Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2001.

TAZ, 07.09.2001

Katja Nicodemus beklagt sich in ihrer Kolumne aus Venedig, dass Sex im Kino nur noch als "mechanischer Akt" gezeigt wird: "Ulrich Seidl beraubt seine österreichischen Kleinbürger beim Gruppensex jeglicher Kreatürlichkeit ... Larry Clark macht das Aufeinanderklatschen zweier Teeniekörper in 'Bully' zur Feierabendroutine und inszeniert Quickies wie Videospiele. In 'Hollywood, Hongkong' ist kein Unterschied mehr zwischen Menschen- und Schweinekörpern und in koreanischen Filmen sind Sex und Schläge sowieso dasselbe."

Ansonsten nur Musik heut in der taz: Max Dax widmet 326 Zeilen "Love and Theft", dem neuen Album von Bob Dylan. Gerrit Bartels liefert eine Rock'n'Roll-Erzählung über die New Yorker Band The Strokes mit einem Helden namens Brinkmann. Susanne Messmer war beim Depeche-Mode-Konzert in Berlin. Und Martin Weber stellt "Songs zum Heulen" von Cake, Mercury Rev und Ben Folds vor.Schließlich Tom (heute von OL).

FAZ, 07.09.2001

Auch das gibt es noch. Ein Vertreter der kulturellen Kultur, Eduard Beaucamp, Kunstkritiker der FAZ, stimmt einen großen Klagegesang an auf den Verlust aller Verbindlichkeit von Kunst. Museen versuchen den Prestigeverlust des Kulturellen aufzufangen durch müde Inszenierungen. "Niemand glaubt mehr so recht an den ideellen Mehrwert, die konsensstiftende Leitwährung der Kunst, an ihre Zukunftsmächtigkeit und gesellschaftliche Repräsentanz. Aus den glanzvollen Vorräten der Geschichte lässt sich kein verbindlicher Kanon, kein ästhetisches Ethos, kein lebensgestaltender Stil mehr ableiten. In ihrer Not sind die Museumsleute und Kunsthistoriker heute fast allzu wendig geworden. Der Dank bleibt aus: Im Ausstellungsgewerbe haben ihnen die Regisseure und Unterhalter, meist Außenseiter, die Schau gestohlen." Hat er nicht recht?

Eleonore Büning bringt auf der Medienseite ein anderes Beispiel bei. Ein Kulturradio verschwindet: "Vom 1. November an gibt es Radio Bremen 2 gar nicht mehr." Wofür zahlen wir eigentlich 30 Mark im Monat?

Andreas Kilb hat in Venedig Eric Rohmers neuen Film "Le duc et l'Anglaise" gesehen, der bekanntlich in der Revolution spielt. Rohmer hat hier mit digitalen Mitteln das alte Paris rekonstituiert, aber Kilb ist eher enttäuscht von dem Film: "In der eindrucksvollsten Szene ... steht Grace Elliott mit ihrer Zofe auf einer Balustrade hoch über Paris. Unten wird gerade der König geköpft, und Grace fragt die Dienerin, die durch ein Fernglas schaut, was sie darin sehe. 'Nichts', ist die Antwort. So geht es einem auch mit Rohmers Film: Er sieht offenbar ein paar sehr aufregende Dinge, aber er ist viel zu diskret, sie uns auch zu zeigen." In der Magazinrundschau haben wir übrigens auf ein Interview mit Rohmer zum Film hingewiesen.
Nach Benjamin von Stuckrad-Barre hat Gerhard Schröder das größere Inszenierungstalent als Verteidigungsminister Scharping. Beim Kanzlerfest habe er gezeigt, wie man fernsehtaugliche Bilder privaten Glücks liefert. "Mit ruhiger Hand um die Schultern seiner Ehefrau stand er da, die beiden schunkelten, während Udo Lindenberg sang, Schröder-Köpf rief 'Udo, Udo', und nach der Darbietung nahm jener Udo, Udo dann Frau Schröder-Köpf in den Arm, und Schröder eilte dazu und tat lachend für die Kameras so, als müsse er die beiden trennen, dann regnete es Feuerwerksfunken auf die Bühne, alle guckten in den Himmel, und nach der letzten Rakete sagte Schröder zu seiner Frau, laut genug für die angelnden Mikrofone ringsherum: 'Das haben die doch doll gemacht.'"

