Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.08.2001.

TAZ, 22.08.2001

Sabine Leucht stellt Bildbände vor, die zurückblicken auf die Arbeiten von Dieter Dorn, Eberhard Witt und Elisabeth Schweeger und verspricht einen "aufregenden Theaterherbst" in München. "Während man seinen Nachfolger und Nochschauspielchef der Salzburger Festspiele, Frank Baumbauer, bis Spielzeitbeginn in München nicht zu fassen kriegt, ist Dorn schon lange wieder im Probenstress: Sein 'Kaufmann von Venedig' wird am 12. Oktober die Saison eröffnen - vor einem schon wieder beachtlichen Stamm von neuen alten Abonnenten. Dafür aber schüttelt Baumbauer zwölf Tage darauf einen Trumpf aus dem Ärmel: Herbert Achternbusch inszeniert zur Eröffnung der 'neuen' Kammer sein Stück 'Daphne in Andechs'."

Weitere Artikel: In der Reihe "berliner ökonomie" porträtiert Dorothee Wenner Ulrike D., die erst einen schwungvollen Handel mit den abgelegten Pelzen der Berlinerinnen in Portugal betrieben hat und jetzt ebendort Immobilien verkauft. Thomas Voburka liefert eine Reportage über einen österreichischen Drehbuchautor, der in deutschen Supermärkten österreichischen Käse promotete. Besprochen wird die Foto-Triennale in der Villa Merkel in Esslingen.

Schließlich Tom.

SZ, 22.08.2001

Susan Vahabzadeh hat sich mit "Bridget Jones" amüsiert, findet aber, dass der Film nicht ganz an das Buch heranreicht: "Im Kino ist Bridget nur noch witzig. Der Roman aber ist ein bisschen mehr, weil es ganz schön grausam ist, wenn Bridget zu Bewusstsein kommt, dass sie keine Ahnung hat vom aktuellen Stand der Abendnachrichten, dafür aber ganz sicher weiß, wie viele Kalorien ein Schokoriegel hat. Bridget ist ein Monster, das entstanden ist, als der theoretische Feminismus auf die realen Bedingungen des Patriarchats traf: Sie ist ein echter Freak in einer Welt, die für so etwas wie sie noch nicht reif ist."

Ausgesprochen sauer reagiert der Jesuit Peter Gumpel auf die Behauptung von Wolfgang Schieder, das Seligsprechungsverfahren von Papst Pius XII. zeige, dass die Jesuiten an Macht verloren haben. Sie hätten nämlich schon vor Jahrzehnten versucht, Pius XII. selig sprechen zu lassen, seien damit aber 1963 an Hochhuts "Stellvertreter" gescheitert. Dazu Gumpel: "Da im Jahre 1963 das Verfahren überhaupt noch nicht eingeleitet war, ist diese Feststellung schon rein zeitlich widersinnig. Unsere Arbeiten für das Verfahren von Papst Pius XII. sind wissenschaftlicher Art. Das Machwerk von Hochhuth ist wissenschaftlich wertlos, wie zahlreiche Historiker immer wieder betont und bewiesen haben."

Patrick Illinger beruhigt aufgeregte Geisteswissenschaftler, die den perfekt geklonten Menschen fürchten. Die Entzifferung des Genoms habe alles andere als Klarheit gebracht. Zwar könnten mit Hilfe der Gentechnik genetisch geförderte Krankheiten unterdrückt werden. "Doch der erstaunliche Prozess der natürlichen Selbstorganisation, in dem sich Zellen teilen und Gene über Enzyme und Proteine die Bildung des Organismus steuern, bleibt so filigran wie im Detail unverstanden. Es fehlt im heutigen Theoriegebäude der Naturwissenschaften ein Fundamentalgesetz, ähnlich den Hauptsätzen der Thermodynamik, das erklärt, was die Bildung derart komplexer morphologischer Strukturen antreibt." Im übrigen empfiehlt er den Diskutanten, sich sowohl über "den aktuellen Stand der Technik als auch grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten 100 Jahre, darunter die Chaostheorie und die Quantenmechanik" zu informieren.

Weitere Artikel: Helmut Schödel kommentiert böse die Entscheidung des Berliner Senats, das Berliner Theater des Westens zu privatisieren ? nachdem man nochmals 65 Millionen Mark reingesteckt hat. Eine kurze Meldung informiert uns, dass die ZDF-Talkshow "Philosophisches Quartett" in den VW-Produktionshallen der neuen Luxuslimousine D1 aufgenommen wird, dazu reicht ff. eine kleine Glosse ("'Sag mal, Smoky, musst du eigentlich immer mit dieser alten Pseudokinese anrücken? Die hat doch null Potentialität, der Prädikator schleift, und wenn du sie ausmachst, hat sie noch fünf Minuten lang das Mysterium tremendum.'").

