Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.06.2001.

NZZ, 25.06.2001

Kosmopolitische NZZ.

Uwe Stolzmann porträtiert Claude Boucher, einen Missonar in Malawi, und einen der wenigen, der sich um die alten Kulturen des Landes mit seinen vierzig Sprachen kümmert, denn "bis 1994 regierte der anglophile Diktator Hastings Kamuzu Banda das vergessene Land im Süden Afrikas. Der skurrile Despot und vor ihm die britischen Herren zwangen ihre Untertanen, das afrikanische Erbe zu verachten. So wird die Kultur des Landes wohl nur in Aufzeichnungen von Wissenschaftern überleben - und in einer alten katholischen Mission."

Und Beat Stauffer erzählt, dass "Algeriens Hauptstadt trotz des Terrors im Land einen Kulturfrühling" erlebt. "Vieles weist in der Tat auf eine Aufbruchstimmung hin. Im Herbst des vergangenen Jahres gab Khaled, der Weltstar des algerischen Rai, zum ersten Mal wieder ein Konzert in seinem Land. Es wurde zu einem Happening, wie es Algier noch nie erlebt hatte. In den armen Vorstadtquartieren der Hauptstadt wurde der Rap als neue musikalische Ausdrucksform entdeckt; er scheint dem Rai bereits den Rang abgelaufen zu haben. In der Innenstadt und in gewissen Außenquartieren sind zahlreiche Galerien eröffnet worden. Im großen Saal des Kulturzentrums Riad el-Fath finden Jazzkonzerte statt; undenkbar noch vor wenigen Jahren, weil Jazz als westlich-dekadentes Kulturgut verpönt war. Auch die algerische Filmbranche scheint zu florieren: Fünf Filme, mehr als je zuvor, seien gegenwärtig in Produktion, weiss die Filmproduzentin Malika Laichour."

Weitere Artikel: Gabriele Reiterer berichtet über Erweiterung und Sanierung der Wiener Albertina. Christiane Zintzen porträtiert den Psychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer. Eva Clausen stellt den Spielplan des Römischen Teatro Argentina vor. Besprochen werden ein kleines Basler Festival Neuer Musik und der Beginn der Zürcher Festspiele (die Bamberger Symphoniker mussten ihren geplanten Aufttritt wegen "finanzieller Schwierigkeiten" absagen).

TAZ, 25.06.2001

Gabriele-Goettle-Tag. Heute porträtiert die Reporterin "Klaus Malinowski, Orthopädie-Schuhmachermeister, leitet die "Jacob Böhme"-Orthopädie-Schuhmacher GmbH i. Berlin". "Die häufigsten orthopädischen Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, sind Fußschwäche, Abnützungserscheinungen, Senkfüße, Plattfüße, zweitens sind das angeborene Anomalien und drittens durch Krankheit oder Unfall erworbene Schäden, bis hin zu Verstümmelungen."

Außerdem liefert Falko Hennig eine weitere Folge seines Tagebuchs vom Berliner Literaturfestival.

Schließlich Tom.

SZ, 25.06.2001

Die SZ druckt ebenfalls Auszüge aus der Rede Hubert Markls. Fritz Göttler kündigt sie in einem eigenen Artikel enthusiastisch an: "Die Rede besitzt einen hohen Grad an Reflexivität, Markl hat die Sicht einer Biologie beschrieben, die sich nicht betriebsblind schimpfen lassen will, die sich vernetzt weiß mit der Restwissenschaft, aber auch mit dem ethischen Rahmen der Republik. Die sich also ihrer eigenen Position bewusst ist ? und der Rolle, die sie spielt im Prozess der politischen Entscheidungsfindung."

