Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.09.2001.

FAZ, 11.09.2001

Nach dem mondänen Auftrieb der Eröffnung von Sonntagabend äußert sich Heinrich Wefing ziemlich ernüchtert über die eigentliche "Bespielung" des Jüdischen Museums in Berlin. Sie ist ihm zu bunt, zu laut, zu konzeptlos und zerstört auch den Eindruck von Daniel Libeskinds Architektur: "War der Rohbau mit seinen labyrinthischen Raumfolgen aus nacktem Beton noch so etwas wie eine Kirche, die Kathedrale der säkularen Holocaust-Religion, so bedeutet die Eröffnung der Ausstellung deren definitive Profanierung. Aus Libeskinds Kraftwerk zur Erzeugung von Emotionen ist eine glatte Neutralarchitektur geworden, die eher stört als verstört. Die "voids", die düsteren Leerstellen in Libeskinds Gedankengebäude, stehen nur mehr als schwarze Raumteiler im Weg herum, die nervöse Kalligraphie der Fensterschlitze in den Wänden, einst bezogen auf die fraktale Grundrissgeometrie und auf die Gestaltung von Decken und Böden, wirkt jetzt, teils verhängt, teils zugestellt, nur mehr zufällig, ja grotesk."

Christoph Albrecht berichtet von "Wissenschaftskrieg" und "Bibliothekskrise", über die in Darmstadt getagt wurde. Es geht um die exorbitanten Abogebühren für wissenschaftliche Zeitschriften, die für die Bibliotheken kaum mehr aufzubringen sind, und um die Forderung, das Wissen von vornherein zu digitalisieren. Es entstehen auch Organisationen, die den Wissenschaftlern helfen, eigene Zeitschriften zu gründen. Sie sollen "Wissenschaftlern helfen, die Effizienz ihrer Zeitschriften zu messen und die Leistungsfähigkeit der Verlage zu prüfen. Sie weisen den Weg zu alternativen Publikationsformen. Sie sagen ihnen, worauf sie achten müssen, wenn sie den Verleger wechseln oder sogar alternative Zeitschriften herausgeben und zum wirtschaftlichen Erfolg führen wollen. Damit hoffen die Bibliotheken, die Verlage zu einer vernünftigen Lizenzpolitik zurückzubringen."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube findet Otto Schilys Gesetzentwurf zur Einwanderung undurchschaubar. Joseph Hanimann porträtiert die Arbeit des Goethe-Instituts in Marokko. Verena Lueken schildert Eindrücke vom Filmfestival in Toronto. Dieter Bartetzko schreibt zum 600. Jubiläum des Meißener Doms. Eleonore Büning hat ein Schönberg-Konzert der Philharmoniker unter Abbado gehört, mit dem die Berliner Festwochen eröffnet wurden, und bespricht im gleichen Artikel Mahlers Siebte unter Barenboim mit dem Orchester Chicago, die zur Eröffnung des Jüdischen Museums gegeben wurde. Sebastian Domsch stellt die Lyrikline vor. Richard Kämmerlings resümiert eine Berliner Tagung über das Verhältnis von Literatur und Comics. Patrick Bahners gratuliert dem Historiker Hans-Ulrich Wehler zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite porträtiert Jochen Staadt den Hörspielregisseur Joachim Staritz. Auf der Bücher-und Themen-Seite schreibt Julika Griem über Affen in der Literatur. Auf der letzten Seite erzählt Nils Minkmar, wie "düstere amerikanische Fernsehserien das Erscheinungsbild von Politikern prägen". Hier findet sich auch ein kleines Porträt der Venedig-Siegerin Mira Nair.

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung des Kinderbuchzeichners Wolf Erlbruch in Hannover, einem Konzert mit Hans Werner Henzes achter Sinfonie beim Frankfurter "Auftakt", einem Konzert mit Henzes Klavierwerk ebenfalls in Frankfurt und Henzes "Requiem" ebendort.

NZZ, 11.09.2001

Claudia Schwartz schreibt zur Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin, neben der ihr "die Einweihung des Bundeskanzleramtes vor ein paar Monaten wie den Stehempfang nach dem Umbau einer Sparkasse" vorkam, und schildert erste Eindrücke über die Ausstellung: "Man wird sich dem Vorwurf der Oberflächlichkeit angesichts der äußerst knappen und manchmal sehr populär gehaltenen Darbietung in manchen Bereichen stellen müssen."

