03.07.2001.
NZZ, 03.07.2001
Ulrich M. Schmid
erinnert an
Tadeusz Borowski, der sich vor 50 Jahren das Leben nahm: "In den Erzählbänden 'Abschied von Maria' (1947) und 'Steinerne Welt' (1948) zeichnet Borowski eine
emotionslose Vision der Nazi-Vernichtungslager. Die Kritik stieß sich vor allem am Fehlen
jeglichen moralischen Engagements und warf dem Autor eine nihilistische Weltsicht vor. In der Tat verschwimmen bei Borowski die Grenzen zwischen Tätern und Opfern - seine Erzählungen sind
jenseits von Gut und Böse angesiedelt."
Über die Praxis des
"Ehrenmords" an vergewaltigten Frauen oder "Ehebrecherinnen" besonders in islamischen Ländern
berichtet Cristina Erck: "
Pakistan gehört wie die
Türkei und
Jordanien zu den Ländern, in denen diese euphemistisch 'Ehrentötungen' genannten Morde zunehmen. In Jordanien haben sich Mitglieder der
Königsfamilie an die Spitze einer Bewegung gestellt, die dagegen angeht. Letzten Februar marschierten sie mit vor das Parlament, um ihrem Anliegen Nachdruck zu geben, dass Artikel 340 des Strafgesetzes geändert wird. Dieser stellt Vollstrecker von 'Ehrenmorden'
von der Strafe frei. Unter den 5000 Demonstranten wehten viele schwarze Fahnen als Zeichen der Trauer für die Opfer. Prozentual hat das kleine Königreich mit jährlich 30 'Ehrenmorden' die weltweit höchste Rate dieser Todesart."
Weitere Artikel: Heribert Seifert
schreibt über die Schönheiten des
internationalen Schüleraustauschs. Peter Niklas Wilson hat den
Nachruf auf Joe Henderson verfasst. Besprochen werden eine
Marino-Marini-Austellung in München und einige
Bücher, darunter
neue Studien zu Carl Schmitt und ein
Gedichtband von Julian Schutting. (Siehe unsere
Bücherschau ab 14 Uhr.)
SZ, 03.07.2001
Die Regisseurin
Aleksandra Jovicevic erzählt, wie sie hörte, dass
Milosevic an das Haager Tribunal
ausgeliefert worden war. Sie war gerade dabei, sich für ein Fest in der französischen Botschaft in Belgrad zu schminken, wo die Opernsängerin Biserka Cvejic zur Chevaliere der Französischen Ehrenlegion ernannt werden sollte. "
Tränen liefen mir über das Gesicht und verschmierten mein Make-up, Tränen der Aufregung und des Glücks, aber auch der Erleichterung und der Scham. Ich war so
durcheinander, wusste nicht was tun, in die Französische Botschaft gehen oder nicht, oder alle meine Freunde anrufen, um die Neuigkeiten zu besprechen. Schließlich entschloss ich mich, geradewegs zum Empfang zu gehen, um zu sehen, ob diese kurze Mitteilung tatsächlich real war oder nur
mein eigenes Hirngespinst. Und als ich dort eintraf, merkte ich, dass dort die meisten Menschen, die bereits im Publikum saßen und auf den Beginn der Zeremonie warteten, noch gar nicht mitbekommen hatten, was geschehen war. Die Empfangshalle war von
Sonnenlicht durchflutet, das in dieser so genannten magischen Stunde des Tages alles und jeden
schöner und eleganter machte als gewöhnlich."
Die Schriftstellerin
Slavenka Drakulic ist weniger optimistisch. Sie
berichtet von einer
Parade Homosexueller in Belgrad am vergangenen Wochenende, die von einem "Mob von ein paar Tausend Fußballanhängern und Mitgliedern
faschistischer Jugendorganisationen" gesprengt worden war. "Der
Hass auf die 'Anderen' verschwindet nicht über Nacht, nur weil Slobodan Milosevic am Ende doch nach Den Haag gebracht wurde. Irgend jemand müsste den Serben erklären, dass es, wenn es darauf ankommt, keinen Unterschied zwischen den 'Anderen' gibt. Gestern waren es die Muslime, heute sind es die Albaner aus dem Kosovo, morgen die Homosexuellen und eines Tages vielleicht
Menschen mit blauen Augen." Es werde noch lange dauern, bis der Geist Milosevics ausgetrieben sei, prophezeit sie.
Hans-Peter Kunisch hat sich mit dem
Bachmann-Preisträger Michael Lentz unterhalten und ihn
gefragt: Wie wird man Schriftsteller? "Lentz schaut am Küchentisch seiner Münchner Wohnung mit großen Augen in die Luft. 'Wahrscheinlich erstmal, weil mir
langweilig war. Ich hatte am Gymnasium ziemlich schnell für einige Dinge keine Zeit mehr. Lesen war spannender als vieles andere, was
täglich in Düren passiert ist.'"