Petra Steinberger berichtet über den Ersten Weltkongress gegen die Todesstrafe in Straßburg, den die französische Menschenrechtsorganisation "Ensemble contre la peine de mort" zusammen mit "dem Europarat, dem Europäischen Parlament, diversen europäischen Parlamenten und internationalen Organisationen wie Amnesty International und Menschenrechtsliga" veranstaltet hat. Auf der Anklagebank fand sich vor allem: die USA. "Die alte Rivalität zwischen der alten Grande Nation und der größten modernen Supermacht war nicht zu übersehen, wie überhaupt eine allgemeine europäische stereotype Empörung gegenüber dem arroganten Bündnispartner, der weltweit die Menschenrechte propagiere und doch nicht in der Lage sei, dieses Relikt aus frühzivilisatorischen Zeiten endlich abzuschaffen. Und dennoch: Wer sonst als Amerika, meinte der große alte Streiter wider die Todesstrafe innerhalb und auch außerhalb Frankreichs, Robert Badinter, Mitglied des französischen Senats, ehemaliger Justizminister und ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichts, wer sonst als Amerika solle dem Rest der Welt das Beispiel geben? Stehende Ovationen, überhöht mit ein wenig Antiamerikanismus."

Burkhard Müller-Ullrich berichtet über den Prozess gegen den Dirigenten und Komponisten Michel Tabachnik wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, nämlich der Sonnentempler-Sekte. "Es gab Augenblicke, da konnte man sich das Lachen kaum verbeißen: Zeugen erzählten von Erscheinungen, die sie hatten und haben, von großen Meistern, deren Stimmen zu ihnen sprechen, und von spiritistischen Sitzungen, bei denen kosmische Kinder gezeugt wurden ... Was die Sache weniger ulkig macht, ist die Zahl der Leichen, die es im Laufe dieses geistigen Abenteuers gegeben hat. Vierundsiebzig Menschen starben in den Jahren 1994 und 1995 bei einer Serie von rituellen Tötungen und Selbsttötungen unter Mitgliedern der so genannten Sonnentempler- Sekte."

Weitere Artikel: Konrad Lischka fordert ein neues Urheberrecht, das Musiker vor den Musikkonzernen schützt, die ihre "alte marktbeherrschende Position" inzwischen auch auf das Internet ausgedehnt haben. Ira Mazzoni berichtet über ein Symposium in Nürnberg, das sich mit dem vormaligen DDR-Staatskünstler Willi Sitte auseinandersetzte. Ein mit "sus" zeichnender Redakteur hat sich bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises gelangweilt. Und Wolfgang Schreiber würdigt den verstorbenen Dirigenten Ernest Bour.

Besprochen werden eine Ausstellung über Königin Luise im Schlossmuseum von Bad Pyrmont, eine Ausstellung über Geschichte und Restaurierung des Kolosseums und politische Bücher (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 25.06.2001

Christian Schlüter musste nach Markls Rede "zuerst einmal Luft holen" und versichert: "Das Feuilleton ist natürlich nicht gleichgeschaltet, die Freiheit der Forschung ist natürlich unbestritten und natürlich sind Wissenschaftler keine Nazis. Anders gesagt, Markl rennt offene Türen ein, seine Rede bleibt also semantisch leer. Weiß der Geier, wen Markl mit seiner Generalinvektive da meint." Falls er Christian Geyer von der FAZ meint: Der schreibt sich doch mit Ypsilon!

Weitere Artikel: Veronika Rall fragt: "Welchem Zweck, welchem Ende dient der 51. Deutsche Filmpreis?". Johannes Wendland schildert die Auseinandersetzungen um eine geplante Tiefgarage am Berliner Bebelplatz, die das unterirdische Mahnmal "Bibliothek" von Micha Ullman (das an die Büpcherverbrennung erinnert) in seiner Wirkung beeinträchtigen könnte. Und Andreas Hauff hat sich die "Five Movements" in Frankfurt angehört, in denen fünf Komponisten kleine musikdramatische Werke vorstellten. Besprochen werden heute politische Bücher (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 25.06.2001

Die Ankündigung des Textes durch die Redaktion klingt leicht pikiert. "In unverstellter Deutlichkeit" fordert Hubert Markl, der Präsident der Max-Planckgesellschaft, in einer durch die FAZ dokumentierten Rede, das Ei nicht mit dem Huhn zu verwechseln (so sagt er es!) und also den Zweizeller auch nicht mit dem Menschen. Zu Beginn der Rede macht Markl sich selber Mut: "Glaube niemand, dass es mir leicht fällt, gleichzeitig den ökumenisch vereinten deutschen Bischofskonferenzen, den Partei- und Fraktionsvorsitzenden von CDU, CSU und Grünen, dem biopolitisch gleichgeschalteten Gesamtbioethikrat deutscher Tageszeitungen und dann sogar auch noch dem Bundespräsidenten zu widersprechen, als frecher Hecht im dicht an dicht besetzten Karpfenteich moralischer Hochgesinnung. Aber dann dachte ich an Harry Truman: 'Who, if not you? When, if not now? Tomorrow you will be gone!'"
Übrigens machen sich heute die überregionalen Zeitungen gnadenlose Konkurrenz: Auch die SZ dokumentiert die Rede Markls, aber in anderen Auszügen (während die FAZ sie im Internet nicht freigibt). Journalistenschulen sollten sich die beiden Versionen ausreißen, um ihre Studenten über die Finessen deutscher Redaktionsarbeit meditieren zu lassen! Komplett kann man die Rede übrigens auf der Adresse der Max-Planck-Gesellschaft lesen.

