Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2001.

FAZ, 06.08.2001

Also, dieser Christian Thielemann scheint ein verflixt guter Dirigent zu sein. Jetzt hat er in Bayreuth sein "Parsifal"-Debüt gegeben, und Julia Spinola schreibt: "Trotz relativ straffer Tempi vor allem des ersten Aufzugs - Thielemann braucht für das Werk gute fünfunddreißig Minuten weniger als Christoph Eschenbach für seine zerdehnte Interpretation im vergangenen Jahr - wirkte dieser 'Parsifal' vom ersten bis zum letzten Ton melancholisch verhangen. Sein luxurierender Orchesterklang nach schwerem, schwarzem Samt blieb auf wundersame Weise zugleich immer völlig transparent. Die ins Extrem gedehnten Generalpausen, wie etwa im ersten Akt, bevor Titurel sich an Amfortas wendet, zerrissen dennoch nicht den Spannungsbogen. Alle überwältigende Wucht, wie die des finstren Gralsritter-Kondukts im dritten Akt, schien eher aus Sammlung und Bändigung gewonnen als aus dröhnenden und schmetternden Beschwörungsgesten. Eine Interpretation, die artistisch mit allerlei Paradoxien zu jonglieren schien."

Die maoistische Weisheit "Wo es Unterdrückung gibt, gibt es auch Rebellion" sieht Zhou Derong bei den chinesischen Schülern voll bestätigt. Immer mehr Schüler bringen sich wegen des Leistungsdrucks um. Es gibt aber auch originellere Formen des Protests: "Eine humoristische Variante fiel einer Zwölfjährigen in einem Dorf ein. Das Mädchen erzählte den Eltern, bei der Zwischenprüfung die beste Note der Provinz erzielt zu haben. Deshalb würden Kader aus der Provinzhauptstadt am 25. Juli die Familie besuchen. Der Vater, die Mutter, ja das ganze Dorf war aus dem Häuschen. Welche Ehre! Essen wurde gekocht, es war köstlich, der Schnaps floss in Strömen - aber die Kader wollten nicht kommen. Als es dunkel wurde, rückte die Tochter mit der Wahrheit heraus: Sie hatte alles erfunden."

Weitere Artikel: Thomas Hettche legt eine ganzseitige Erzählung vor: "Der Fall Arbogast". Andreas Platthaus schildert den Fall eines arbeitslosen Ingenierus, der den Direktor seines Arbeitsamtes mit einem Dreikantschaber erstach. Andreas Rosenfelder war bei den Demonstrationen des "Vierten antirassistischen Grenzcamps" in Frankfurt dabei. Michael Hanfeld beschreibt den Umgang des MDR mit ehemaligen Stasi-IMs, die noch mal überprüft wurden: Redakteure dürfen bleiben, auch wenn man sie vorerst von der Kamera fernhält, nur die festen Freien werden erst mal herausgekickt - womit die übliche Hierarchie in deutschen Medien (niemals einen Festangestellten entlassen!) gewahrt bleibt. Der MDR-Intendant Udo Reiter äußert sich in einem nebenstehenden Interview zufrieden über die Akzeptanz, die der MDR mit seinen Volksmusiksendungen beim Publikum erreicht.

Ferner wird ein Brief dokumentiert, in dem sich das Ausgrabungsteam von Troia gegen einen anderen Professor wendet, der ihm mangelhafte Arbeit vorwirft. Patrick Bahners schreibt zum Tod des englischen Historikers Arthur Geoffrey Dickens. Caroline Neubaur resümiert eine Tagung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. "fls." weist auf ein Gutachten über die Rolle der Krankenkassen in der Ära der Zwangsarbeit hin - sie war natürlich äußerst unrühmlich.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Kunst aus Zentralamerika in der Pariser Maison de l'Amerique latine, eine William Copley-Ausstellung im Bonnefanten Museum Maastricht, Hans Neuenfels' "Cosi fan tutte"-Inszenierung in Salzburg und die Ausstellung "Europas Mitte um 1000" im Berliner Martin-Gropius-Bau.