Weitere Artikel:
Paul Müller, frisch gekürter
Chef der Bamberger Symphoniker, erzählt im
Interview, warum er nicht nur mit berühmten Dirigenten arbeiten möchte, Claus Heinrich Meyer
verteidigt Berlin gegen "die alte West-Elite". Und auf die Frage, was ihn in letzter Zeit zum
besseren Menschen gemacht habe,
erzählt der
Künstler Flatz, wie er einen Vogel aus dem Rachen seiner Tigerpython rettete. "Niemand kann sich vorstellen, wie es ist, mit dieser
vier Meter langen Würgeschlange um ihre Beute zu kämpfen. Sie hatte den Vogel schon fast verschlungen, als ich sie angegriffen, ihr Maul mit einem
Messergriff aufgehebelt und ihr dabei auch
einige Zähne gebrochen habe." Ob die Python das zur besseren Schlange gemacht hat?
Artikel zum
Münchner Filmfest widmen sich dem
"magischen Kino" des
Jean-Pierre Jeunet ("Amelie Poulain") und der
Verleihung des CineMerit Award an
Jacqueline Bisset.
Besprochen werden
Alexander Langs "Hamlet"-Inszenierung in Weimar, die
Ausstellung "Desire" in der
Blickle-Stiftung in Kraichtal, eine CD mit Strasfogels
Klavier-Transkriptionen von
Werken Franz Schrekers, aufgenommen von
Kolja Lessing, die Aufführung von Neil LaButes
Theaterstück "Bash" in Mannheim,
Rolf Hochhuths Frankfurter Vorlesung über die Geburt der Tragödie und
Bücher, darunter Tanja Dückers Erzählband
"Cafe Brazil" und eine
Biografie über Otto Schily (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FR, 03.07.2001
Niels Werber
unterhält sich mit dem Historiker
Hans Ulrich Gumbrecht, dessen Buch
"1926" bekanntlich einen neuartigen synchronen Ansatz der Geschichtssschreibung verfolgt: "Gefragt nach der Bedeutung des
New Historicism für sein Buch, bekräftigt Gumbrecht, nicht 'mit den Toten reden' zu wollen wie
Stephen Greenblatt, sondern 'sich an den Oberflächen zu reiben'. Hinter diese Oberflächen zu schauen, vermeidet Gumbrecht, es gehe ihm nicht um eine Hermeneutik des (Besser-)Verstehens, sondern um die
Vergegenwärtigung. Er wolle 1926 so sprechen lassen, wie Flaubert Madame Bovary träumen lässt." Über das Buch wird im Zürcher
Museum für Gestaltung eine "Revue1926" präsentiert.
Pascale Hugues, ehemalige
Liberation-Korrespondentin in Berlin,
schildert mit einer gewissen
Nostalgie, wie die
französische KP zur Folklore ihres Landes gehörte, um dann ihren Schrecken über die
antikommunistischen Töne im Berliner Wahlkampf kundzutun: "Soviel Wut und Zorn machen mich misstrauisch. Natürlich hat Deutschland seine ganz
besonderes Geschichte mit dem Kommunismus; das Land hat sich schmerzlich daran gerieben... Doch bleibt eine unbestreitbare Tatsache: Bis zu 40% der Ostberliner sind für die PDS; in der ganzen Hauptstadt sind es 17%. An der in Wahlen bestätigten
Legitimität der Partei kann es keinen Zweifel geben... Sie werden die PDS am besten los, Herr Dr. Steffel, wenn Sie sie nicht mit Schmutz bewerfen, sondern vielmehr
selbst so attraktiv, so überzeugend, so stark werden, dass Sie ihr die Wähler abspenstig machen koennen." Wie soll er das denn machen?
Deprimierendes berichtet Hans Wolfgang Hoffman aus
Görlitz. Das Stadtzentrum mit seinen vielen bedeuteden Bauten wurde nach der Wende vorbildlich renoviert: "Doch Görlitz ist nicht allein Lehrbuch der Nation, sondern auch ihr
Leerstück. Die Stadt wirkt heute wie ein
Geisterschloss. Ein schöner Spielplatz bleibt selbst zu besten Tageszeiten unbenutzt. Jede vierte Wohnung ist
verwaist, doppelt soviel wie im Mittel der Neuen Bundesländer. Und ausgerechnet die historische Altstadt hält mit fast
50 Prozent den Spitzenplatz. Hier stehen selbst runderneuerte Residenzen
vollkommen leer... Die Immobilieninvestitionen vermochten kein prosperierendes Gemeinwesen nach sich zu ziehen. Den Optimismus, der den
Aufbau Ost allenthalben dominierte, entlarvt gerade Görlitz in seiner ganzen Unzulänglichkeit."
Weitere Artikel: Eckhard Henscheid
fand das
"Gewäsch des Monats" diesmal in der Herbstvorschau des
Suhrkamp-Verlags. Christian Broecking
schreibt zum Tod des Saxophonisten
Joe Henderson. Thorsten Jantschek
macht Anmerkungen zu
Neil LaButes aufregendem Geständnisstück "Bash" - und Marlon Metzens "lauer" Inszenierung in Mannheim. Silke Hohmann hat einer Tagung des
Deutschen Werkbunds zugehört. Besprochen wird eine Ausstellung mit
Arbeiten von Thomas Demand im
Sprengel Museum Hannover.
