Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2001.

SZ, 01.08.2001

Andrian Kreye erzählt, wie Präsident Bush die Navajo-Funker des Zweiten Weltkriegs ehrte. Die Geschichte dieser Funker, verspricht er, "ist wirklich gut. Sie beginnt 1942. Englischsprachige Agenten des japanischen Geheimdienstes haben seit Pearl Harbor sämtliche Verschlüsselungen des amerikanischen Funkverkehrs dechiffriert. Die einzigen Codes, die den Amerikanern noch bleiben, sind so kompliziert, dass es zweieinhalb Stunden dauert, drei Sätze zu übertragen. Da kommt dem US Marine Philip Johnston eine brillante Idee ? warum nicht Navajo- Indianer als Funker einsetzen. Johnston ist als Sohn eines Missionars im Reservat aufgewachsen. Er beherrscht die Sprache fließend und weiß, dass kaum ein Außenstehender das komplexe System aus Lautmalereien, phonetischen Feinheiten und bildlichen Umschreibungen durchschaut." 400 Navajo Code Talkers gab es insgesamt, erzählt Kreye, schön auch, dass sie geehrt wurden. Aber die Geschichte hat eine Kehrseite: "Denn im Navajo-Reservat lebt die Hälfte der Einwohner unter der Armutsgrenze. Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt bei knapp 12000 Dollar pro Kopf ? rund ein Drittel von dem sonstigen Pro-Kopf-Einkommen in den USA. Die Arbeitslosenrate hat sich bei 59 Prozent eingependelt."

Weitere Artikel: Wolfgang Schieder berichtet, dass Italien nach dem G8-Gipfel über die Organisation seiner Polizei streitet. Richard Chaim Schneider erzählt von dem Schock, den es für die israelische Linke bedeutete, als die Palästinenser in Camp David "für rund 3,8 Millionen Palästinenser ein Rückkehrrecht ins Kernland Israels forderten". Ernst Augustin hat englische und afghanische Sitten beim Feilschen in Deutschland erprobt, Michael Frank berichtet von den Fuschler Sommergesprächen, die "traditionell zur schönsten Zeit eine kleine Runde (versammeln), um über Grundsätzliches zu reden. Philosophen, Theologen, ein Ägyptologe, ein Astrophysiker, Sozial-, Bevölkerungs-, Kultur-, Geschichtswissenschaftler setzen sich in einen Kreis und reden miteinander. Sechzehn Gelehrte berichten einander in zweieinhalb Tagen vom letzten Stand der Dinge, beschreiben Horizontveränderungen und vergewissern sich der eigenen Position." Und Arkadij Waksberg, Korrespondent der Zeitschrift "Literaturnaja Gaseta" erzählt, wie sich Russland auf seine "alte Leidenschaft für den Personenkult" besinnt und Wladimir Putin feiert.

Besprochen werden heute vor allem CDs: Reinhard J. Brembeck stellt eine bisher unbekannte Version von Glenn Goulds Goldberg-Variationen vor, ein Live-Mitschnitt von 1954. (Wir widmen Glenn Gould heute einen kleinen Link des Tages.) Harald Eggebrecht stellt Aufnahmen aus den 80er Jahren des im Juli 2000 gestorbenen Geigers Oscar Shumsky vor, die jetzt neu augelegt wurden. wieder greifbar sind. Svenja Klaucke bespricht eine 4-CD-Anthologie mit historischen Aufnahmen von wenig bekannten Offenbach-Stücken ("Aus vielen dieser Aufnahmen schäumt noch immer kühne Eleganz, perlt und prickelt überraschende Frische."). Und Anton Sergl bespricht eine Aufnahme mit den Diabelli-Variationen von Piotr Anderszewski.

