Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2001.

FAZ, 27.06.2001

Die FAZ hatte heute morgen um halb neun noch nicht alle Artikel im Netz. Daher kann der ein oder andere Link falsch sein.

Gerhard R. Koch hat die 85-jährige Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf in ihrem Haus bei Zürich besucht. "Eine selbstbewußte Künstlerin, ihres historischen Ranges gewiß, nutzt die Gelegenheit, eine Epoche noch einmal zu resümieren, sich in ihr zu positionieren - und die Gegenwart kritisch an ihr zu messen. Dass sie außerordentlich konservativ ist, normativ-autoritär harte Urteile nicht zurückhält, war bei Liedkursen für Jüngere mitunter herb zu erleben." Leider hat sich Koch entschieden, das ganze Gespräch in indirekter Rede wiederzugeben. So findet man von den harten Urteilen nur einen schwachen Abglanz. "Ganz negativ beurteilt sie Glenn Gould, mit dem sie Strauss' 'Ophelia'-Lieder aufgenommen hat: Der habe sich die 'takes' gar nicht angehört, lieber autistisch vor sich hin phantasiert. Doch den Bach-Spieler lässt sie gelten; obwohl auch da die Reserve gegen sein prinzipiell wenig gebundenes Spiel anklingt. Seltsamerweise mag sie aber auch den Kantilenen-Ziseleur Horowitz nicht. Und ganz ungnädig äußert sie sich über Georg Solti: einen Londoner "Rosenkavalier" 1959 empfand sie als misslungen, kann oder will dies nicht begründen - die 'Chemie' habe einfach nicht gestimmt." Das hätte man doch gern im O-Ton gehört. Und auch, wie sie "etwaige Fragen nach den Jahren 1938 bis 1944" mit "allzu demonstrativ unwirscher Abwehr" abbügelte.

Joseph Hanimann schildert die Schwierigkeiten des laizistischen Frankreichs im Umgang mit Sekten. In sechs Jahren hat das Parlament drei Sektengesetze verabschiedet. "Seit der politischen Inthronisierung des Citoyen durch die Französische Revolution gilt die individuelle Denkfreiheit dem Staat als das Selbstverständliche, die Glaubenszugehörigkeit hingegen als potentiell pathologisch und suspekt."

Weitere Artikel: Sonja Margolina hat russische Zeitungen gelesen, die sich mit dem aufkommenden Neoeurasiertum in Russland auseinandersetzen, der Rostocker Staatsrechtler Michael Pawlik erklärt, warum das geltende Abtreibungsgesetz die Verhinderung bio-industrieller Nutzung der Föten erschwert, Richard Kämmerlings berichtet von einem Autorentreffen in Krakau, das sich mit dem Phantom einer Chamisso-Literatur beschäftigte, Katja Gelinsky berichtet von einem Urteil des Supreme Court, wonach Zeitungsverlage Artikel, Bilder und Zeichnungen freier Journalisten nicht ohne deren Zustimmung ins Internet stellen dürfen, Lars-Olav Beier gratuliert dem Kameramann Jost Vacano ("Das Boot"), der heute vom Kuratorium des Deutschen Kamerapreises als Ehrenkameramann des Jahres ausgezeichnet wird, ein mit "mli" zeichnender Rezensent gratuliert dem Physiker Martinus J. G. Veltman zum Siebzigsten, Bert Rebhandl schreibt zum Tod des Filmregisseurs Kurt Hoffmann und Wilfried Wiegand zum Tod des französischen Journalisten Roger Therond.

Besprochen werden Theateraufführungen im Rahmen der siebten "Zonenrand-Ermutigung" in Cottbus, die "Schubertiade" in Schwarzenberg, die Ausstellung "Frankfurter Kreuz" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, Paul Hindemiths "Mathis der Maler" in Hannover und die Leo-Beck-Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt.

Auf der Stilseite war Ingeborg Harms mit ihrer Mutter essen bei Hans-Paul Steiner im "Hirschen", und Karin Leydecker bespricht eine Ausstellung mit Bilderbüchern von Ida Bohatta im Badischen Landesmuseum Karlsruhe.