NZZ, 06.08.2001

Die Politologin Seyla Benhabib von der Harvard-Universität fragt, wie es im Zeitalter der Globalisierung und des zerfallen Staatsbürgerbegriffs um die Zukunft der Demokratie bestellt ist: "Das Auftauchen eines weltweiten Diskurses über Menschenrechte; die Bildung von transnationalen Netzwerken der Solidarität, die die Trennlinien von Kulturen und Religionen übergreifen und sich mit Themen wie Umwelt, Erderwärmung und Rechten von Frauen und Kindern beschäftigen; der Aufstieg von Nichtregierungsorganisationen...; die Verbreitung einer globalen Jugendkultur - all das sind Indikatoren für neue Modalitäten politischen und moralischen Handelns in einer neuen Welt. Sie deuten darauf hin, dass demokratischer Bürgersinn auch über nationale Grenzen hinweg und in transnationalen Zusammenhängen ausgeübt werden kann. Die vordringlichste Frage, die sich für eine künftige demokratische Theorie und Praxis ergibt, wird die sein, ob wir angesichts des Obsoletwerdens des Einheitsmodells der Staatsangehörigkeit ein kraftvolles demokratisches Engagement bewahren können."

In einem kleinen Essay über das naturwissenschaftliche Feuilleton sieht Sieglinde Geisel den "popularisierten Diskurs der Genetik" als "Vorboten und Spiegel eines veränderten gesellschaftlichen Denkens. Wenn die Gene bestimmen, was für Eigenschaften wir haben, wie lange wir leben und an welchen Krankheiten wir wahrscheinlich sterben werden, dann ist es mit dem Menschen als sozialem Wesen vorbei. Er wird zu einem Produkt, dessen Qualität und Langlebigkeit sich aus sich selbst heraus bestimmen lassen. Für die Ergebnisse dieser Qualitätskontrolle interessieren sich dann nicht nur Krankenversicherungen, sondern auch Arbeitgeber, vielleicht sogar Heiratskandidaten, möglicherweise auch die Wähler, was wiederum ernste Folgen für die Möglichkeit von Demokratie haben dürfte."

Weitere Artikel: Andreas Essl ist mit dem Greyhound-Bus von El Paso nach Los Angeles gefahren. Alice Grünfelder freut sich über die Wiederauferstehung der Ostasiatischen Zeitschrift. Besprochen wird die Ausstellung "Der kühle Blick" in der Hypo-Kulturstiftung München.

SZ, 06.08.2001

Jubelnde Berichte aus Bayreuth und Salzburg! Gottfried Knapp feiert den "Parsifal" und besonders Christian Thielemann und Violeta Urmanas Kundry: "Violeta Urmana vermag mit ihrer leuchtend klaren, aber an keiner Stelle schrillen Stimme die Gegensätze zwischen Verdammnis, Demut, Aggression und wildem Begehren ins Erschütternde, ja Ungeheuerliche hinaus zu dehnen. Wenn dann gar noch Thielemann nach einem ihrer gellend in den Raum gestellten Schreie die Generalpause ins Endlose dehnt und die Musik völlig wesenlos wieder beginnen lässt, dann setzt bei den Besuchern der Atem aus." Am Ende fällt auch ein Wörtchen zur Inszenierung: "Zusammen mit dem (von Eberhard Friedrich einstudierten) wunderbar sicheren Chor und dem inspirierten Orchester lassen die Sänger vergessen, dass im Szenischen (Regie: Wolfgang Wagner) der pure Stillstand herrscht." Das ist knapp.

Wolfgang Schreiber feiert Hans Neuenfels' "Cosi fan tutte"-Inszenierung in Salzburg: "Mozarts 'Cosi' nicht als glatt hingezirkelte Verwechslungskomödie, sondern als artifizielles, sperriges Kunststück. Hans Neuenfels und sein Ausstatter Reinhard von Thannen werden gerade diesem Werk schier somnambul gerecht, indem sie die Doppelbödigkeit, die radikal vorgeführte Ambivalenz der Personen krass zeigen, hintersinnig überhöhen und spiegeln. Die Figuren erscheinen in sich gebrochen im unauflöslichen, traumatisch erlebten Widerspruch von emotionaler Ehrlichkeit und Verstellung, von Wahrheit und Lüge, in der Dialektik von Liebe, Kunst und Tod: eine Traumtragödie der Herzen. Dafür stehen die verwirrenden, die verstiegenen, die überwältigenden Bilder in dieser Aufführung."

