Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2001. Nach den Anschlägen diskutieren deutsche Intellektuelle über die Folgen und Ursachen: War der Anschlag etwa ein "Tritt in die Eier, der auch auf den Kopf zielte", wie Klaus Theweleit in der taz schreibt?

TAZ, 19.09.2001

Im taz-Interview verrät Klaus Theweleit, was eigentlich genau getroffen wurde in New York: "Es war nicht nur der Kopf, es waren die Twins. 'Twin Peaks' von David Lynch, eine der erfolgreichsten Fernsehserien des letzten Jahrzehnts, bezog sich auf zwei Berge, um die die amerikanische Phantasie kreist. Die Twin Peaks, das waren die Brüste der vergewaltigten Tochter, die negative Phantasie von der Bedrohung und des Missbrauchs. Das positive Gegenstück dazu sind die Twin Towers, der doppelte Schwanz, der sich als mächtiges Symbol erhebt über die ganzen Widerlichkeiten und Gewalttätigkeiten der anderen, der negativ besetzten Twin-Peaks-Ebene ... Der Anschlag auf diesen Doppelphallus war, banal gesagt, ein Tritt in die Eier, der auch auf den Kopf zielte."

Außerdem: Thomas Girst wirft einen Blick auf die Kunst nach dem Knall und überlegt, ob das explodierende WTC tatsächlich zur neuen Pathosformel für Schmerz, zum neuen Laokoon taugt, wie die New York Times schrieb (es scheint so, leider). Sabine Leucht berichtet vom 5. Philosophicum in Lech am Arlberg, wo sich Eros und Ares trafen. Und "Wbg" weiß, warum Karlheinz Stockhausen der Verführung Luzifers erlag (Stockhausen ist schon lange, lange tot).

Dafür lebt Tom.

NZZ, 19.09.2001

Thomas Zaunschirm erinnert an Joseph Beuys' Auseinandersetzung mit den beiden Türmen des World Trade Center im Jahre 1974. Er errichtete Türme aus Fett, die an die Stelle des "kalten Kapitals" das "Kapital der Kreativität sozialer Wärme" setzen sollten. "Deshalb ergänzte er sein Unternehmen durch eine Namenwahl. Vertikal schrieb er als Widmung die Namen der arabischen Zwillingsbrüder Kosmas und Damian auf die beiden Türme. In amerikanischer Schreibweise wurde aus Kosmas das die Bedeutung der Globalisierung einschliessende Cosmos. Eine besondere Pointe lag darin, dass die beiden antiken Heiligen die 'Geldlosen' genannt wurden, weil sie für ihre Taten keinen Lohn verlangten. Da sie der Legende nach einem kranken Weißen das Bein eines Mohren transplantierten, wurden die Märtyrer, deren Fest im September gefeiert wird, zu Patronen der Ärzte und Apotheker."

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel sieht die beiden Türme des WTC als kulturelles Symbol, dessen Wichtigkeit man erst im Moment ihrer Zerstörung begreift. Helmut Frielinghaus setzt sein New Yorker Tagebuch fort. Joachim Güntner meldet, dass Christoph Buchwald, der ehemalige Verlgsleiter bei Suhrkamp nun in den Niederlanden einen eigenen Verlag gegründet hat, den unabhängigen Verlag Uitgeverij Cossee, der unter anderem Coetzee herausbringt. Aldo Keel berichtet über ein mysteriöses Tagebuch der Verlobten von Sören Kierkegaards, Regine Olsen, das in Dänemark aufgetaucht ist ? "entweder eine Sensation oder eine Fälschung". Und Gerda Wurzenberger stellt eine interessante These zur neueren Kinderliteratur auf: "Die Zeit der starken Mädchen scheint vorbei. Zumindest im Kinderbuch. Wie eine Sichtung der Neuerscheinungen zeigt, erobern sich freche, nette, mutige, scheue, witzige und originelle Buben ihre Vormachtstellung zurück"

Besprechungen widmen sich dem Nibelungenmuseum in Worms und einigen Büchern, darunter Jose Pablo Feinmanns Roman "Die Verbrechen des van Gogh" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 19.09.2001

