Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2001.

TAZ, 20.07.2001

Brigitte Werneburg findet das Plakat des Förderkreises für ein Denkmal für die ermordeten Juden nicht provozierend genug. Der Grund: es sind keine Menschen auf dem Bild. "Es käme gut über einer Büroszene oder einer Schlange Wartender an der Supermarktkasse. Aber bitte, da gäbe es Gesichter, denen es zuzuschreiben wäre! Intelligent oder zynisch? So lautete die Frage, die der Regelverstoß der Benetton-Werbung aufwarf. Ein bitterer, wenn auch nicht zynischer Ton kommt mit dem Zitat ins Spiel. Leider fehlt die Intelligenz, ihn all seiner Schärfe auch im Bild umzusetzen. Aber von Bennetton lernen heißt siegen lernen."

Weitere Artikel: Jürgen Berger berichtet über Stücke von Bernard Sobel, Jean-Luc Lagarce und "Kristin Scott Thomas als stolpernder Schwan" in Lambert Wilsons Inszenierung von Racines "Berenice" beim Theaterfestival in Avignon. Besprochen werden Ivan Reitmans Film "Evolution", CDs von India.Arie und Nikka Costa und Martin Walsers Roman "Der Lebenslauf der Liebe" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.
Stichwörter: Avignon, Evolution

NZZ, 20.07.2001

In einem Essay über Chemnitz schreibt Bora Cosic, dass ihm die Stadt vorkommt "wie eine Feiertags-, eine Mittagsstadt, so wenige Menschen sind in seinen Strassen zu sehen." Und das, "obwohl die Berliner Mauer längst gefallen ist und die Manufaktur des Sozialismus ihre Produktion eingestellt hat. Dennoch ist ein Teil dieser Vergangenheit geblieben, zumindest theoretisch. Bis vor kurzem trug diese Stadt Marx' Namen, obwohl die Doktrin des dialektischen Materialismus nirgends vorschreibt, dass ein anständiger Ort mit schönen Häusern fast entvölkert sei."

Weitere Artikel: Martin Bauer berichtet über ein vom Einstein-Forum veranstaltetes, internationales Symposium in Potsdam, das sich der "historischen Gerechtigkeit" widmete. Es ging um die Frage, ob "nachfolgende Generationen die Rechtsverletzungen ihrer Vorfahren zu verantworten haben". Und Jochen Jung denkt über das Dach nach.

Besprochen werden Carlisle Floyds Oper "Of Mice and Men" bei den Bregenzer Festspielen, eine Retrospektive des Architekten Eugene Jost (1865-1946) im Lausanner Design-Museum "Mu.dac" und eine Ausstellung über das "prekäre Verhältnis von Kunst und Natur" im Musee d'art contemporain de Bordeaux.

FR, 20.07.2001

Eine seltsame Mode in den deutschen Feuilletons ist es zur Zeit, sich an die siebziger Jahre zu erinnern (man denke etwa an die SZ-Serie "Das war die BRD" oder die "Heimat"-Serie in der FR). Nach den 68ern scheinen nun also auch die 78er sentimental zu werden - ein deutliches Zeichen für das Altern der Republik! Also: Frank Goosen über die Siebziger: "Es waren die siebziger Jahre, und alles war orange, nur einige Telefone und einige Waschbecken waren grün, und schuld am schlechten Wetter war nur die SPD, wusste Rudi Carrell. Musik war das, was im Radio zwischen den Nachrichten lief oder im Supermarkt oder im Lift aus unsichtbaren Lautsprechern kam. Musik war das, wozu die Erwachsenen schunkelten oder marschierten, wobei das manchmal dasselbe war und dann Polonaise hieß. Und dann war ich plötzlich verliebt."

Martina Meister sagt treffende Worte zum Holocaust-Plakat: "Das Wort von der 'Instrumentalisierung des Holocausts', das man seit der Walser-Rede nicht einmal mehr mit Samthandschuhen anfassen will, hier trifft es zu. Der höhere Zweck heiligt nämlich in diesem Fall die unlauteren Mittel: Für das Erinnern darf sogar mit der Holocaust-Lüge geworben werden. So wird, was bislang als Gründungsmythos der BRD gelten durfte, zum rhetorischen Spielgeld, dessen man sich beliebig bedienen kann."