NZZ, 27.06.2001

Einen etwas wabrigen Essay über die Notwendigkeit von Geschichte legt der Althistoriker Christian Meier vor: "Wir haben es ja nicht nur mit einer wissenschaftlichen und technischen Revolution zu tun. Auch unsere außenpolitische Orientierung und Stabilisierung ist, durch den Zusammenbruch des Ostblocks, hinfällig geworden. Wir wissen nicht, ob und welche Zukunft unsere Staaten haben, unsere Demokratie und - ein besonders aufschlussreicher Lackmustest - woraufhin wir eigentlich unsere Kinder erziehen sollen. So sind wir auf das, was wir alle zusammen bewirken, nicht vorbereitet. Entsprechend verschwimmen uns die Maßstäbe. Es entsteht ein Wettlauf mit der Zeit, mit der Eile der Veränderungen. Wir wissen nicht, ob und wann wir sie mit den Apparaturen unseres Wissens, Erkennens, Urteilens (und auch unseres Uns-Verständigens) einholen können. So scheint mithin unserer Zeit die Zeit davonzulaufen."

Urs Steiner beschreibt ein Gebäude in New York, das nun wohl nicht mehr gebaut wird: "An der Südseite des Astor Place, zwischen Lafayette Street und Fourth Avenue, sollte sich ein metallisch glänzendes Gebilde erheben, dessen unregelmässige Form das Resultat gestalterischer Kreativität einerseits und gesetzlicher Vorgaben anderseits ist. Das Hauptgebäude schwebt über einem mehrgeschossigen öffentlichen Raum, zurückversetzt hinter eine städtische Plaza und flankiert von einem kleinen Satellitengebäude." Es sollte ein Hotel werden, gemeinsam entworfen von den heißesten Architekturbüros der Gegenwart, nämlich Herzog & de Meuron und Rem Kohlhaas - aber der Bauherr hat das Projekt jetzt abgeblasen.

Besprochen werden die Wiener Tagung über Gedächtnis und Wiedergutmachung, das Internationale Literaturfestival in Berlin und einige Bücher, darunter eine neuer Band mit Prosa von Max Goldt, Jesus Diaz' Roman "Erzähl mir von Kuba" und ein Band des palästinensischen Lyrikers Mahmud Darwisch. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

SZ, 27.06.2001

"Das alte, durchzentralisierte, einheitliche Vereinigte Königreich ist ... tot", konstatiert Timothy Garton Ash und fragt: "Die Frage ist nur noch: Was wird an seine Stelle treten?" Er sieht die Antwort im Föderalismus und in Europa. "Die britische Opposition gegen Europa ist eigentlich eine englische Opposition dagegen - ein Grund mehr, warum die Konservativen nur in England Stimmen erringen konnten. In Schottland und Wales ist die Einstellung zu Europa viel positiver. Eine konservative Opposition, die unbeirrt an ihrem europafeindlichen Kurs festhält, könnte am Ende genau das zerstören, was sie zu verteidigen vorgibt: das Vereinigte Königreich." Und nebenbei erfährt man, dass die britischen Konservativen tatsächlich in den Regionalparlamenten praktisch gar nicht vertreten sind.

Alex Rühle erklärt den sagenhaften Erfolg der französischen Big-Brother-Version "Loft Story" mit alten französischen Traditionen: "Etwa 250 Jahre vor der Erfindung des Privatfernsehens, spielte Marivaux in seinem Stück 'La Dispute' den Versuchsaufbau von Loft Story durch: Um zu sehen, ob die Männer oder die Frauen die Untreuen seien, lässt ein adliges Ehepaar vier Jungen und Mädchen fernab der Zivilisation von einem alten Dienerpaar großziehen. Als aus den Kindern Jugendliche geworden sind, jagen die Laboranten ihre Versuchskaninchen aufeinander los. Was mit glücklichem Turteln beginnt, eskaliert in kürzester Zeit, es kommt zu so ekligen Intrigen und Gewaltausbrüchen, dass die Prinzessin das Experiment abbricht: 'Ich will das nicht mehr sehen!'" Hoffen wir, dass es beim Fernsehpublikum bald zu ähnlichen Reaktionen kommt.

Weitere Artikel: Unter dem Titel "Ich bin die Zukunft" meldet die SZ, dass Wolfgang Wagner ein Ende der Nachfolgedebatte in Bayreuth fordert - "Die Bildung eines so vielgestaltigen Ensembles und komplizierten Spielplanes wie der Festspiele dürfe .. 'nicht zufälligen oder oktroyierten Kräften übergeben werden'." Otto Kallscheuer hat beobachtet, dass "der Papstbesuch in der Ukraine das Schisma zwischen Vatikan und russischer Orthodoxie (verdeutlicht)". Michael Struck-Schloen erzählt, dass die Kölner Musikhochschule in Montepulciano eine Begegnungsstätte für europäische Musiker schaffen will. Susan Vahabzadeh schreibt zum Tod des Filmregisseurs Kurt Hoffmann und Reinhard J. Brembeck zum Tod des Flamenco-Sängers Manuel Soto Sorderas.