Jeremy Rifkin warnt vor einer kommerziellen Eugenik, die er mit der Verleihung von Patenten auf den Prozess des Klonens sowie auf geklonte menschliche Embryonen und Stammzellen an Unternehmen wie Geron und Advanced Cell Technology bereits eingeleitet sieht: "Im 19. Jahrhundert wurden Kriege um die Frage geführt, ob der Mensch nach seiner Geburt das kommerzielle Eigentum eines anderen sein könne, und zuguterletzt hat jede Nation die Sklaverei abgeschafft. Heute jedoch haben wir eine Technologie, die es Firmen wie Geron erlaubt, einen Menschen zwischen seiner Empfängnis und seiner Geburt als ihr geistiges Eigentum zu reklamieren."

Weitere Artikel: Andreas Bernard erinnert an Adornos "Minima Moralia", die vor 50 Jahren erschien, und Clemens Pornschlegel kommentiert eine Stelle aus dem Werk über die Liebe. Christine Dössel denkt anlässlich des "aktuellen Gezeters" um Calixto Bieitos "Macbeth"-Inszenierung in Salzburg über die Forderung nach "gutem Geschmack" im Theater nach. Fritz Göttler berichtet über die Verleihung des Ehrenleoparden an Chen Kaige in Locarno und schreibt den Nachruf auf den Schauspieler Hans Holt.

Besprochen werden drei Ausstellungen, die sich mit der Feier und Zerstörung von Bildern beschäftigen: "Der Schatz der Sainte-Chapelle" im Pariser Louvre und zwei Mittelalterausstellungen im Palais du Tau in Reims und im Musee de l'Oeuvre Notre-Dame in Straßburg.

FR, 06.08.2001

Hans-Klaus Jungheinrich fragt nicht so sehr nach Christian Thielemanns musikalischen Genie als nach seinem politischen Instinkt, denn er fürchtet, dass sich der Dirigent von Wolfgang Wagner instrumentalisieren lässt: "In dem Dirigenten Christian Thielemann scheint er nun einen geeignet schwergewichtigen Schildknappen gefunden zu haben. Thielemann, als Musiker eine bedeutende Kapazität, ist kulturpolitisch ein Tor, wenn nicht Schlimmeres. Er repräsentiert einen ultrakonservativen Wagnerkurs. Als möglicherweise auf Lebenszeit ernanntes Mitglied der Festspielleitung von Wolfgangs Gnaden wäre er für reformwillige Festspielprogrammatiker eine ärgerliche Belastung. Aber Thielemann steht zur Zeit überhaupt hoch in Kurs: Auch Peter Ruzicka will ihn haben, für Wagneraufführungen in Salzburg."

Weitere Artikel: Dirk Fuhrig schildert, wie der Island-Spezialist Wolfgang Müller in Berlin Feen durch die Luft fliegen ließ. Besprochen werden eine Anthony-Cragg-Ausstellung in Chemnitz und die Giacometti-Retrospektive in Zürich.

TAZ, 06.08.2001

Cristina Nord interviewt Sergio Ramirez, den ehemaligen Vizepräsidenten Nicaraguas, der in seinem Buch "Adios, Muchachos", die Frage stellt, ob sich die Opfer der sandinistischen Revolution gelohnt haben. Zunächst schildert er den Guerillero als eine Art Jesus-Figur, die erst durch den Opfertod ihre ganze Glaubwürdigkeit bekommt - und dann die Schwierigkeit der institutionalisierten Revolution: "Das Vorbild des Opfers dient dazu, die ethische Basis der Revolution zu entwickeln. Daher schreibe ich auch in meinem Buch 'Adios, Muchachos', dass wir, die wir nach dem Triumph der Revolution an die Macht kamen, die Überlebenden sind, die Unvollkommenen, die Schwachen, die aus der zweiten Reihe. Die Besten sind gestorben. Ihr Opfer muss immer geachtet, ihrem Vorbild immer gefolgt werden."

Ferner bespricht Christoph Wagner im "Scheibengericht" verschiedene neue CDs.

Schließlich Tom.