Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2001.

TAZ, 10.08.2001

Ulf Erdmann Ziegler hat sich die große Hockney-Retrospektive in der Bundeskunsthalle in Bonn angesehen und moniert die Art und Weise, wie in heutigen Ausstellungen Bilder von Ausstellungsmachern in den Begleittexten kommentiert werden. "Die kunstwissenschaftliche Tätigkeit ist auf halbem Weg stehen geblieben. Sie wagt sich in die biografische Deutung nur so weit vor, wie die unmittelbare Herleitung funktioniert: 'In dem Bild versammelt Hockney verschiedene Gegenstände auf einem Glastisch, die Peter gehörten und ihn an den Gefährten erinnern.' Dabei entsteht der Eindruck, Homosexualität sei eine Art Muse. Erst wenn das schwule Kapitel im Leben Hockneys ernsthaft durchkreuzt würde - es gibt ja eine sehr gute Quelle: die Autobiografie 'My Early Years' von 1976 - würde dahinter sichtbar, dass Homosexualität ein Thema von Hockneys Kunst ist, weit über das Muster von Erfahrung und Bekenntnis hinaus."

Dirk Knipphals interviewt Elke Naters und Sven Lager zu dem Buch "The Buch", das den Abschluss ihres Internetprojektes Am Pool bildet. "Wir haben mit den Leuten, mit denen der Pool sich entwickelt hat, gemeinsam für ein Buch geschrieben. Im Internet, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Alle Autoren konnten sehen, was die anderen Autoren schreiben, und sie konnten ihre Texte selbst verändern. Das Buch ist sozusagen in einer großen Schreibstube zusammen entstanden", erläutert Naters.

Weitere Artikel: Martin Weber porträtiert den neuen deutschen Popstar Peter Licht, der mit Songiteln wie "Meide die Popkultur" das deutsche Feuilleton bezaubert. Und Holger In't Veld bespricht die neue CD der HipHop-Gruppe N.E.R.D.

Schließlich Tom.

NZZ, 10.08.2001

Seinen "Winter des Missvergnügens" scheint der Schriftsteller V.S. Naipaul durchzumachen, schreibt Philipp Blom. Kurz vor der Veröffentlichung seines jüngsten Romans ist Naipaul mal wieder durch provokante Interviewäußerungen hervorgetreten: "Nachdem er vor Monaten Tony Blair als 'Piraten' bezeichnet hatte, der eine 'sozialistische Plebskultur' schaffe (eine Tatsache, die den meisten Mitgliedern der britischen Linken entgangen war), hat er jetzt die heiligen Kühe des intellektuellen Lebens im Visier. E. M. Fosters großer Roman 'A Passage to India' sei 'falsch, prätentiös, absoluter Müll', ließ Naipaul verlauten. Was ihm an Foster besonders aufstößt, ist seine Vermutung, der Schriftsteller sei nur nach Indien gereist, um dort junge und mittellose Männer sexuell auszubeuten." Und zu John Maynard Keynes sagte Naipaul: Er "beutete die Männer der Universität aus, er sodomisierte sie, wenn sie zu viel Angst hatten, etwas dagegen zu sagen. Ich weiss, dass das in den Augen der liberalen Elite wunderbar ist, ich aber finde es widerlich."

Joachim Güntner betrachtet die neuen deutschen Institutionen der Schwulenehe und der weiblichen Rekruten aus kulturanthropologischer Sicht: "In kulturanthropologischer Perspektive sieht man die Brisanz, die im weiblichen Soldatentum und in der Institutionalisierung homosexueller Liebesbeziehungen steckt. Die rot-grüne Regierung in Deutschland ist im Blick auf beide Projekte verspottet worden, sie leiste die von ihr so gern beschworene 'Modernisierung' nur in der Minderheitenpolitik, mithin bloß auf 'Nebenschauplätzen'. Nebenschauplätze? Kulturanthropologisch betrachtet müssen weibliches Militär und 'Homo-Ehe' als Extrem- und Finalpunkte der Entwicklung erscheinen."

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung über Urbanismus in Mitteleuropa im Bank-Austria-Kunstforum in Wien, der Bach-Woche in Ansbach und einer Ausstellung Schweizer Alpenmalerei im Bündner Kunstmuseum.