TAZ, 03.07.2001
Ohne großes Aufsehen zu erregen, tagte in Berlin das
Russell-Tribunal über Menschenrechte in der Psychiatrie (siehe unseren
Link des Tages vom letzten Donnerstag). Martin Altmeyer hat der Tagung
zugehört, schildert, wie sie die heutige Psychiatrie mit der der
Nazis gleichsetzte (die Kommunisten kommen im System des Tribunals offensichtlich immer noch nicht vor) und schließt: "Das Russell-Tribunal
erinnerte in nichts mehr an die humanistische Tradition, die mit der Untersuchung der Verbrechen im Vietnamkrieg einmal begonnen hatte."
Weitere Artikel: Manfred Schneckenburger
berichtet, wie die
CDU in Minden eine Skulptur des Künstlers
Wilfried Hagebölling entfernen will. Sven Lager
legt eine kleine Erzählung zum 30. Todestag von
Jim Morrison vor. Besprochen werden einige Bücher, darunter
Erwin Mortiers Roman "Marcel" und eine
Monografie über Jim Morrison und die Doors von Hans Pfitzinger (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Schließlich
Tom.
FAZ, 03.07.2001
"Präsentieren geht über Regieren". Der französische Medientheoretiker
Paul Virilio lanciert auf der Medienseite der
FAZ ein leidenschaftliches Manifest gegen
Silvio Berlusconi: "In dem Augenblick, als die europäische Presse einhellig und zu Recht die 'Machtübernahme im Fernsehsender NTV durch
Putin' anprangerte, erhob sich bei den westlichen Medien kaum Widerspruch dagegen, dass Berlusconi in Italien die Macht übernahm - im Zuge einer
teledemagogischen Wahl, die den Ausschlussverfahren, wie man sie aus der Tele-Realität kennt, nicht unähnlich war."
Tilman Spreckelsen
resümiert das
Klagenfurter Wettlesen, das er insgesamt recht
medioker fand. So kann er sich erinnern, dass Zuhörer und Jury sich mit "acht Texten jeweils eine Stunde lang beschäftigen mussten, die man in schriftlicher Form wohl rasch überblättert hätte. Das bemühte Diktum des Juryvorsitzenden Robert Schindel, kein Text überhaupt sei 'überflüssig', erfuhr empirisch eine
deutliche Widerlegung."
Die
FAZ dokumentiert auch den Text
"Muttersterben" des Gewinners Michael Lentz. Sein Anfang liest sich so: "Mutter verschwand am zwanzigsten august neunzehnhundertachtundneunzig gegen dreiundzwanzig uhr und fünfzig minuten. Am einundzwanzigsten august neunzehnhundertachtundneunzig gegen acht uhr und dreißig minuten rief Vater an und teilte es mir mit: 'Mutter ist gegen dreiundzwanzig uhr und fünfzig minuten diese nacht gestorben.' Ich ging ins bett zurück und setzte die am abend zuvor unterbrochene lektüre des entencomics fort. Mit dem verschwinden Mutters ist seit langem gerechnet worden."
Weitere Artikel: Dieter Bartetzko
berichtet über den neu restaurierten Freskenzyklus in
Pompeiji - nun ist noch die Frage, wo man ihn dauerhaft ausstellen kann, denn in Pompeiji kann er nicht bleiben. Dietmar Polaczek
berichtet über italienische Urteile gegen Mafiarichter und Attentäter. Eleonore Büning
war dabei, als die
Staatskapelle unter Daniel Barenboim das
Madrider Publikum mit Wagner, Beethoven und Mahler beglückte. Renate Schostak
berichtet über eine kulturpolitische Grudsatzrede
Julian Nida-Rümelins in der Evangelischen Akademie in Tutzing. Silke Scheuermann hat eine Tagung über
Trends im Jugendbuch verfolgt. Sigrid Graumann vom Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften in Tübingen
hält daran fest, dass ein
Embryo Menschenwürde hat und zwar abgetrieben, aber nicht zu Forschungszwecken benutzt werden darf. Ulrich Olshausen schreibt zum Tod des Country-Gitarristen
Chet Atkin. Auf der Medienseite schildert Eva Menasse politisches Gezerre um den österreichischen
Staatssender ORF.
Besprochen werden eine Ausstellung über die
Black Box in der Kunst im
Kunstmuseum Bern, ein Theaterfestival mit lauter
Monologen in Zürich, das Lyrikertreffen
"Landkarten der Poesie" in Berlin, ein Auftritt der Petersburger Theater-Performance-Gruppe
"Ache" auf der Moskauer Theater-Olympiade, eine Aufführung von drei Liedern nach Gedichten von
Alfred Brendel in London und
Jo Fabians "tristan und isolde" im Festspielhaus Hellerau.