Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.09.2001.

TAZ, 10.09.2001

Verena Sarah Diehl und Jörg Sundermeier staunen anlässlich einer Berliner Ausstellung mit künstlerisch-politischen Videos, "welches künstlerisch-kritische Potenzial sich in marginalisierten Räumen wie bei feministischen, antifaschistischen oder MigrantInnengruppen gebildet hat". Manchmal kommt der alte taz-Jargon doch noch durch!

Auch Katja Nicodemus freut sich in ihrer abschließenden Venedig-Kolumne über die Rückkehr des Politischen ins Kino, rät aber angesichts von Ulrich Seidls "Hundstagen" - bekanntlich ein voyeuristischer Blick auf den Sex der einfachen Österreicher -: "Vielleicht sollte man die Gesellschaftskritik im Kino bis auf weiteres lieber den globalisierungbewegten Franzosen und einem fussballliebenden britischen Veteranen überlassen. Es scheint ja schon schwer genug, einfach nur eine Geschichte zu erzählen."

Ferner denkt der Psychoanalytiker Micha Hilgers über Rudolf Scharping nach: "Das größte Ärgernis an Scharping ist seine prototypische Spiegelfunktion: Ohne wirkliche politische Anliegen ist er der Parteikarrierist, der Politik kann und sonst nichts. Ein Berufspolitiker, dessen politische Identität so leer ist wie seine persönliche." (Und was ist das Psychoanalytische an dieser Diagnose?)

SZ, 10.09.2001

Das Filmfest Venedig ist zuende. Man sah das Übliche: Sex und Gewalt. Und Tobias Kniebe berichtet: "Zum Ausgleich gab es einen Feelgood-Film aus Indien, man klatschte mit und fühlte sich okay, und irgendwann dachte man: Nun könnten mal die Meisterwerke kommen. Die kamen aber nicht." Der Feelgood-Film aus Indien aber, Mira Nairs "Monsoon Wedding", hat den Goldenen Löwen gewonnen.

In den USA entsteht eine neue Geisterstadt, berichtet Jörg Häntzschel: Detroit. Denn wenn's mit der Autonindustrie bergab geht, dann auch mit der Stadt: "Downtown ragen jetzt Brandmauern über Schotterfelder, und die letzten Gebäude stehen leer. In den Kathedralen des Kapitalismus nisten die Tauben, der breitschultrige Klassizismus klappert mit den Jalousien. Manche Gebäude wirken, als seien sie nur fürs Wochenende verlassen worden, andere, wie das Statler- Hotel, maskieren ihre Leere: Plastikmarkisen sollten die hohlen Fenster verbergen. Im Zuschauersaal des Michigan Theater parken auf drei Stockwerken Autos unter der goldenen Stuckdecke. Im Laufe der Jahre sind 70 Prozent der Innenstadtbebauung verschwunden und mit ihnen Restaurants, Läden, Kinos."

Schule fängt an. Ulrich Raulff warnt vor der "Guerilla im Schulranzen": "Zwar sind die Schulen die institutionell Stärkeren, weil hinter ihnen das Gesetz steht, aber den anderen gehört die Faszination. Und für die Schulen sind die kleinsten Videospiele, die auf den Gameboys laufen, die gefährlichsten Konkurrenten in der Aufmerksamkeitsökonomie."

Weitere Artikel: Ania Loomba berichtet über den kulturellen Fundamentalismus der rechtshinduistischen Partei Shiv Sena in Indien. Jens Bisky resümiert einen australischen Historikerstreit über angebliche oder tatsächliche Massaker an den Aborigines, die am Ursprung der Geschichte des Landes liegen sollen - Philipp Knightley nimmt an, dass in den letzten 200 Jahren 50.000 Aborigines getötet worden seien, der Historiker Keith Windschuttle widerspricht in der Zeitschrift New Criterion. Holger Liebs bespricht die große Balthus-Retrospektive im venezianischen Palazzo Grassi. Jonathan Fischer stellt das avantgardistische HipHop-Label Tommy Boy vor. Andreas Bernard liefert die letzte Folge der Reflexionen über Adornos "Minima Moralia".

Besprochen werden zwei Bücher: Martin Parrs "Langweilige Postkarten" und Sergej Bolmats Roman "Klick".

NZZ, 10.09.2001

Georges Waser fragt in einem kleinen Essay, was heute "Englishness" bedeute und benennt einige Ingredienzen: das Phlegma des Crickett-Spiels, die Klassengesellschaft und die Ablehnung alles Kontinentaleuropäischen. Schließlich zitiert er einen Aufsatz des Spectators: "Obschon wir . . . über nichts als Ferien im Ausland reden, reagieren wir beim Gedanken an einen möglichen Verlust unserer nationalen Identität mit fremdenfeindlicher Hysterie. Wenn wir doch nur eine Identität zu verlieren hätten!"

