Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2001.

NZZ, 31.08.2001

Die Untersuchungen der Bergier-Kommission fördern offensichtlich in vielen Gebieten neue Erkenntnisse zu Tage. Philipp Meier berichtet über einen Band, der im Rahmen dieser großen Geschichtsbewältigung erstellt wurde und von "Fluchtgut" und "Raubgut" auf dem Schweizer Kustmarkt während der Nazizeit handelt. Wie der Schweizer Kunstmarkt profitierte zeigt sich etwa am Beispiel der der Galerie Fischer in Luzern: "Die Galerie Fischer steht insofern exemplarisch für den damaligen Kunstmarktplatz Schweiz, als sie sämtliche sich bietenden Spielräume ausschöpfte. Sie stand nicht nur mit der für die deutsche Verwertungsstelle organisierten Auktion von 'entarteter Kunst' 1939 in Luzern im internationalen Rampenlicht, sondern betätigte sich ab 1941 auch an Tauschgeschäften mit Gemälden des französischen Impressionismus, die sich später als von den Nazis geraubt herausstellten. Des weiteren führte sie 'Emigrantenauktionen' durch und trat als Großlieferant für die Sammlungen von Göring und Hitler in Erscheinung."

Peter Hagmann zieht eine gemischte, aber weithin positive Bilanz der Ära Gerard Mortiers und Hans Landesmanns in Salzburg: "Am Ausnahmecharakter des Festivals und an den damit verbundenen Ambitionen in qualitativer Hinsicht hielten sie fest. Zugleich öffneten sie das Angebot konsequent dem Modernen und dem Umstrittenen. Verloren gegangen ist dabei die Gewissheit, auf gefestigtem Fundament stehen und den sicheren Werten in Oper, Konzert und Schauspiel begegnen zu können."

Weitere Artikel: Peter W. Jansen schreibt zum Tod von Francisco Rabal. Matthias Kross resümiert ein Wittgernstein-Symposion. Besprochen wird ein Konzert des Oslo Philharmonic Orchestra unter Mariss Jansons in Luzern.

FAZ, 31.08.2001

FAZAuch Österreich hat jetzt seine Martin-Walser-Debatte, berichtet Eva Menasse, deren etwas resignierter Tonfall nahe legt, dass sie das eigentlich für überflüssig hält. Auslöser war im Juni ein Artikel des Philosophen Rudolf Burger im Standard: "'Die Irrtümer der Gedenkpolitik - Ein Plädoyer für das Vergessen' hieß das Stück und rief, wie der zweite Teil des Titels schon sagt, polemisch dazu auf, die Erinnerung an Holocaust und Nationalsozialismus endlich und umfassend zu begraben." Seitdem werde in Österreich heftig gestritten, "das Eigentliche" dabei jedoch nur angetippt, meint Menasse. Zum Beispiel die Frage: "Wie verfestigt ist bereits das Dogma, dass nur die richtige Erinnerung an den Holocaust eine fürderhin bessere Welt garantiert?" Statt dessen tausche man "Provokationsfloskeln. Hochfahrend, moralisch allzu selbstgewiss sind beide Seiten: jene, die 'Skandal' schreit und Burger so panisch wie automatisch ins Paria-Eck stellen will, und Burger, der im Selbstversuch genau diesen überflüssigen Beweis führen will und der seinen Stolz mehr aus erbitterter als aus begründeter Opposition bezieht." Menasse wünscht sich, dass in der Debatte um das Holocaust-Gedenken "endlich einmal einer mit Sachlichkeit schockiert."

Mark Siemons war bei der ordentlichen Hauptversammlung der Bankgesellschaft Berlin und bewundert die Ruhe der geprellten Aktionäre: "Überhaupt neigte dieses Publikum nicht zu antikapitalistischem Furor. Es nahm die Eingeständnisse und Bezichtigungen, die Eröffnungen über Entlassungen, Selbstentlassungen und gerichtliche Untersuchungen mit einer stoischen Ratlosigkeit auf, wie sie unter den Mitgliedern des Zentralkomitees beim Ende der DDR geherrscht haben mag."