Weitere Artikel: Der Zellbiologe Volker Herzog will den "Märchen der Embryonenverbraucher" nicht glauben und bezweifelt, dass Präsident Bushs Idee, die Forschung auf bestehende Zellinien zu beschränken durchsetzungsfähig ist. Friedrich Dieckmann begibt sich in einem ganzseitigen Essay auf Expedition nach Meuselwitz, der Heimatstadt von Wolfgang Hilbig. Siegfried Stadler begutachtet Christoph Mäcklers Entwurf der neuen Marktgalerie für den Alten Markt in Leipzig. Von Reinhard Kager erfahren wir, dass der Mäzen Alberto Vilar der Wiener Staatsoper eine Untertitelungsanlage gestiftet hat. Und Gerhard Stadelmaier nimmt Claus Peymanns Drohung, wieder nach Wien zu gehen, nicht ernst und schreibt nur eine Meldung dazu.

Besprochen werden ein John-Cage-Orgelprojekt in Halberstadt, Christoph Starks Film "Julietta", die Ars Electronica, Alexander Knaifels Musiktheater nach "Alice in Wonderland" im Amsterdamer Theater Carre und eine Ausstellung über Paul Klees "Jahre der Meisterschaft" in der Stadthalle Balingen.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite würdigt Andreas Obst Stanislaw Skrowaczewskis Deutung von Bruckners Sinfonien. Ferner geht es um Björks "Vespertine" und um Ralph Towner und Jeli Moussa Sissoko.

FR, 07.09.2001

Karin Ceballos Betancur erzählt, warum die Verleihung der Latin Grammies nicht in Miami stattfand. Die Exilkubaner waren dagegen. "Findige Gegner fanden schließlich ein lokales Gesetz, die Cuba Ordinance (Kuba-Verordnung), die jeden, der vorhat, Einrichtungen des County zu nutzen, zum Nachweis verpflichtet, dass er keine geschäftlichen Kontakte zu Kuba pflegt - für die Organisatoren der Latin Grammys im Jahre zwei nach Buena Vista ein unüberwindbares Hindernis. Also fand die Veranstaltung in Los Angeles statt."

Julio Ballester, Produzent eines offiziellen kubanischen Labels, erklärt in einem Interview mit Mario Jorge Muñoz, das die FR ausgerechnet aus einer kubanischen Zeitung übernimmt, die Folgen des amerikanischen Embargos für kubanische Musiker: "Kubanische Musiker, die in den Vereinigten Staaten auftreten, dürfen beispielsweise kein Honorar verlangen. Sie bekommen nur eine Art Reisespesen, Unterhaltszahlungen, um während ihres Aufenthalts im Land leben zu können. Das ist ein gewaltiger Eingriff in ihre Rechte, der mit dem Argument begründet wird, das Geld gehe ansonsten an den kubanischen Staat." Als nächstes hätten wir dann gern ein offizielles Statement der Taliban zu ihrer Kulturpolitik.

Christian Thomas liest das neue Heft des Merkur zum thema Zukunft und Utopien und konstatiert: "Das Utopische macht im Merkur einen fideleren als zuletzt diagnostizierten Eindruck."

Weiteres: Dirk Fuhrig begrüßt das Erscheinen von Catherine Millets "Sexuellem Leben" auf deutsch: "Rund 650 000 Mark sollen für die Rechte an die Editions du Seuil gezahlt worden sein." Daniel Kothenschulte berichtet aus Venedig über Spielbergs "A.I." und über Filme von Suzuki und Oliveira. Marius Meller kommentiert in einem mit viel Luhmann gewürzten Artikel die Tatsache, dass Rainald Goetz im "Nachtstudio" des ZDF auftritt: "Nein, Goetz schlitzt sich nicht mehr die Stirn auf."

Besprochen werden eine CD der französischen Band Tahiti 80 (mehr hier) und eine neue CD von Laurie Anderson, die sich überdies auf Deutschlandtournee begibt. auch sie hat eine Internetadresse.

SZ, 07.09.2001

Lothar Müller feiert einen Festtag für die europäische Literatur. Er hat ihn nämlich gefunden, den "großen Roman, mit dem Europa vom zwanzigsten Jahrhundert Abschied nimmt": Peter Esterhazys "Harmonia Caelestis". Erzählt wird darin vom Abstieg einer Adelsdynastie quer durch die Jahrhundert und Mitteleuropa. "So unangestrengt durchtrieben war selten ein Buch in letzter Zeit, so vibrierend von Jetztzeit und vollgesogen von Geschichte, so reich an frechem Lachen und tiefster Trauer", schwärmt Müller.