Pia Horlacher kommentiert die Preise, die Nanni Moretti und seine Jury in Venedig vergaben: "Mit dem Goldenen Löwen für die Inderin Mira Nair honorierten sie indirekt auch die Beiträge diverser anderer Frauen, die sich mit Einfallsreichtum und künstlerischer Differenziertheit gegen den Strom der billigen Brutalitäten und der mitleidlosen Denunziationen stemmten, in dem sich so viele ihrer männlichen Kollegen tummelten."

Weitere Artikel: Philipp Blom berichtet über den neuesten Roman von Fay Weldon, "Die Bulgari-Connection" - für die zehnmalige positive Erwähnung des gleichnamigen Juweliers wurde der Roman großzügig gesponsort. Werner Jacob stellt Oswald Mathias Ungers' neuen Kunstpalast in Düsseldorf vor und bespricht die Ausstellung "Altäre" ebendort. Besprochen werden ferner eine Ausstellung über die Geschichte der Juden in der Diaspora im Jüdischen Museum von Wien, ein Mozart-Konzert von Anne-Sophie Mutter in Luzern, zwei Tanzspektakel in Basel, und Mahlers Achte unter Franz Welser-Möst in Luzern.

FAZ, 10.09.2001

Andreas Kilb zieht Venedig-Bilanz. Die Tatsache, dass nach Michael Hanekes "Klavierspielerin" in Cannes nun mit Ulrich Seidls"Hundstagen" ein zweiter österreichischer Film einen bedeutenden Preis bekommt, nimmt er zum Anlass für eine interessante Frage. Wie ist es zu erklären, dass Österreich so viel mehr preiswürdige Filme produziert als Deutschland? "Die Antwort ist einfach. Das Geheimnis des österreichischen Erfolgs liegt in der rigorosen Zentralisierung der dortigen Filmförderung. Die deutschen Filmförderer, die derzeit um jedes Komma ihrer föderalen Privilegien kämpfen, sollten sich das österreichische Beispiel gründlich durch den Kopf gehen lassen. Denn für den deutschen Film geht es auf den großen Festivals längst nicht mehr darum, einen Preis zu erringen. Die Frage ist vielmehr, ob er dort überhaupt noch in Erscheinung treten kann."

Niklas Maak erzählt von den Plänen des Investors Anno August Jagdfeld für die Ostsee-Halbinsel Wustrow, auf der lange die Rote Armee hauste. Ein Feriendorf im Hutzelstil der dreißiger Jahre soll dort entstehen. Zielgruppe: "Journalisten, Mitarbeiter von Werbeagenturen, Designer". Ein Graus.

Zhou Derong erzählt ein Aids-Melodram aus China. Ein Aids-Kranker erzählt auf der Internetadresse "Unter dem Feigenbaum" die Geschichte seiner Krankheit und erzielt damit Riesenerfolge unter den chinesischen Surfern. "Der Zufall will es, dass 'Der letzte Kampf' wie maßgeschneidert zur gegenwärtigen Kampagne der Kommunistischen Partei gegen die 'Krankheit der bürgerlichen Dekadenz' - gemeint ist Aids - passt." Eine Million Chinesen sollen inzwischen infiziert sein.

Weitere Artikel: Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Rosenfelder Paul Spiegel, der in Warendorf, der Stadt seiner Kindheit, die Ehrenbürgerwürde bekam. Andreas Rossmann resümiert eine kulturpolitische Tagung der Grünen in Köln. Erdmann Neumeister berichtet von einer künstlerischen Fassadenverschönerung im Stadtbild von Basel. Henning Ritter gratuliert dem Wissenschaftspublizisten Stephen Jay Gould zum Sechzigsten und "hd." hat den sechzigsten Geburtstag des Dirigenten Christopher Hogwood ebenfalls nicht vergessen. Johann Schlömann berichtet von einem internationalen Schriftstellertreffen in Tromso anlässlich des hundertsten Geburtstags des Friedensnobelpreises. Hans-Christof Kraus gratuliert dem Historiker Kurt Kluxen zum Neunzigsten.

Auf der Medienseite wundert sich Edo Reents, dass sich ausgerechnet das deutsche Privatfernsehen für den Intelligenzquotienten der Deutschen interesiert - die erste IG-Show mit Günter Jauch soll ein Erfolg gewesen sein.

Besprochen werden die Frankfurter "Tosca", eine Inszenierung von Sartres "Les jeux sont faits" in Darmstadt, der von Richard Hamilton mit einem Bild der Scala bemalte Vorhang der Wiener Staatsoper, Ausstellungen von Simon Starlin und Björn Dahlem im Hamburger Kunstverein und das Saalfeldener Jazzfestival.

FR, 10.09.2001

Daniel Kothenschulte sah Venedig als ein politisches Filmfestival, das "die künstlerische Qualität aus den Augen verloren" hat. Neben der Kommentierung der Preise zieht er aber keine persönliche Bilanz.

Besprochen werden eine "Tosca" in Frankfurt, Wole Soyinkas Drama "King Baabu", das in Düsseldorf gastierte, und politische Bücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Stichwörter: Venedig, Soyinka, Wole