Weiter werden besprochen der "Siegfried" in Bayreuth, eine Lesung von Erwin Steinhauer in Salzburg mit den Erinnerungen Rudolf Höß?, Katharina Thalbachs Inszenierung eines "grantigen Volksstücks von Josef Rieser mit einem Bauernschwank von Max Neal" bei den Tiroler Volksschauspielen in Telfs und zwei Bücher zum Werk Ernst Jüngers (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 01.08.2001

Wladimir Kaminer berichtet über ein neues Buch von Alexander Solschenizyn. "Das Buch sei 'über Juden', erzählt man sich überall, und der Verlag, in dem es herauskommt, heißt 'Der russische Weg'. Der Verleger behauptete in einem Interview, die Nachfrage werde immer größer, allein in Moskau verkaufe man täglich über 3.000 Exemplare." Doch das Buch hat, so Kaminer, "mit dem Judentum wenig zu tun. Denn Juden interessieren den Autor genauso wenig wie die Amerikaner oder die Chinesen. Solschenizyn kennt nur ein Thema: Russland. Er hat noch nie über etwas anderes geschrieben. Besonderes interessiert er sich diesmal für die Zeit der russischen Monarchie. In diesem Zusammenhang meint der Autor: 'Der Jude' lebte unter den Zaren nicht so schlecht, wie es immer behauptet wurde. 'Der Jude' wurde zwar unterdrückt, aber nicht geknickt."

Harald Fricke bespricht Stan Douglas' filmische Installation "Le Detroit" über ethnische Identität als Gefängnis in den Wüsten von Detroit im Hamburger Bahnhof in Berlin: "Kaum sichtbar, verschwinden die kurzen Einstellungen schon wieder im Dunkel des Projektionsraumes. Dabei geht es Douglas auch um eine szenische Umsetzung seiner Lektüre Sigmund Freuds. Viel ist in dessen Schrift über 'Das Unheimliche' von Doppelgängern, von Schleifen der Erinnerung die Rede - und vom Schrecken, den das Wiedererkennen einer Situation auslöst, die man meint, schon einmal durchlebt zu haben. Freud selbst empfand es als besonders schlimm, eine Straße entlangzuirren, in der sich Prostituierte aufhielten. Die Angst vor diesem fremden Ort zwang ihn förmlich dazu, die Straße drei Mal aufzusuchen - nur um das peinliche Erlebnis stets gleich wieder zu verdrängen."

Weitere Artikel: Jamal Tuschik untersucht den "Glamour der ersten Zigarette", und Helmut Höge porträtiert den in Berlin lebenden sardischen Pizzabäcker Salvatore Flore.

Besprochen wird das U 2-Konzert in Berlin.

Schließlich Tom.

FAZ, 01.08.2001

20 Jahre MTV, und nicht die SZ feiert diesen Termin, sondern die FAZ - aber das könnte daran liegen, dass Claudius Seidl jetzt eben nicht mehr bei der SZ ist, sondern bei der FAZ: "Unter all den Geschäftsideen der gierigen achtziger Jahre", schreibt er in seinem ersten Artikel fürs Frankfurter Institut, "war MTV eine der besten: Man gründete einen Sender und brauchte kein Programm. Denn die Clips sind Werbung für Schallplatten und CDs, sie sollen zum Kauf von Musik animieren, so wie andere kurze Filme den Absatz von Waschmitteln befördern sollen. Das ist gut fürs Budget des Senders - die Produktionskosten trägt die Musikindustrie. Und es hat, mehr als alles andere, die Ästhetik der visuellen Medien geprägt."

Und ein anderer Ex-SZler, nämlich Niklas Maak, erklärt den FAZ-Lesern, dass die neueste Architektur sich von Formen der Natur (wie etwa Bratwürsten) inspirieren lässt: "Biomorphismus ist eine sanfte Bewegung: Wo der Dekonstruktivismus mit krachenden Formen die Zersplitterung der Welt in Szene setzte, da bietet der Biomorphismus Gemütshöhlen für den zivilisationsgeplagten Großstädter. Als Garten Eden der Popkultur und embryologischer Wohnuterus bedient das biomorphe Haus andererseits jenen Eskapismus, den schon die expressionistische Architektur prägte."

Weitere Artikel: Gina Thomas schildert die britische Empörung nach einer Fernsehsatire bei Channel Four, die es wagte, britische Hysterien um die Pädophilie aufs Korn zu nehmen. Marc-Christoph Wagner greift einen Artikel aus der dänischen Berlingske Tidende auf, in dem berichtet wird, dass eine dänische Historikerkommission nun die Kollabaration der dänischen Wirtschaft mit den Nazis untersuchen wird. Der Strafrechtler Klaus Lüdersen wendet sich gegen die offensichtlich in einigen Ländern geplante Sicherungsverwahrung ohne Schuldfeststellung. Jordan Mejias resümiert ein von Edge.org organisiertes Treffen von Spitzenkräften der "Dritten Kultur" wie David Gelernter, Jaron Lanier oder Jordan Pollock. Der Literaturwissenschaftler Jürgen Link hat herausgefunden, dass wir es bei der Bioethikdebatte eigentlich um einen Streit zwischen Normativisten und Normalisten zu tun haben und fordert eine "Normalismusforschung" (und wie viele Planstellen?)