Peter Michalzik analysiert den medialen Katastrophen-Hype und erklärt, warum "wir" augenblicklich in "Zeiten der Kriegserwartung" leben: "Durch die Bilder sind wir zu Rächern geworden ... Jedes Bild, zumal aber das wahre, verlangt nach seiner Bestätigung, ist ein Gesetz des Krieges in Zeiten der Bilder. Und so haben es die Attentäter erreicht, uns in einen Dialog, und sei es der der Waffen, zu verwickeln. Jetzt reden wir nicht mehr nur mit der Welt, aus der sie wahrscheinlich ihre Herkunft ableiten, jetzt meinen wir es wirklich ernst." Mag sein, aber wer ist eigentlich "wir"?

Jürgen Habermas meldet sich jetzt wieder öfter zu Wort. Scheint es. In Wirklichkeit drucken die Feuilletons nach und nach Auszüge aus Habermas' Ende dieser Woche erscheinenden Buch "Die Zukunft der menschlichen Natur". Im Vorabdruck in der FR diskutiert der Sozialforscher die Folgen genmanipulierender Eingriffe für familiäre und gesellschaftliche Beziehungen und deckt auf, warum die Abhängigkeit von einem absichtlich festgelegten genetischen Programm für das moralische Selbstverständnis der programmierten Person relevant ist: "Ihr ist es prinzipiell versagt, mit ihrem Programmierer die Rollen zu tauschen. Das Produkt kann, um es zuzuspitzen, für seinen Designer nicht seinerseits ein Design entwerfen".

Andere Artikel: Helmut Dubiel über New York auf der Suche nach Balance. Eva Schweitzer schreibt über mögliche Bauvorhaben auf "ground zero". Martin Altmeyer sieht hinter der von Politik und Militär (und den Feuilletons) betriebenen Dämonisierung des unsichtbaren Feindes die Wiederbelebung eines manichäischen Weltbildes im Gange. Rüdiger Suchsland war auf dem Philosophicum in Lech am Arlberg. Und dann war da noch der Augenblick, als Karlheinz Stockhausen den Verstand verlor (der Terror in New York - "das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat").

In der Kritik: "Die Heldin von Potsdam" von Theresia Walser am Berliner Maxim Gorki-Theater sowie Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" in Paris und Stuttgart.

FAZ, 19.09.2001

Noch einmal bietet das Feuilleton eine Menge Stoff zum Nachdenken über die Anschläge.

Eine ganze Seite nimmt das Tagebuch ein, das Durs Grünbein seit dem 11. September geführt hat. Am 15. schreibt er: "Unter den Trümmern des World Trade Center liegen annähernd 5000 Menschen begraben. Nach der numerischen Logik von Großmächten werden daraus demnächst mindestens 50 000 Kriegstote auf der anderen Seite. Noch leben sie, noch winken sie mit den weißen Fahnen der ohnmächtigen Zivilisten, genau wie die Büroangestellten im lodernden Käfig der Twin Towers, die Investmentbanker, Agenten, Computerspezialisten und ihre Briefträger und Sekretärinnen. Doch schon sind sie alle dem Tode geweiht."

Mario Vargas Llosa fordert von den Amerikanern, dass sie in den Ländern der "Dritten Welt" nun ausschließlich demokratische Kräfte fördern: "In all diesen Drittwelt-Tyranneien, die der beste Nährboden für den Terrorismus sind, gibt es Parteien, Bewegungen und manchmal kampfbereite Organisationen, die unter oftmals schwierigsten Bedingungen dem Horror Widerstand leisten und eine politische Alternative für das Land darstellen. Diesem demokratischen Widerstand müssten die freien Länder militante Unterstützung in Form von militärischer Ausrüstung, diplomatischen Aktionen und strategischer Beratung zukommen lassen: eine konzertierte internationale Kampagne, um die tausendköpfige Hydra zu vernichten, die heute der Terrorismus ist."