FR, 10.08.2001

Astrid Herbold kritisiert mit scharfen Worten die Macker-Mentalität am deutschen Theatern. "Wen stört es schon, dass kaum der Name einer Autorin auf der Top 30 Liste der meist gespielten Dramatiker zu finden ist? Dass beim Berliner Theatertreffen in schöner Regelmäßigkeit (fast) ausschließlich von männlichen Regisseuren inszenierte Stücke gezeigt werden? Dass bei den Mülheimer Theatertagen in den letzten 26 Jahren nur zweimal eine Autorin ausgezeichnet wurde?" Da gebe es die "zahllosen Dramaturginnen Deutschlands, die treu und brav in der zweiten Reihen hinter ihren mehr oder weniger genialen Intendanten, Regisseuren oder Chefdramaturgen zurückstehen", auch Theaterkritik und ?wissenschaft huldigen ausschließlich dem männlichen Genie, und erst die Regisseure und ihre Frauenbilder! Was da "in jeder Saison aufs Neue zum Vorschein kommt, ist ein derart konventionalisiertes Gestenrepertoire, dass es jeder Beschreibung spottet."
"Hat Leo Baeck im Auftrag der SS gearbeitet?" fragt Thomas Medicus. "Der Vorwurf der Kollaboration ist bisher nicht gefallen. Und wer bei Sinnen ist, wird ihn auch nicht erheben: auf solch fatale Gedanken kann nur verfallen, wer die tödlichen Zwangsverhältnisse unterschlägt, denen die Juden durch den NS-Staat ausgesetzt waren."

Weitere Artikel: John Berger macht sich Gedanken über die Zeichnungen von van Gogh ("Alles strich alles andere aus"). Peter Michalzik freut sich, dass es unser Dichter Martin Walser genauso wie Marcel Reich-Ranicki geschafft hat, in immer neuen Interviews "kompatibel zu Bild, Bunte und Gala zu werden". Besprochen werden der Film "The Score" und die Ausstellung "Mattis-Teutsch und der Der Blaue Reiter" im Münchner Haus der Kunst.

SZ, 10.08.2001

Gottfried Knapp geißelt in einem leidenschaftlichen Artikel eine "planerische Konfusion gespenstischen Ausmaßes" beim Bau des neuen Münchner Fußballstadions in Fröttmaning. Zu befürchten sei "eine architektonische und stadträumliche Katastrophe", die mit der "olympischen Verheerung zwar nicht zu vergleichen, aber in der Wirkung nach außen sehr wohl zu messen ist. Die Bombe in Fröttmaning hat zu ticken begonnen ? doch die Planungsbehörden und die Politiker in der Stadt haben sich rechtzeitig aus der Verantwortung gestohlen, haben sich vorsorglich in Sicherheit gebracht." Wie das? Die Stadt München hat "die gesamte planerische Verantwortung für den beherrschend an der Autobahn stehenden gigantischen Solitär" an die privaten Bauherren, zwei Fußballvereine abgetreten: "Die Entscheidung wird also nicht nach architektonischen oder städtebaulichen, sondern ausschließlich nach wirtschaftlichen Kriterien gefällt."

Jörg Häntzschel meditiert über den globalen Nomaden zu Schiff und in der Luft, der unsere kollektive Vorstellung vom Wohnen verändern soll: "Wenn die Business?Class das Wohnzimmer ersetzt, dann ist der Flughafen der neue Dorfplatz: der einzige Ort, an dem der Vielflieger ungeschützt von Haus, Auto oder Wachschutz mit der Öffentlichkeit in Kontakt kommt. Eben kannte man die Frau vom Backshop, heute kennt man die Damen vom Check-In. Bisher war Gemeindezugehörigkeit eine Frage des Wohnorts, heute ist es eine des Flugplans. Immer dieselben Gesichter in denselben Maschinen nach Frankfurt." Na, dann bleibt doch eigentlich alles beim alten.

Weitere Artikel: Fritz Göttler schreibt unter der schönen Überschrift "Heiße Katzen auf der Yacht" über große und kleine Filme auf dem Filmfestival in Locarno. Lothar Müller versteht nicht, warum Jochen Meyer so enttäuscht darüber ist, dass Martin Walser seinen Nachlass nicht dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach überantworten will, sondern einem befreundeten Antiquar. Gerhard Neumann denkt in der Reihe "50 Jahre Minima Moralia" über Passagen zur Sprache nach dem Faschismus nach.

