitischen Bekundungen aus der Münchener Staatskanzlei nachträglich nichtig klingen lassen."

Über die Staatskleider Jacqueline Kennedys, die zur Zeit in New York ausgestellt werden, denkt Rose-Maria Gropp nach: "Ganz entsprechend dem Gesetz der Medien, das über Wiederholung Wirkung erzeugt... sehen auch Jackies Kleider im Grunde alle gleich aus. 'Image control' heißt das Zauberwort. Sie sind auf die Grundformen abgeschminkte Couture französischer Provenienz, deren Anverwandlung gleich zwei Vorteile bringt: Zum ersten ist der Effekt, der die Trägerin von der Masse abhebt, eminent; so steht sie schon bei der Inauguration ihres Mannes neben ihm in einem wärmenden hellen Wollmantel von Cassini mit Fellchen am Hals und Muff, während die umgebenden Damen von schweren Pelzmänteln in den Boden gezogen werden. Zum zweiten garantieren die Einfachheit der Schnitte und ihre Farbwahl stets nicht nur sie als Mittelpunkt im damals noch schwarzweißen Medium Fernsehen, sondern auch in der Menge: So gerät ihr zweireihiger Givenchy-Mantel, mit dem sie in den Wahlkampf eintritt, zum scharlachroten Blickfang."

Zhou Derong erzählt die Geschichte der chinesischen Wochenzeitung Nanfang Weekend, die immer wieder die Zensoren auf den Plan ruft: Aber die Zeitung muss sich mit Recherchen gegen eine neue Konkurrenz wehren, denn sie erscheint in Guangdong, wo "die traditionellen Parteimedien keine Chance mehr (haben), da man längst Hongkonger Zeitungen erwerben und Hongkonger Fernsehprogramme empfangen kann. Hier muss man etwas Neues probieren. Und bei der Wochenzeitung scheint man zu versuchen, eine gewisse Distanz zur Partei zu wahren."

Phil Plait, Kulturkorrespondent der FAZ im All, liebt die "Next Generation" der Star Trek-Serie. Aber einige Details stören ihn: Dass man von innen durch die großen Fenster des Raumschiffs die Sterne sieht, obwohl das bloße Auge sie durch den Lichtunterschied von innen und außen normalerweise gar nicht wahrnehmen könnte. Und dass das Raumschiff durch Lichtnebel fährt, obwohl man diese Nebel nach Plait nur von ferne wahrnehmen kann und gar nicht bemerken würde, wenn man sich in ihnen befindet: "Nun weiß ich natürlich, dass es sich hier um Science-fiction, um eine erfundene Geschichte, handelt. Und ich weiß auch, dass das Universum großartig und von beeindruckender Schönheit ist. Aber wenn ich jetzt 'Star Trek' sehe, versetzen mir die besagten Szenen doch immer einen kleinen Stich. Denn auch wenn wir einst elegante Raumschiffe bauen können, um die Tiefen der Galaxien zu erkunden, so werden wir doch durch die Fenster in diesen Schiffen die Nebel niemals so gut erkennen können wie von unserem sicheren und altmodischen Standpunkt auf der Erde aus."

Weitere Artikel Christian Schwägerl sammelt Reaktionen von Politikern auf die von ihm recherchierte Tatsache, dass der Bonner Bioforscher Oliver Brüstle sich bereits 1998 umfassende Patente auf die Arbeit mit Stammzellen sicherte (und zwar reagierten die Politiker "überrascht, ungläubig, erstaunt, entsetzt"). Katja Gelinsky schildert die Auseinandersetzungen um das in Washington geplante neoklassizistische World War II Memorial. Und Alissa Walser legt eine kleine Erzählung vor: "Deine Finger reichen nicht bis November."

Bsprochen werden das "Klavierfestival Ruhr", die Ausstellung "The Genomic Revolution" in New York, die erstaunliche Wandlung des Techno-Stars Matthew Herbert zum Jazz in seiner neuen Platte "Bodily Functions", das Stück "Ein Inspektor kommt" von J. B. Priestley am Schauspielhaus Bochum, Franz Schrekers Oper "Flammen" in einer späten Kieler Urauffürung, die Ausstellung "LocusFocus", kuratiert von Jan Hoet, in Arnheim, Ausstellungen mit klassischer und neuer japanischer Kunst in Boston und Joseph Haydns "Feuersbrunst" bei den Wiener Festwochen.

Im Medienforum erfahren wir, das Silvio Berlusconi den öffentlich-rechtlichen Sender RAI vorerst noch in Ruhe lässt. Christian Welzacher klagt über die Kommerzialisierung von Suchmaschinen im Internet ("Die Suchmaschinenseiten sind prall gefüllt mit Werbung sämtlicher Provenienz. Das Suchfeld aber wird immer kleiner und muss mehr und mehr den bunten und bewegten Gimmicks der Werbekunden weichen." Will Welzacher für den Dienst lieber zahlen?). Außerdem schreibt Ingolf Kern zum 30. Geburtstag der Serie "Polizeiruf 110".