Weitere Artikel: Harry Nutt behauptet: "Popmythologisch betrachtet ist es kein Zufall, dass die Bewegung der Globalisierungsgegner ihren Ausgangspunkt in Seattle fand." Karin Ceballos Betancur schildert die Freuden des Fleischessens in Argentinien. Besprochen werden Ivan Reitmans Film "Evolution", eine Ausstellung des Filmemachers Harun Farocki im Westfälischen Kunstverein Münster, "Il ritorno d'Ulisse in patria" an der Münchner Oper und eine Gillian-Wearing-Ausstellung im Kunstverein München.

SZ, 20.07.2001

Konrad Lischka hat auf der "Macworld Expo" in New York festgestellt, dass Apple keine bunten Kisten mehr baut. "Der neue 'Power Mac G4' ist so groß wie ein überdimensionierter Bildkatalog. Das Äußere ist eine silberne, monolithische Fläche. Allein die durchsichtigen, gerundeten Griffe an allen vier Seiten ragen in die Außenwelt, der Rest ist reine Negierung der Umgebung." Lischka findet das angemessen. Heute gehe es nämlich nicht mehr darum, Technik bedienungsfreundlich für alle zu machen: "Gefürchtet wird nicht Macht, die 1984 noch in den riesigen Großrechenanlagen zum Ausdruck kam. Gefürchtet werden die Dinge, die wir nicht mehr als Dinge erkennen: Gen-Mais oder eben jene Nanoroboter, welche die Welt auseinander nehmen, um aus ihrem Material eine neue zu bauen. Kann man da noch Computer herstellen, die freundlich-bunt aussehen wie Möbel in den Siebzigerjahren?"

Nico Stehr berichtet, dass amerikanische NASA-Ingenieure und Astronomen einen Plan haben, der und vor der Klimakatastrophe retten soll. Da sich die Erde nicht ändert (niemand verzichtet auf sein Treibgas), muss sie sich halt anpassen. "Angesichts der uns ins Haus stehenden klimatischen Probleme leben wir im Universum am falschen Ort. Infolgedessen sollten wir die Umlaufbahn der Erde ändern. Die Erdkugel muss in eine Lage gebracht werden, die kühler ist, noch besser, sie sollte in eine klimasichere Position im Sonnensystem manövriert werden." Mit Raketen! Fehler beim Zünden könnten jedoch "verheerende Folgen" haben.

Weitere Artikel: C. Bernd Sucher wartet gespannt auf Neuigkeiten vom Festival von Avignon: "Drei Depeschen sind möglich: Festival eingestellt. Bernard Faivre d?Arcier abgesetzt. Peter Stein in Avignon." Peter Stein? Jawohl, der hat nämlich in Le Monde erklärt, "wenn man ihm den renommiertesten Spielplatz des Festivals, den Cour d?honneur, anböte, dann würde er zusagen." Claus Koch denkt in seinen Noten und Notizen über ethisches Spekulieren nach. Holger Liebs prophezeit, dass gewisse "kulturkritische Federn" die kommende Love Parade hämisch gegen das "bahnbrechende" Konzert der Sex Pistols vor 25 Jahren in Manchester ausspielen werden. Weshalb er die Technos schon mal vorab verteidigt. Hat jemand Lust, ihm den Angriff nachzureichen? Ralph Hammerthaler stellt die neue "edition suhrkamp theater" vor, und rueh erzählt anlässlich des G8 Gipfels, dass die Genueser gestern "an ihre Mitbewohner innerhalb der roten Sperrzone Knoblauch verteilt (haben), damit die in den Tagen der Belagerung und der geschlossenen Lebensmittelgeschäfte wenigstens noch ihr Pesto zubereiten können."

Besprochen werden Bob Dylans Konzert in Bad Reichenhall ("herzzerfetzend facettenreich" behauptet die Unterzeile), Amos Gitais Film "Kadosh" und Martin Walsers neuer Roman "Der Lebenslauf der Liebe" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)

FAZ, 20.07.2001

Imre Kertesz liefert Reminiszenzen aus Salzburg. Denkwürdig zumal eine konzertante Aufführung von Wagners "Liebestod" unter Seiji Ozawa mit Jessye Norman als Isolde, die ihm hier als eine afrikanische Göttin erschien: "etwa in der Mitte des Stücks bemerkte ich mit Unbehagen, dass sie dort ein wenig falsch sang. Aber was zählte das! Zu diesem Zeitpunkt standen mir bereits die Tränen in den Augen - und nicht nur wegen der Wirkung der Musik, des Vortrags. Denn mir musste über all das hinaus auch die Situation zu Bewusstsein kommen, der spezifische Anlass für das, was hier vor sich ging: Ein japanischer Dirigent und eine schwarze Sängerin lassen des großen deutschen Rassenhüters Werk erklingen, das nun einmal einen der Bühnenhöhepunkte und die Vollendung der europäischen Gefühlskultur darstellt - und das hier im Zuschauerraum einen ungarischsprachigen jüdischen Schriftsteller des Holocaust zu Tränen rührt. . ."