Andrian Kreye berichtet über den Aufschwung des New Yorker Stadtviertels Harlem. Von einer zweiten "Harlem-Renaissance" will er aber nichts wissen: In den 20er und 30er Jahren hatte sich in Harlem eine eigenständige schwarze Hochkultur entwickelt. "Heute beschränkt sich die so genannte Renaissance vor allem auf Bilanzen. 'Viele Geschäfte haben in letzter Zeit eröffnet', sagt Claude Sharreff, der das Lokal Windows Over Harlem führt."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld hat der Rede von Botho Strauß bei der Verleihung des Lessing-Preises zugehört und findet, dass Strauß "zu einer neuen Aufgabe gefunden (hat): Er wird selbst zum Kritiker, zu einem, der die Verluste zu beklagen und das Erhaltene zu hüten weiß." Henning Klüver berichtet über Versuche des Staatssekretär im italienischen Kulturministerium Vittorio Sgarbi, sich als Geschmacksrichter Italiens aufzuspielen. Rainer Stephan denkt über die "Affäre Scharping" und die "neue, die demokratische Sucht nach Statussymbolen" nach. Verena Auffermann schreibt über den Umzug der Geisteswissenschaftler der Frankfurter Universität in Hans Poelzigs ehemaliges I.G.-Farben-Haus, wo sie einen "idealen Arbeitsplatz" gefunden haben. Zri. berichtet über das Ende des Prozesses der Fa. Mattel gegen den Künstler Tom Forsythe, der auf seiner Internetseite Barbiepuppen röstet. Tobias Kniebe hat beim Filmfestival in Venedig Steven Spielbergs "A.I." gesehen. Und Günter Gaus beendet die Serie "Das war die BRD" mit der "DDR".

Besprochen werden Alexander Knaifels Musiktheater "Alice in Wonderland" in Amsterdam und ein Donizetti-Spektakel in den Berliner Sophiensäle.

NZZ, 07.09.2001

War Thomas Mann Antisemit? Thomas Sprecher weist auf ein "Forschungsprojekt von Yahya Elsaghe hin, der in Thomas Manns erzählerischem Werk nationalistische und antisemitische Tendenzen beobachtet". Aber er verteidigt Mann auch gegen den Vorwurf: "Es stellte sich in aestheticis sodann die Frage, ob das 'anti-' auf 'anti-semitisch' reduziert werden dürfte. Welche Gruppe kommt denn gut weg im Erzählwerk Thomas Manns? Die Lübecker nicht in 'Buddenbrooks', die Ärzte nicht im 'Zauberberg', die Italiener nicht im 'Tod in Venedig', die Deutschen nicht im 'Doktor Faustus'. Schon in 'Bilse und ich' (1906) hat Thomas Mann das Dichten als Rache an der Wirklichkeit bestimmt."

Ägypten ist in letzter Zeit durch eine Menge Prozesse gegen Schriftsteller und Frauenrechtlerinnen aufgefallen. Nun sind die Schwulen dran: 52 Homosexuelle stehen vor Gericht. Cristina Erck schreibt: "Während im Ausland die Berichterstattung über den Schwulen-Prozess deutlich kritische Töne anschlug, führte sie in Ägypten selbst ironischerweise dazu, dass die Menschen über dieses 'Anderssein' jetzt erst richtig nachzudenken beginnen. Denn eine tolerierte Grauzone der Geschlechterbeziehungen existiert und wird stillschweigend toleriert: Bisexualität ist eben wegen des religiösen Verbots der Homosexualität und einer vorehelichen Beziehung in der islamischen Welt durchaus verbreitet." Nebenbei verweist Erck auf eine ägyptische Internetadresse, auf der man sich zum Thema informieren kann.

Besprochen werden zwei Ausstellungen über das Wohnen in Rotterdam, eine Ausstellung über Heinrich Manns unbekannte Zeichnung im Lübecker Buddenbrookhaus, ein Mahler-Konzert des Concertgebouworkest Amsterdam unter Riccardo Chailly in Luzern und das Tanzspektakel "L'Odeur du voisin" der Genfer Alias Compagnie in Bern.