NZZ, 19.06.2001

Knut Henkel porträtiert den kubanischen Schriftsteller Miguel Barnet, dessen von ihm gegründete Stiftung Fernando Ortiz sich auch ethnologisch mit der Vielvölkerbuntheit seiner Heimatinsel auseinandersetzt. Sein kommender Roman soll von den Chinesen in Kuba handeln: "In dessen Mittelpunkt sollen die Einwanderer aus Kanton und Macau stehen, erklärt Barnet - die Kulis, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum Bau der Eisenbahn und als Erntearbeiter in der Zuckerrohrindustrie anwerben ließen. Gerade erst habe er mit den ethnologischen Studien begonnen; mit einem Buch sei in absehbarer Zeit nicht zu rechnen, wiegelt er ab, sich ungeduldig über die kahle Stirn fahrend."

Joachim Güntner hat Hans Mayer auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof besucht: "Es ist ein zentraler Platz in ihrer Mitte, den Hans Mayer erhalten hat. Hegel und Fichte liegen - im trauten Beieinander, doch mit Grabmälern, die in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu beider Wirkung stehen (Fichtes Grabstein, ein Obelisk mit Medaillon, überragt denjenigen Hegels beträchtlich) - nur wenige Meter vom Kopfende des Literaturwissenschafters entfernt."

Marc Zitzmann schreibt über neue Entwicklungen an Pariser Theatern und hier besonders über den neuen Chef der Comedie Francaise Marcel Bozonet, der angeblich den "Schlaftherapien für greise Abonnenten" ein Ende machen will: "Bozonnet, der nach zehn Jahren als Truppenmitglied des Hauses seit 1993 dem Pariser Schauspielkonservatorium vorsteht, trägt im Gespräch mit gewählten Ausdrücken reichlich ikonoklastische Projekte vor. Das Repertoire wolle er verbreitern, insbesondere was ganz alte und ganz neue Stücke betrifft - also einerseits griechische und lateinische Texte, anderseits Werke von Autoren wie Thomas Bernhard, Jon Fosse, Elfriede Jelinek, Bernard-Marie Koltes, Jean-Luc Lagarce, Lars Noren, Valere Novarina, Olivier Py und Werner Schwab." Incroyable!

Weitere Artikel: Hubertus Adam stellt das Rotterdamer Haus Sonneveld vor, das als Dependance des Nederlands Architectuurinstituut (NAI) eröffnet wurde. Besprochen werden ein Operettenspektakel von Systeme Castafiore in Mülhausen und einige Bücher, darunter neue Gedichte von Bei Dao und Tanja Dückers' "Cafe Brazil". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

SZ, 19.06.2001

Jacob Heilbrunn berichtet von einem neuen Trend in den USA: Man rüstet sein Heim mit DVD-Player, Videoleinwand, Computer und Rundumbeschallung aus und nennt das ganze "Home Theater". Heilbrunn hat nicht viel übrig für diese Entwicklung: "'Das Heimtheater fördert die Familienwerte!' behauptete der Chef der Consumer Electronics Association, Gary Smith, in Manhattan. Das Gegenteil ist richtig. Das Heimtheater erlaubt es jedem Zuschauer, sich in sein Schneckenhaus zurückzuziehen; vor allem macht es ihn aber zum Sklaven der Technik. Auf einer neuen Anzeige der Firma Cox Communications, die über hundert Kabelkanäle besitzt, sieht man eine Familie, deren Mitglieder damit beschäftigt sind, Filme anzusehen und gleichzeitig das Internet zu nutzen. Jeder ist für sich allein und von den anderen isoliert."

In der Rubrik "Frage und Antwort" erklärt der Bildhauer Olaf Metzel, warum er sich dagegen wehren will, dass das Finanzministerium nach 16 Jahren seinen Kranz mit dem Schriftzug "Stammheim" von der Außenwand des Stuttgarter Kunstgebäudes entfernen will: "Das Werk war eine Dauerleihgabe. Ich habe immer wieder gefragt, ob sie stört, aber bisher hat jeder Kunstvereinsleiters gesagt, dass er möchte, dass sie da bleibt. Wenn die Arbeit Künstlern im Weg gewesen wäre, hätte ich sie entfernt, aber wenn es das Finanzministerium stört, ist das natürlich etwas anderes."

Weitere Artikel: Wolfgang Schreiber denkt über die "Krise" der klassischen Musik nach, ohne dass man so recht verstünde, worin diese Krise eigentlich besteht. Willi Winkler ärgert sich ganz schrecklich über Marcel Reich-Ranickis Verkündung eines literarischen Kanons im Spiegel. Christian Kortmann schreibt über die frühen Reportagen Cameron Crowes im Rolling Stone. Und Wolfgang Farkas porträtiert den Autor Raul Zelik ("Friss und stirb trotzdem"): "Raul Zelik ist Deutscher. Aber stolz ist er höchstens auf seinen Vornamen, den er sich selbst gegeben hat; und auf den Nachnamen, der geliehen ist von seiner Ex-Frau, einer türkischen Gemüsehändlerin. Widersprüche, die sich schwer auflösen lassen: Da möchte einer möglichst international sein, der doch seine Herkunft aus der Umgebung von München nicht verleugnen kann. Und da möchte einer am liebsten ganz anders sein als der Rest - das aber möglichst unauffällig."