Besprochen werden Gerard Stembridges Film "Alles über Adam", Konzerte mit dem Klangforum und dem Radiosinfonieorchester Wien bei den Salzburger Festspielen, und zwei Bücher: Antje Ravic Strubels Roman "Offene Blende" und "Großvater geht", ein Foto-Essay von Georg Pöhlein (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 10.08.2001

"Ach, Europa!", ruft Dietmar Polaczek, und was er beschreibt, verdiente aufgegriffen zu werden. Aber leider wissen es nur jene wenigen Europäer, die mal im europäischen Ausland gelebt haben: "Garantieurkunden, nur im Land des Erwerbs gültig und beim Umzug über die Grenze schon nicht mehr; Modellvarianten, die im anderen Land keiner warten kann oder will, Software, die ohne technische Notwendigkeit für Laien unabänderlich auf eine Sprache beschränkt ist, raffinierte Tricks der Mobilfunknetze in Grenzgebieten, automatische Netzsuche für unfreiwilliges und überflüssiges Roaming auszunutzen, festverschweißte Spezialstecker an Trafos für nur ein Gerät und nur in einem Land." Und dann die noch viel fataleren Fragen der Steuer, Kranken- und Rentenversicherung. "Ach, Europa" ist milde ausgedrückt.

Scharfe Kritik an seiner Schweizer Heimat übt Jürg Altwegg. Die Unabhängige Expertenkommission, die nach der Entdeckung der "nachrichtenlosen Konten" die Rolle der Schweiz und der Schweizer Wirtschaft in der Nazizeit untersuchte, hat ihre Arbeit abgeschlossen und wird Ende des Monats einen - jetzt schon umstrittenen - Bericht vorlegen. Danach soll sie die Akten gleich wieder an ihre Besitzer aus der Wirtschaft abgeben. "Außerhalb der Eidgenossenschaft hat man den Rückgabebeschluss kaum zur Kenntnis genommen, und deshalb mag die Schweiz nicht ganz zu Unrecht den Eindruck haben, die Krise, die das Land in seinen Grundfesten erschütterte, sei tatsächlich bewältigt. Die Vergangenheit wird abgehakt, weiterführende Kontroversen würden nur den scheinbar wiedergefundenen Frieden stören."

Eduard Beaucamp benennt noch mal als Skandal, wie die berühmte Waldseemüllerkarte (die erste Weltkarte mit Amerika drauf) aus deutschem Besitz so mir nichts dir nichts in die Library of Congress gelangte: "Was bei diesem Verstoß wider den Geist des Gesetzes und bei dessen politisch-opportunistischer Auslegung und Instrumentalisierung besonders empört, ist die vollständige Geheimhaltung. Der Fall wurde nach Feudalherrenmanier entschieden. Wenn ein Denkmal solchen Ranges auf dem Spiel steht, muss, nicht anders als bei Bauwerken, eine öffentliche Diskussion stattfinden. Bis heute hat es die Bundesregierung - mit Ausnahme eines Leserbriefes - nicht für nötig gehalten, den Vorgang und schließlich den Verlust der Karte öffentlich bekanntzumachen und zu begründen."

Weitere Artikel: Der Zeithistoriker Andre Steiner erklärt in einem Essay, dass die DDR die Mauer baute, weil sie zuvor wirtschaftlich versagt hatte und dass sie nach dem Mauerbau wirtschaftlich schon gar nicht mehr genesen konnte (hinterher weiß man alles besser!) Ernst Albrecht, der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachsen wendet sich gegen das Klonen. Dieter Bartetzko schildert in einem schön illustrierten Artikel die Fortschritte beim Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche. Michael Hanfeld wundert sich, welche Verwerfungen in Deutschland ein Thema wie der Sendebeginn einer Fußballsendung auslösen kann. Joseph Croitoru erzählt in einer Reportage, wie Beduinen in Israel das Theater als gesellschaftliches Instrument nutzen.

Ferner schreiben Wildfried Wiegand zum Tode des französischen Kunstsammlers Jacques Kerchache und Gerhard R. Koch zum Tod der Ondes-Martenot-Virtuosin Jeanne Loriod. Susanne Klingenstein stellt das Dahesh Museum in Manhattan vor

Besprechungen gelten einer Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst von Aboriginals in der Sammlung Essl und einer Ausstellung des Codex des Klosters Lorsch.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht es um CDs mit Musik aus Tadschikistan, Georgien und Aserbeidschan, um CDs mit Kammermusik für Naturhörner und um Chris Whitleys Album "Rocket House".