Weitere Artikel: Joachim Güntner bringt die frohe Kunde, dass sich der Bertelsmann-Konzern nun doch nicht aus dem Sponsoring für "Leipzig liest", das literarische Rahmenprogramm der Leipziger Buchmesse zurückziehen wird. Christoph Jahr gratuliert Hans-Ulrich Wehler zum Siebzigsten. Besprochen werden die Ausstellung über Otto den Großen im Kulturhistorischen Museum von Magdeburg, Konzerte mit Werken von Elliott Carter in Luzern (Carter war in diesem Jahr "Composer in Residence" des Festivals), das 15. niederländisch-flämische Theaterfestival, das 3. Internationale Literaturfestival in Basel und einige Bücher, darunter Michael Kleebergs Roman "Der König von Korsika". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

SZ, 11.09.2001

Nach den Festreden nun die Ausstellung: Lothar Müller ist durch das Jüdische Museum in Berlin spaziert und beschwichtigt die Zweifel: kein "Disneyland-Museum" sei es geworden, sondern ein "Museum als Lernort": "Die große Erzählung ist die der mühseligen Integration, die mit der Verfassung der Weimarer Republik zumindest formal fast schon erreicht schien, ehe dann der nationalsozialistische Terror alles Erreichte zerschlug." So weit, so gut. Müller vermisst allerdings eine Darstellung der "Spannungen innerhalb der jüdischen Kultur", "der Zerreißspannung, die beim Abschied von der Tradition freigesetzt wurde. Anhand Heinrich Heines und seines Nachlebens hätte diese Spannung gezeigt werden können. Der Seitenblick auf die Reformjuden, die im Habit des protestantischen Pfarrers den Gottesdienst abhielten, oder die Karikatur der allmählichen Verformung der Menora zum christlichen Weihnachtsbaum können für dieses Vorbeigehen an den Abgründen nicht entschädigen."

Udo Zimmermann, der ab dieser Saison als Intendant für die Deutsche Oper Berlin verantwortlich ist, erläutert im kurzen Interview seine Devise "Tradition und Erneuerung". Ob das bis zur Avantgarde gehe, fragt Wolfgang Schreiber. "Ich sage lieber: Avanciertheit. Das ist ein Anspruch an die Qualität des Szenischen wie des Musikalischen ? eine Einheit. Oper ist dann gut, wenn man sieht, was man hört, und wenn man hört, was man sieht. Ich will nicht Parallelen, Tautologisches, sondern den Kontrapunkt, die Spannungen."

Weitere Artikel: Kristina Maidt-Zinke porträtiert den Schriftsteller Wilhelm Genazino. Franziska Augstein gratuliert dem Historiker Hans-Ulrich Wehler zum Siebzigsten. Jürgen Berger meldet, dass British Council und Goethe Institut künftig eng zusammen arbeiten wollen. Und aug. berichtet, dass das Bundesarchiv in Zusammenarbeit mit der Münchner "Forschungsstelle Deutsch-Jüdische Zeitgeschichte" die Ergebnisse der deutschen Volkszählung von 1939 erfasst, digitalisiert und damit der Forschung zugänglich gemacht hat.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Landschaftsbildern aus den Sammlungen der Thyssen- Bornemisza in der Bundeskunsthalle in Bonn, Techno aus Tijuana von "Nortec Collective", "my favourites", eine Ausstellung mit Bildern aus der Zeitschrift Mare im Kunsthaus Kaufbeuren, eine Lesung mit Jakob Arjouni, Mahlers Siebte in Berlin mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Daniel Barenboim, Solveig Klaßens Dokumentarfilm "Jenseits von Tibet", und Hans Jakob Meier stellt eine "Kampfschrift" von Philippe Tretiac vor, "die mit Schärfe und Witz über die Gründe einer sprichwörtlichen Hassliebe zwischen den Parisern und den Pariser Architekten zu Felde zieht": "Faut-il pendre les architectes?"

FR, 11.09.2001

Der kosovarische Schriftsteller Beqë Cufaj ist nach Den Haag gefahren und beschreibt die Atmosphäre eines Prozesstags gegen Milosevic. Vor dem Auftritt des Angeklagten "fühlen sich die serbischen Kollegen ganz zu Hause, sie unterhalten sich laut, lachen laut und demonstrieren überhaupt lautstark Unbekümmertheit. Die Journalisten aus den übrigen Ländern sind eher schweigsam... Nervös aber sind wir alle. Die jugoslawischen Kollegen haben am meisten Grund dazu: gleich wird hier einer vor ihnen sitzen, den sie über ein Jahrzehnt hinweg mit Hymnen überschüttet haben, bis sie ihn dann für unerwünscht erklärten und aus dem Land beförderten."