Weitere Artikel: Andreas Kilb schreibt aus Venedig über die neuen Filme von Giuseppe Bertolucci, Alfonso Cuaron und Larry Clark. Christian Geyer beklagt die Abschaffung des Bordrestaurants im ICE. Gerhard Rohde stellt Peter Ruzickas Programm für die nächsten fünf Jahre der Salzburger Festspiele vor. Jörg Thomann berichtet über das deutschsprachige Auslandsprogramms von "The German Channel". Bettina Erche skizziert ein Beispiel für besonders unfähige Lokalpolitik: die Verschandelung von Lorch im Rheingau. Arnulf Herbst zeichnet die Verstümmelungen des Apollon von Belvedere nach. Und Jordan Meijas berichtet über Pläne, in Kalifornien keine weiteren Autobahnen mehr zu bauen.

Walter Haubrich schreibt einen langen Nachruf auf den spanischen Schauspieler Francisco Rabal. Richard Kämmerlings gratuliert Wolfgang Hilbig zum Sechzigsten. Und Georg Imdahl schreibt zum Tod des spanischen Bildhauers Juan Munoz.

Besprochen werden eine Ausstellung von Lee Miller und Roland Penrose in der Scottish National Gallery, das Konzert von Wolf Biermann in Köln, eine Zirkus-Ausstellung im Musee Auto Moto Velo in Chatellerault und die Skulpturen von Auke de Vries in Amersfoort.

Auf der Schallplatten- und Phonoseite werden Aufnahmen mit Werken von Schönberg, Veress, Bartok und Hartmann besprochen, Messen von Josquin Desprez und eine von dem Amerikaner Remo Mazzetti "vollendete" Zehnte Symphonie von Mahler.

TAZ, 31.08.2001

Katja Nicodemus bleibt die aktuellste im Strauß der Zeitungen, die wir so lesen. Sie kommentiert in ihrer heutigen Kolumne aus Venedig das Fernbleiben der Berlusconi-Regierung. Die Skizzen der Filme, die sie gesehen hat, klingen abschreckend: Es scheint in in diesem Jahr im wesentlichen um Tierquälerei, Vergewaltigung und Inzest zu gehen!

Brigitte Neumann unterhält sich mit dem britischen Autor Bill Broady, der in Bradford lebt und der einiges über die Rassenunruhen in der Stadt zu sagen weiß: "Es muss einmal gesagt werden, dass die Sache mit den rechtsradikalen Weißen-Gangs total erfunden ist. Niemand hat diese Banden jemals gesehen. In Wirklichkeit handelt es sich bei den Unruhen in Bradford um eine Konfrontation, die sich zwischen einer gewissen Zahl unzufriedener, zu Recht unzufriedener asiatischer Teenager und der Polizei zusammenbraute. Und zwar begann das schon vor zehn Jahren. Genauso wenig wie weiße Rechtsradikale gibt es in Bradford islamische Fundamentalisten. Sondern nur einen Haufen junger Männer, die sich an kein Gesetz halten und arbeitslos sind."

Weitere Artikel: Sebastian Handke liefert eine ausführliche Hymne über Björks neues Album "Vespertine" ("'Vespertine' ist die betörendste Therapie, der man sich zum Sommerende verschreiben kann. Aber: Man muss ihn auch aushalten können, diesen rücksichtslosen Versuch über pure Schönheit.") Besprochen werden außerdem die große Videokunstausstellung im Kasseler Fridericianum und eine neue CD von New Order.

Schließlich Tom.

FR, 31.08.2001

Claus Leggewie erzählt die seltsame Geschichte der Künstergruppe Gelatin, die einen Balkon am 91. Stock des World Trade Center in New York angebracht haben soll: "Da ein Teil der immensen Bürofläche in den Zwillingstürmen notorisch freisteht, stellt das Management Künstlern auf dem 91. Stock ein geräumiges Studio zur Verfügung. Gelatin arbeitete darin, nebst 14 weiteren Artisten, im Frühjahr 2000 an einem Kartonagenhaus, wie man es schon aus anderen Aktionen kannte. Nach eigenem Bekunden geschah das aber nur zum Schein und zur Verschachtelung eines ganz anderen Plots, des 'Plan B', der nun in die Kunstgeschichte eingehen könnte."

Thomas Medicus vermerkt angesichts des Mazedonien-Einsatzes von Bundeswehrsoldaten: "Die noch in den 90-er Jahren öffentlich heftig debattierte 'deutsche Vergangenheit' konnte den Streit um den jüngsten Ernstfall nicht mehr beeinflussen."