Der unnachahmliche Zhou Derong schildert die Seelenlage der Kommunistischen Partei Chinas, die den Kapitalismus jetzt verdauen will, indem sie die Kapitalisten nach Jiang Zemins Lehre von den "Drei Vertretungen" einfach in die Partei aufnimmt: "Jiang Zemins Strategie ist einfach, aber effektiv: Die Partei soll möglichst bald ihre Leute in möglichst gute Positionen bringen, in jedem Bereich. Die Staatsmedien, so wünscht man sich, sollten so expandieren, dass Bertelsmann oder Rupert Murdoch keine ernsthafte Konkurrenz darstellen; die Telekommunikationsunternehmen und Fluggesellschaften so dominieren, daß sie gar den Westen das Fürchten lehren können. Vor zwei Jahren hat die Partei eine Sicherungsmaßnahme beschlossen: Wie auch immer die Strukturreformen ausfallen mögen - die Chefs der fünfhundert größten Unternehmen werden von der Partei eingesetzt. Und wenn nun auch die anderen kleinen und großen Kapitalisten der Partei beitreten, dann kann die Globalisierung kommen. Die Kommunistische Partei wird lange leben."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube beschreibt den Weg der Grünen von Kündern der Apokalypse in den achtziger Jahren zu Nachbetern politischer Leerformeln in ihrem jüngsten Parteiprogramm. Jordan Mejias resümiert amerikanische Diskussionen um die Stammzellforschung und vermutet, dass sie nun in engem Rahmen zugelassen werden soll. Der Arzt Josef Wisser wundert sich in einem Artikel zum selben Thema, dass sich vor allem Geisteswissenschaftler und nicht Naturwissenschaftler in der Debatte äußern (die einen können schreiben, die anderen haben Ahnung!) und plädiert aus biologischer Sicht gegen den Eingriff in embryonale Stammzellen. Hansjörg Küster bedauert die Zubetonierung des Hamburger Süßwasserwatts zum Nutzen des Airbus 380 - die letzte Stunde des Schierlings-Wasserfenchel dürfte geschlagen haben. Monika Osberghaus schildert erregte schwedische Diskussionen um eine kleine Dokumentation von Palle Torsson - er hat aus der alten Pippi-Langstrumpf-Fernsehserie Bilder zusammengeschnitten, die sich auch erotisch verstehen lassen.

In einem Kommentar zum Plakat des Förderkreises zur Errichtung eines Holocaust-Mahnmal schreibt "Ri.", dass man sich besser an der Askese des kommenden Mahnmals, statt an der Werbeästhetik hätte orientieren sollen.

Nur ein Artikel aus der Gattung der Geburtstagsträußchen (die in der FAZ garantiert nie aussterben werden): Patrick Bahners gratuliert dem Rechtshistoriker Michael Stolleis zum Sechzigsten.

Besprochen werden eine Tagung zu Kosmopolitismus und Judentum im Schloss Elmau, ein Theaterfestival in der südafrikanischen Stadt Grahamstown, ein Konzert des chinesischen Rockstars Cui Jian, eine nach ursprünglichen Plänen des Architekten Alvar Aalto im estnischen Dorpat fertiggestellte Villa, eine Ausstellung über die Europapolitik des Hauses Anjou in der Abbaye royale de Fontevraud, die Biosphärenhalle auf der Bundesgartenschau in Potsdam, das Klangrausch-Festival in Leipzig, der Film "Deep in the Woods", David Crosby auf Deutschlandtournee und Rudolf Thomes Film "Paradiso".

Auf der Schallplatten- und Phonoseite stellt Hanno Ehrler das Berliner Label x-tract vor. Außerdem geht es um neue CDs von Matthias Goerne und John Phillips.