Besprochen werden zwei Ausstellungen über Mies van der Rohe im Museum of Modern Art und im Whitney Museum in New York, eine Wiener Tagung über "Gedächtnis und Restitution", der "Romanische Sommer" in Köln und der Heidelberger Stückemarkt.

Auf der Berlin-Seite erfahren wir, dass sich die Berliner Clubszene im Niedergang befindet und dass Kultursenatorin Adrienne Goehler das Theater des Westens rettet - "vorerst".

FR, 27.06.2001

Klaus Bachmann schildert anlässlich des Papstbesuchs in der Ukraine den Machtverlust der orthodoxen Kirche in Osteuropa: "Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte sie alle Mühe, sich in den unabhängig gewordenen Nachfolgestaaten vom Odium der Moskauhörigkeit, ihrer engen Bindung an die Sowjetmacht und zu den Geheimdiensten zu befreien... In den baltischen Staaten triumphierte die römisch-katholische Kirche, in Weißrussland stießen amerikanische und westeuropäische Protestanten in das religiöse Wertevakuum vor. In der Ukraine erstand die unierte Kirche wieder und forderte ihre alten Rechte von einer Staatsführung, die ihre Kirchenhierarchie von Moskau lösen und ihre kulturelle und politische Verankerung im Westen unter Beweis stellen wollte. Und die Orthodoxie, bis dahin fest in der Hand der Moskauer Patriarchen, spaltete sich ausgerechnet in der Ukraine, von wo die Christianisierung der Kiewer Rus und indirekt des Moskauer Großfürstentums im Mittelalter ausgegangen war."

Weitere Artikel: Rüdiger Suchsland erzählt, wie Lara Croft in dem Film "Tomb Raider" "zur braven Kinoschwester wurde". Peter Körte schreibt zum Tod von Kurt Hoffmann. Dirk Fuhrig mokiert sich über das badische Kunstprojekt "Europa im Fluss" - ein ökologisch korrektes Floß aus 2001 im Sturm gefällten Stämmen fährt den Rhein herunter, um europäische Verbundenheit zu symbolisieren. Peter Scharf bespricht die neue CD von Prefab Sprout. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Frankfurter Kreuz - Transformationen des Alltäglichen in der zeitgenössischen Kunst", eine Tagung über Wolfgang Koeppen in Rendsburg und der Heidelberger Stückemarkt.

TAZ, 27.06.2001

Christian Semler hat sich die Berliner Ausstellung "Europas Mitte um 1000" angesehen und kritisiert, "dass der Machtkampf unterbelichtet ist, der sich bei der Christianisierung und Staatenbildung in Ostmitteleuropa zwischen Byzanz und dem Imperium, zwischen lateinischer und orthodoxer Kirche abgespielt hat. Die 'katholische Option' der Ungarn und Westslawen war machtpolitisch begründet, wird aber in der Ausstellung als quasi naturwüchsig dargestellt. Konsequenterweise findet man fast nichts über die orthodoxe Kiewer Rus - immerhin der mächtigste Staat im europäischen Osten und Verbündeter von Byzanz. Parallelen zwischen diesen Auslassungen und der gegenwärtigen Ostpolitik der EU drängen sich auf." Die Ausstellung ist im Martin-Gropius-Bau zu sehen.

Daniel Bax besucht ein Festival türkischer Popmusik in Bochung und konstatiert: "Obwohl fremde und exotische Klänge unter dem Sammelbegriff Weltmusik immer gefragter sind, allerorten kunterbunte Festivals aus dem Boden schießen und etablierte Jazzfestivals ihr angegrautes Programm damit aufmöbeln, ist türkische Musik bisher noch kein Teil dieses Trends geworden."

Weitere Artikel: Rudolf Walther bespricht die Ausstellung über Leo Baeck im Frankfurter Jüdischen Museum, und Detlef Kuhlbrodt klagt in einer Kolumne über sein Dasein als freier Journalist.

Schließlich Tom.