Ein (zumindest im Internet) namenloser Interviewer unterhält sich mit dem Verleger Carlo Feltrinelli, der bekanntlich ein Buch über seinen Vater Giangiacomo geschrieben hat ? den Millionenerben und Gründer des Feltrinelli-Verlags, der 1972 als Terrorist ums Leben kam. Auf die Frage, warum er das Buch geschrieben hat, antwortet Feltrinelli: "Ich wollte ein bisschen Ordnung in die ganze Geschichte bringen, die sehr kompliziert ist. Außerdem glaube ich, dass es eine tolle Geschichte ist. Ich fand es immer ein bisschen komisch, dass mir weder als Sohn noch als Verleger angeboten wurde, ein Buch über meinen Vater zu schreiben. Ich habe selbst auch einige Leute gefragt . Irgendwann wurde ich dann etwas ärgerlich, dass sich niemand getraut hat und ich habe mir gesagt , dass ich es dann eben selbst probiere."

Weitere Artikel: Harry Nutt schreibt einen kleinen Essay über den neuen Kapitalismus. Johannes Wendland stellt den portugiesischen Architekten Eduardo Souto de Moura vor, dem bei Dresden eine Werkschau gewidmet wird. Ulrich Speck gratuliert dem Historiker Hans-Ulrich Wehler zum Siebzigsten.

Besprochen werden Emir Kusturicas "Super 8 Stories", eine CD der Rapperin Mary J Blige (mehr hier), das Frankfurter Konzert mit Hans Werner Henzes achter Sinfonie, das 1. Berliner Comicfestival (mehr hier) und Sartres "Das Spiel ist aus" am Staatstheater Darmstadt.
Hinzuweisen ist auch auf Martin Hartmanns Artikel auf der "Humanwissenschaftsseite" über den Historiker Michael Walzer und sein Projekt einer politischen Geschichte des Judentums. Wer es mag, liest auch Niels Werbers Artikel über die "verdeckten normativen Implikationen der Systemsoziologie".

TAZ, 11.09.2001

In der taz kommt die Ausstellung des Jüdischen Museums wie in den anderen Zeitungen nicht so gut weg. "Auch die Architektur erweist sich schwieriger als erhofft", schreibt Philipp Gessler. "Die verwinkelten Gänge des Baus verstärken eine Orientierungslosigkeit, die sich relativ schnell beim Besucher einstellt, da die Ausstellung es nicht vermag, ihre Grundlinien deutlich zu machen: Die Exponate und Themen hüpfen durch die Jahrhunderte: Gerade hatte man noch die Erfurter Bibel aus dem 14. Jahrhundert, groß wie ein Tisch, gesehen - zehn Minuten später geht es wieder zurück zu den ersten Kreuzzügen im 11. Jahrhundert."

Gessler hat auch Julius Schoeps vom Moses-Mendelssohn-Zentrum der Uni Potsdam interviewt. Sein erster Eindruck: "Ich befürchte.., dass die Besucher etwas verwirrt sein werden, wenn sie durch die Ausstellung laufen. Denn eine Chronologie ist nicht vorhanden. Bei manchen Objekten weiß man auch gar nicht, warum sie ausgewählt worden sind. Bei anderen Objekten erschließt sich das sofort. An dieser Ausstellung muss noch gearbeitet werden. Und dann kann durchaus eine passable Dauerausstellung daraus werden."

Im Kulturteil begibt sich Sascha Josuweit auf die Spur Lenins in Capri, wo er einmal Ferien verbrachte. " Die Capreser aber gedachten ihres Revolutionärs in residence 1970 mit einer Arbeit des italienischen Bildhauers Giacomo Manzu. Dass das schlichte Denkmal ausgerechnet im ehemaligen Garten der Villa Krupp aufgestellt wurde, macht für den Betrachter spätestens dann Sinn, wenn dahinter die Sonne untergeht. Denn die ist bei Capri noch immer rot."

Francesco Berardi, offensichtlich selbst bewegt, theoretisiert über die Globalisierung und ihre Gegner, und es zeigt sich, dass die Antiglobalisierungsbewegung nun offensichtlich auch ihren eigenen Jargon entwickelt: "Was Marx Überproduktionskrise nannte, manifestiert sich heute als Gefälle zwischen Cyberspace und Cyber-Zeit, zwischen unbegrenzter semiotischer Produktion und einem schnell erschöpften Aufmerksamkeits-Markt. Die Krise der New Economy wurzelt in diesem Widerspruch, und sie findet keine Lösung innerhalb der Grenzen der neoliberalen Gesellschaft."

Ferner lesen wir einen kleinen Auszug aus einem unveröffentlichten Stück von Mark Ravenhill: "Josh: Wie wär's mit ein bisschen Analsex, Darling?
Will: Oh ja. Das wäre super. Ich schieb nur rasch das Souffle in den Ofen, du wirfst was übers Sofa, und dann legen wir los, ja?
Josh: Oh ja, Darling. Super."

Besprochen werden Jayne Anne Phillips' Roman "MutterKind", einige Bücher über Politainment und Mediokratie. Und Daniel Bax singt ein Loblied aufs Fensterputzen. (Der Mann ist engagiert!)