Monika Küble hat die Mumien von Ferentillo besucht: Wer dort vor hunderten von Jahren in der Kirche von Santo Stefano bestattet wurde, ist zumeist wegen günstiger klimatischer Bedingungen einigermaßen luftgetrocknet und erhalten. Und man erzählt sich seltsame Geschichten über "Le mummie".

Weitere Artikel: Wladimir Kaminer liefert eine neue Folge seiner Notizen aus der Schönhauser Allee. Besprochen werden der ägyptische Film "El Medina", Michael Chauvistres Film "Mit Ikea nach Moskau", Videoinstallationen von Bruce Nauman, Douglas Gordon und Doug Aitken und weitere Werke aus der eigenen Sammlung im Kunstmuseum Wolfsburg und Tanzspektakel beim Berliner "Tanz im August". Peter W. Jansen schreibt außerdem zum Tod von Francisco Rabal.

SZ, 31.08.2001

Peter Ruzicka und sein Team haben in Salzburg ihr Festspiel-Programm bis 2006 skizziert, berichtet Wolfgang Schreiber. Es klingt ehrlich gesagt nicht sehr aufregend: Erstens Mozart. "Zweitens: Richard Strauss... Drittens: Zentrale Opernwerke aus dem 19. Jahrhundert... Viertens: Exilkomponisten... Fünftens: Neues Musiktheater." Schreiber merkt an: "Es herrschte rhetorisch, atmosphärisch eine gewisse routinierte Geschäftsmäßigkeit, keine Aufbruchstimmung in Richtung irgendeiner Umbesinnung oder einer Utopie."

Thomas Meyer kommentiert die Vorlage der ersten Berichte der Unabhängigen Expertenkommission, die die Verstrickungen der Schweizer Wirtschaft in der Nazizeit untersuchte: "Heute zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass sich zahlreiche Schweizer Unternehmen mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten gut arrangieren konnten. Gerade im Umgang mit der veränderten Machtlage zeigten sich ihre Handlungsspielräume. Sie wurden je nach Interessen genutzt oder bewusst ignoriert. Das Bild der Schweiz im 'Dritten Reich' ist komplexer geworden, aber auch düsterer."

Claus Koch konstatiert in seinen "Noten und Notizen": "Aus den Feuilletons der großen Intelligenzblätter ist die Schule, die in den sechziger und den siebziger Jahren fast allzu präsent war, nahezu verschwunden. Ehrgeizige Medienintelligenzler geben sich mit ihr ebenso wenig ab wie jüngere Politiker. Deren Vorgänger hatten mit Bildungspolitik oft ihre Karriere begonnen, heute stellt man sich damit auf ein totes Gleis."

Weitere Artikel: Tobias Kniebe schildert seine ersten Eindrücke von der Mostra in Venedig. Gottfried Knapp freut sich, dass renommierte Architekten wie Herzog & de Meuron und Peter Eiseman Vorschläge für das neue Münchner Fußballstadion eingereicht haben. Andrian Kreye berichtet vom New Yorker Bürgermeisterwahlkampf: Giulianis harte Kriminalitätsbekämpfung wollen alle Kandidaten fortführen, aber seine "Decency Commission", die die Reinheit der Kunst überwacht, soll abgeschafft werden. Burkhard Müller-Ulrich erzählt die Geschichte der Bahnhofsuhr von Bologna, die beim Bombenattentat von Neofaschisten 1980 auf 10.25 Uhr stehen blieb. Die Bahnhofsleitung wollte sie jetzt wieder in Gang setzen ? die Angehörigen der Opfer protestierten: Die Uhr ist ein Mahnmal. Petra Steinberger greift das Schicksal von Flüchtlingen auf, die man auf Seelenverkäufern ziellos in den Meeren kreuzen lässt, weil kein Land sich für sie zuständig fühlt.

Ferner resümiert Nicole L. Immler eine Tagung in Liverpool über "Oral History". Elisabeth Lenk setzt die Reflexionen zum fünfzigsten Erscheinungstag von Adornos "Minima Moralia" fort. Uwe Mattheis berichtet von der ersten europäischen Aufführung von Wole Soyinkas Theaterspektakel "King Baabu" in Zürich. Fritz Göttler schreibt zum Tod des Schauspielers Francisco Rabal. (eine Sammlung mit Links zu spanischen Nachrufen auf Rabal findet man auf einer gut gemachten Yahoo!-Seite zum Thema.)

Besprochen wird heute einzig ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado bei den Salzburger Festspielen.