Michael Allmaier hat der Verleihung der Deutschen Filmpreise beigewohnt und sich dabei recht unfeierliche Gedanken über die Lage des deutschen Kinos gemacht: "Die deutschen Filme des Jahres 2000 sind ohne jeden Nachhall aus den Kinos verschwunden. Man findet die seinerzeit stark subventionierten Produktionen allenfalls noch in einzelnen ebenso stark subventionierten kommunalen Programmkinos; aber solange das Zuschauen nicht auch noch subventioniert wird, muß man damit rechnen, dort alleine zu sitzen."

Patrick Bahners erzählt, wie kompliziert es ist, das Gästehaus der Universität Wuppertal zu erreichen, schaffte es aber dann doch, Loriots Dankesrede für die Verleihung eines Ehrendoktors zuzuhören. Loriot sagte: "Als ersten verbürgten Eindruck meines Lebens empfing ich den Blick auf eine rötliche Kasernenwand, deren wilhelminisch dekorativ geziegelte Oberfläche zunächst dem Auge, später auch dem Griff des schwankenden Kleinkindes Zuversicht und Stütze bot. Das geschah in der Stadt Brandenburg. Seither verschwimmen in meiner Erinnerung altväterliche Kasernenbauten und mütterliche Brust zu einem harmonischen Ganzen."

Weitere Artikel: Martin Lhotzky erklärt uns in aller Ausführlichkeit, warum sich der britische Kleidungshändler Marks & Spencer vom Kontinent zurückzieht (Sorgen hat das FAZ-Feuilleton!) Paul Ingendaay schickt einen Reisebericht über die andalusische Stadt Ronda, die sich an einen atemberaubenden Felsabgrund klammert, Reminszenzen an Rilke parat hält und außerdem Restaurants bietet, die Rhabarbar verarbeiten (und Rhabarbar, so erfährt man, ist in Spanien ein seltenes Gut). Jordan Mejias erzählt die Geschichte des berühmten Historikers Joseph E. Ellis, der für seine Jefferson-Biografie und sein jüngstes Buch "Revolutionary Generation" den Pulitzer-Preise erhielt, seine eigene Lebensgeschichte aber schönte: Er war weder in Vietnam noch Veteran der Bürgerrechtsbewegung, wie er immer behauptet hatte. Der Boston Globe wies es nach, und der Professor trat zurück. (Wir haben zu dieser hübschen kleinen Geschichte einen Link des Tages zusammengestellt.) Ferner gratuliert Michael Adrian dem Verlag Kiepenheuer & Witsch zum Fünfzigsten und Hans-Dieter Seidel dem Regisseur Denys Arcand zum Sechzigsten. Und Siegfried Stadler stellt das Mahnmal vor, das in Leipzig an die Stelle der ehemaligen Synagoge gesetzt wurde: 140 Stühle aus Bronze, in Reihen aufgestellt.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von James Ensor im New Yorker Drawing Center, Henzes "Floß der Medusa" in Hamburg, das Festival "Der Romanische Sommer" in Köln, das Drama "Jedermoo" von Fitzgerald Kusz in Nürnberg, eine Ausstellung der Fotografin Yva im Verborgenen Museum, Berlin, die katholische Pfarrkirche Herz-Jesu in Völklingen-Ludweiler, die Antwerpener Gedenkfestspiele zum 100. Todestag des flämischen Nationalkomponisten Peter Benoit und Heinz Spoerlis Bach-Choreografie "All Shall Be" bei den Schlussfestspielen Ludwigsburg.