Besprochen werden David Gieselmanns "Herr Kolpert" im Darmstadter Schauspiel, John B. Priestleys "Ein Inspektor kommt" am Bochumer Schauspiel, ein "Peer Gynt" in Wiesbaden, ein "Idomeneo" in Darmstadt, eine Ausstellung über Farbholzschnitte aus der Renaissance und dem Barock in der Casa di Goethe in Rom und ein Polizeiroman von Ed McBain (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 19.06.2001

Hans-Klaus Jungheinrich kommentiert die Entwicklung in Bayreuth: "Eva Wagner-Pasquier räumte ein, nein, sie ließ durch ihren Anwalt (das Sprachrohr der öffentlichkeitsscheuen Managerin) einräumen, dass sie, wenn Wolfgang Wagner, eventuell doch, undsoweiter. Ein klitzekleines Wollen west noch an. Ein starker Griff scheint von dieser Seite nicht zu erwarten. Hat der alte Fuchs Wolfgang Wagner etwa doch recht mit seinen generös ausgestreuten Untauglichkeitsbescheinigungen, betreffend die Familienmitglieder der nachfolgenden Generation? Dass das Einknicken der ungeliebten Tochter von ihm ferngesteuert sein könnte, ist nicht völlig unwahrscheinlich. Eva Wagner-Pasquier verschafft sich mit dem Aufgeben der Partie Ruhe und ihrem Vater zumindest eine Verschnaufpause."

Dokumentiert wird die Rede des iranisch-deutschen Publizisten Navid Kermani zur Frage "Brauchen wir einen religiösen Dialog?" beim Kirchentag. Er scheint skeptisch zu sein: "Wir brauchen ihn bestimmt nicht, um über den Dialog zu sprechen. Ein Ehepaar, das sich ständig fragt, wozu und in welcher Form es miteinander sprechen soll, wäre ein Fall für den Beziehungstherapeuten. Ein Dialog, der sich selbst thematisiert, ist Ausdruck davon, dass man nicht wirklich miteinander spricht. Wer sich etwas zu sagen hat, führt nicht ständig das Wort Dialog im Mund."

Weitere Artikel: Konrad Watrin schreibt zum 40. Todestag des Revolutionärs Frantz Fanon (und weist auf ein Buch der Historikerin Alice Cherki hin, das jüngst in Frankreich erschien). Eva Schweitzer hat das D-Day-Museum in New Orleans besucht. Besprochen werden die Ausstellung "Creative Quarters - The Art World in London 1700-2000" im Museum of London, Ibsens "Peer Gynt" in Wiesbaden, Shakespeares "Cymbeline" in Bonn, eine "neue, simple, wilde Rock-Platte" von Iggy Pop und Mike Kelleys Ausstellung "Memory Ware" in der Jablonka Galerie Köln.

TAZ, 19.06.2001

Cornelia Vissmann stellt den italienischen Philosophen Giorgio Agamben vor, dessen Buch "Homo Sacer" im Herbst auf Deutsch erscheinen soll: "Das Buch bietet eine Analyse des sterblichen und von der Macht zugerichteten Körpers, die Rechtsfragen nicht ausblendet. Im Gegenteil. "Homo sacer" setzt mit einer Erörterung des Ausnahmezustands nach Carl Schmitt ein. Als juristische Analyse der Begründungsparadoxien von Souveränität und Ausnahmezustand enthält sie nicht einmal so sehr neue Einsichten. Die Pointe liegt vielmehr in der Verlängerung der rechtsphilosophischen Betrachtung auf eine unmittelbar politische. Der Ausnahmezustand ist nicht etwa irgendeine juristische Spitzfindigkeit. Er bringt den Körper der Verurteilten hervor. Bei Agamben sind es die Flüchtlinge und Staatenlosen, die Häftlinge in Konzentrationslagern, diejenigen, die das römische Recht in der Figur des Homo sacer definiert. Schlagartig wird deutlich, dass das 20. Jahrhundert von einer Politik des Ausnahmezustands getragen ist. Dass es deutlich werden kann, verdankt sich der Zusammenschau von Kantorowicz und Schmitt mit Foucault."

Jochen Schmidt erinnert sich daran, wie Popmusik in den Achtzigern die Angst vor dem Atomkrieg schürte: "Zu manchen dieser Lieder konnte man sogar langsam tanzen: 'And the world remembers his name, remembers the flame was Hiroshima'. Obwohl wir Mühe mit den englischen Texten hatten, war in diesem Fall klar, worum es ging, und man hatte ein schlechtes Gewissen, wenn man den Refrain in den Armen einer Angebeteten mitsummte."

Weitere Artikel: Dirk Knipphals kommentiert das "postnatale schlechte Gewissen der Jenny Elvers", und Falko Hennig stellt in seinem Literaturfestivaltagebuch in aller Kürze den vietnamesischen Schriftsteller Tran Dang Khoa vor.

Besprochen werden heute ausschließlich Bücher, darunter Jacalyn Carleys Roman "Was sagt das linke Knie zum rechten?" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.