Michael Althen widmet sich in der Reihe "Das war die BRD" dem Fruchtsirup Tri Top. Eva Marz hat dem philosophischen Kolloquium über die Liebe auf Schloss Elmau zugehört. Ira Mazzoni beschreibt den "Palast der Projekte", den Ilya und Emilia Kabakov im Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen installiert haben. Eye. erklärt, warum es Sinn macht, dass Pharmakonzerne wie der Viagra-Hersteller Pfizer Popgruppen sponsoren. Jah Wobble spricht im Interview mit Christoph Wagner über Bass-Mantras und erzählt, wie er Johnny Rotten kennenlernte: "Ich kannte John Lydon alias Johnny Rotten von einer Schule, an der Schulabbrecher ihren Abschluss nachholen konnten. Sid Vicious war auch dort. Es bildete sich eine Clique, die später zum harten Kern der Punkbewegung wurde. Wir gingen zu 'Smile', einem Frisörgeschäft, um uns die Haare färben zu lassen. Es entstand eine kleine, modische Szene ausgeflippter Typen im Londoner Osten, alles Arbeiterkids."

Besprochen werden heute vor allem CDs: "Poses" von Rufus Wainwright, "I Make a Wish For a Potato" von den Holy Modal Rounders und "Infectious" von den Jigmastas. Und ein Buch: Raymond Klibanskys "Erinnerungen an ein Jahrhundert" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 22.08.2001

Die Debatte um Sebastian Haffners Buch "Geschichte eines Deutschen" geht weiter. Joachim Güntner fragt: "Hat man die Kritik des ersten Angreifers, des Dresdner Kunsthistorikers Jürgen Paul, nicht vielleicht doch zu rasch abgefertigt? Die Anachronismen, die er aufzudecken meinte, waren gar keine - da hat er sich blamiert, fürwahr. Aber Pauls Mängelliste ist lang, wie wir mittlerweile feststellen konnten, und sie macht neben den irrigen etymologischen und historischen auch literaturkritische Einwände geltend, welche durchaus zu denken geben: Die Stilisierung von Haffners Vater zum 'Abziehbild des anständigen Konservativen' die mutige Liaison mit einem jüdischen Mädchen 'pünktlich zur Machtergreifung' der ausgesucht international besetzte Tennisklub; der von der SA verprügelte jüdische Anwalt, 'der - wie kann es anders sein? - als Soldat im Ersten Weltkrieg ein Auge verloren hat' - hat Paul nicht Recht, hier laut 'Kolportage!' zu rufen?" Aber musste Haffner die Dinge für sein britisches Publikum nicht auch ein bisschen vereinfachen?

Besprochen werden eine Ausstellung über das Künstlerpaar Roland Penrose und Lee Miller in Edinburgh, und einige Bücher darunter Trezza Azzopardis Roman "Das Versteck" und Gottfried-Karl Kindermanns "Der Aufstieg Ostasiens in der Weltpolitik 1840 bis 2000" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 22.08.2001

Thomas Girst porträtiert den Genkünstler Eduardo Kac, der mit einem Hasen die Aufmerksamkeit der Kunstwelt auf sich zog: "Zwar geriet er nicht unmittelbar ins Kreuzfeuer der Kritiker, als er im Sommer 2000 seinen transgenen, also fremdes Genmaterial tragenden Hasen Alba der Presse vorführte. Aber Bilder des bei Blaulicht hellgrün aufleuchtenden Versuchskarnickels machten in Windeseile die weltweite Runde. Angesehene Tageszeitungen wie der Boston Globe zeigten Alba auf der Titelseite und dem großen amerikanischen Fernsehsender ABC war Alba einen ausführlichen Bericht zur besten Sendezeit wert. Dabei hatte Kac, der für seine Projekte mit internationalen Forschern zusammenarbeitet, nichts anderes getan, als dem Erbgut des Hasen ein grün fluoreszierendes Protein, kurz GFP, beizumischen."

Hans-Klaus Jungheinrich zieht eine gemischte, insgesamt aber positive Bilanz der zehnjährigen Amtszeit Gerard Mortiers in Salzburg. Allerdings: "Mortiers Reform zielte unbedingt auch auf ein verändertes, verjüngtes Publikum, ausdrücklich nicht bloß auf Snobs, sondern auch auf der 'Hochkultur' und der Oper Fernstehende. Diese Absicht ließ sich, auch angesichts durchschnittlich sehr hoher Eintrittspreise, kaum befriedigend verwirklichen."