Ferner gratuliert Eva-Maria Lenz der Schauspielerin Ruth-Maria Kubitschek zum Siebzisten. Michael Adrian schreibt zum 200. Geburtstag des Verlags Mohr Siebeck. Bodo Mrozek erinnert auf der Stilseite an die Entstehung des Twists vor 40 Jahren, mit dem der lästige Berührungszwang beim Tanzen entfiel. Jürgen Richter feiert die Wiederherrichtung des Schlosses Kromsdorf bei Weimar. Und Phil Plait der FAZ-Kulturkorrespondent im All, behauptet, dass man Nordlicht auch in Mainz oder Maryland bewundern kann.

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung über van Gogh und dem "Petit Boulevard" (einer Künstlergruppe) im Frankfurter Städel, einer Diskussion über das Politische in der Kunst mit Gerard Mortier in Salzburg und einer Ausstellung des Grafikers Axel Bertram in Leipzig.

NZZ, 01.08.2001

Die Schweiz feiert heute ihren Nationalfeiertag. Wir gratulieren!

FR, 01.08.2001

Werner Balsen berichtet von einem Buch des an der FU Berlin lehrenden Historikers und Philosophen Victor Farias, der mit seinem Buch "Los Nazis en Chile" (Die Nazis in Chile, Seix Barral, Barcelona) in Chile eine Diskussion über Salvador Allende losgetreten hat. Farias schildert darin die "bereitwillige Zusammenarbeit von chilenischen Politikern, Diplomaten und Militärs, aber auch von kirchlichen Würdenträgern, Künstlern und Wissenschaftlern (aller Couleur) mit den Nationalsozialisten". Im Epilog präsentiert Farias einen Briefwechsel zwischen Allende und Simon Wiesenthal. Jener hat den chilenischen Präsidenten gebeten, den international gesuchten Kriegsverbrecher Rauff auszuliefern. Rauff hatte die Gaswagen erfunden und auch selbst eingesetzt, mit denen die Nazis ? vor der Erfindung der Gaskammern ? rund 500.000 Menschen ermordeten: "Dennoch weigerte sich Allende in seiner Antwort an Wiesenthal, den Fall Rauff neu aufzurollen. Dabei begründete er seine Haltung mit den gleichen Argumenten, mit denen ein Vierteljahrhundert später die Anwälte des ehemaligen Diktators Pinochet dessen, auch von den Sozialisten in Chile geforderte Überstellung an die spanische Justiz ablehnten."

Weitere Artikel: Ina Hartwig eröffnet eine neue FR-Reihe über Begriffe und Konzepte, "die einmal mühelos die Welt erklären konnten" mit dem "Nichtidentischen". Christian Schlüter widerspricht in der Bioethikdebatte einem Beitrag von Friedrich Wilhelm Graf in der SZ: "Wilhelm Graf schreibt: 'Moralkonflikte zu dramatisieren ist ungleich leichter als Konsens auszuhandeln.' Verharmlosung aber ist das Schlimmste." Abgedruckt ist eine überarbeitete Fassung von Vorträgen zum Internationalen Jahr der Sprachen 2001 von Julian Nida-Rümelin, in der unser Kulturminister für "drei Minimalziele der Bildung für alle" plädiert: "1.Deutsch in schriftlichem und mündlichem Ausdruck auf hohem Niveau, 2.Englisch als Mindeststandard der internationalen Verständigung, und 3.eine zusätzliche europäische Sprache." Heinz Siebold berichtet, dass der Herder Verlag "die wichtigsten Titel seines renommierten Tochterverlages Ploetz", darunter den "Großen Ploetz", der Komet-Service-Verlagsgesellschaft in Lizenz überlassen hat. Und Helmut Höge sinniert über "Blödigkeit" angesichts der neuesten Pillen gegen "Sozialangst".

Besprochen werden eine Werkschau zu Daniel Spoerri im Museum Tinguely Basel und eine Ausstellung mit Bildern "Über das Erhabene" von Klein, Rothko und Turell in der Guggenheim Foundation Berlin.