Micha Brumlik fragt sich, ob ein Jude in der Diaspora die israelischen Politik kritisieren dürfe und findet dann doch einige gute Gründe dafür, unter anderen diesen: "Nichts spricht schließlich für die Vermutung, dass der rechte Flügel der israelischen Koalitionsregierung irgendetwas besser weiß als deren mögliche Kritiker im Ausland."

Weitere Artikel: Martina Meister vermeldet die Privatisierung des Theater des Westens in Berlin. Michael Braun stellt zwei neue Lyrikreihen vor, die Edition Korrespondenzen und die "Lyrik im Europa Verlag". Eli Hartenstein schildert die schwierige Lage der moldawischen Schriftsteller. Besprochen werden eine Ausstellung des Zeichners Heinrich Jacoby im Deutschen Architektur-Museum Frankfurt und der Film "Bridget Jones".

FAZ, 22.08.2001

Die abenteuerliche Geschichte des Unspunnensteins erzählt Jürg Altwegg. Der Gletscherfindling ist 85 Kilo schwer und wird von den Schweizern bei sporadischen "Schwingfesten" zum Weitwurf genutzt. Auf mehr als vier Meter hat es bisher niemand gebracht. Aber dann, 1985, raubten ihn jurassische Separatisten. Nun wurde der Stein bei einem traditionellen Pferdemarkt in Saignelegier wieder aufgefunden. Shawne Fielding die legendäre Gattin des Schweizer Botschafters in Berlin nahm ihn in Empfang: "Ahnt sie was, weiß sie was? Die Texanerin fühlt sich unter den nonkonformistischen Pferdefreunden sichtlich wohl. Und wird gefeiert. Sogar ein Geschenk soll sie bekommen. Unangekündigt wird es, sauber eingepackt, auf einem Rolltischchen vorgefahren. Ein junges Mädchen verliest einen Brief und verschwindet in der Menge. Am Sonntag morgen wird das staunende Land mit der Nachricht geweckt, dass und wie der Unspunnenstein nach siebzehn Jahren wieder auftauchte: Die Separatisten haben der schönen Fielding den verlorenen Findling auf einem Tablett offeriert." Altwegg wertet das als Zeichen für den Niedergang des jurassischen Separatismus.

Eine simple, aber berückende Wahrheit zitiert Jürgen Dollase auf der Stilseite aus einem Buch des französischen Neurobiologen Jean-Didier Vincent: "Das Paradoxon des kulinarischen Werkes sei, dass man ein Monument zerstören und bis zum Nichts reduzieren muss, um das Genie seines Architekten beurteilen zu können. Und dafür werden wir auch noch durch den Geschmack belohnt, immer hoffend natürlich, dass der Schmerz der Trennung von der visuellen Opulenz mehr als aufgewogen wird von den Genüssen, die uns danach erwarten, dass also wohlfeile Freuden am Konkreten durch die Erlebnisse im Abstrakten übertroffen werden."

Weitere Artikel: "Ich denke, dass das Thema 'ran' nun wirklich ausdiskutiert ist", sagt der Geschäftsführer von Sat1, Martin Hoffmann, im Interview mit Michael Hanfeld zum Thama 'ran'. Thomas Wagner schildert Wechselfälle um den Düsseldorfer "museums kunst palast". Dieter Bartetzko beschreibt einen gläsernen Schutzbau der Architekten Schulze + Schultze für Marburgs mittelalterliche Synagoge. Jörg Thomann meldet, dass der Vertrag von Martin Süßkind als Chefredakteur der Berliner Zeitung nicht verlängert wurde, was einer Kündigung gleichkommt. Oliver Tolmein kommentiert ein kalifornisches Urteil zur Euthanasie. Thomas Weber berichtet über einen Gesetzentwurf in Vermont, nach dem Indianer ihre Abstammung durch Gentests nachweisen sollen. Und Georg Klein erinnert sich im Deutschen Wörterbuch an das Wort "Ostzone".

Besprochen werden ein Dokumentarfilm "Der Traum ist aus" über Rio Reiser und die "Erben der Scherben", eine große Ausstellung über das Nachleben des Troja-Mythos in der Kunst in Braunschweig, ein Tanzspektakel von Michael Clark beim Berliner "Tanz im August", eine Ausstellung über die Grenzen von Fotografie und Malerei im Wiener Künstlerhaus und die Ausstellung "Charlestonkleid und Tippmamsell" über die Frauenmode der zwanziger Jahre in Ratingen.