Henning Ritter dagegen sieht die Substanz von Demokratie in den kommenden Auseinandersetzungen verschwinden: "Seit dem 11. September ist der Begriff der Menschenrechte politisch unbrauchbar geworden. Der Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon hat die Politik der globalen Durchsetzung der Menschenrechte ins Reich der Utopien versetzt. Nicht dass man die Überzeugungen aufgegeben hätte, die zu dieser Politik inspirierten, doch eine solche Politik setzt die weltweite Überlegenheit der Vereinigten Staaten und des Westens voraus, die in diesem Augenblick durch eine zwingende Symbolik in Frage gestellt worden war." Nun ist allerdings die Frage, ob der Westen (und gerade die USA) je eine Menschenrechtspolitik geführt haben!

Interessant auch drei Artikel über internationale Reaktionen. Verena Lueken verweist auf den neuen New Yorker (der seit gestern endlich auch im Internet steht), wo neben Susan Sontag etwa auch John Updike schreibt. Lueken hat außerdem mit Richard Sennett, Simon Schama, Cynthia Ozick gesprochen und mit Steve Wasserman, dem Chef der Los Angeles Times Books Review, der das amerikanische Fernsehen kritisiert: "Niemand sagt uns, dass wir Verantwortung tragen; wir wissen nicht einmal, was das heißt."

Zhou Derong schildert den Widerspruch zwischen der offiziellen chinesischen Reaktion der Solidarität mit den USA und chinesischen Internetforen, in dem viele Surfer unverhohlen ihre Freude bekennen, am deutlichsten übrigens in einem Forum, das chinesische Studenten in den USA betreiben: "Man genießt die westliche Freiheit, indem man sie verhöhnt", schreibt Zhou. Und auch Kerstin Holm sieht verhohlene Freude in der Reaktion von Russlands Medien.

Weitere Artikel zu den Anschlägen: Hanno Rauterberg schreibt über den Attentäter Ziad Samir Jarrah, der in Hamburg studierte. Jordan Mejias setzt seine Reise mit dem Mietwagen nach New York fort. Auf der Medienseite erzählt Monika Osberghaus, wie die Medien das Attentat den Kindern nahe bringen. Auf der letzten Seite denkt Gero von Randow über die Verwundbarkeit technischer Großsysteme durch den Terror nach. In einer kleinen Meldung erfahren wir, dass in Paris in diesen Tagen eine lang vorbereitete Biografie über bin Laden herauskommt. Und Henning Ritter porträtiert Samuel Huntington, den Theoretiker des "Clash of Civilisation".
Im Kommentar wird auch noch einmal Karlheinz Stockhausens unglaubliche Interviewäußerung über die Anschläge kolportiert, die er als "das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos" bezeichnete. "Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben, stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. Da sind also Leute, die sind so konzentriert auf eine Aufführung, und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt, in einem Moment. Das könnte ich nicht."

Kultur: Dietmar Polaczek teilt neue Erkenntnisse über das Grabmal Julius' II von Michelangelo mit. Eleonore Büning freut sich, dass die Verträge von Daniel Barenboim und Simon Rattle in Berlin nun endlich unterzeichnet sind. Gerhard R. Koch hat in der Parier Opera Garnier Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" gesehen und gehört. Gerd Roellecke setzt seine Serie über historische Urteile des Bundesverfassungsgerichts mit dem Kruzifix-Urteil fort. Dieter Bartetzko gratuliert dem Schlagersänger Peter Horton zum Sechzigsten. Michael Althen schreibt zum Tod des Filmproduzenten Samuel Z. Arkoff. Verena Lueken zeichnet Literaturdebatten in amerikanischen Zeitschriften nach.

Besprochen wird die Uraufführung von Armin Petras' "Fight City" am Hamburger Thalia Theater.

SZ, 19.09.2001

In der SZ erklärt der russische Journalist Arkadij Waksberg von der Literaturnaja Gaseta, warum Russland Amerikas Vergeltung fürchtet: "Die Drohung der Taliban, in 'Nachbarstaaten' einzufallen, die die USA unterstützen, betrifft nicht nur Pakistan, sondern auch Tadschikistan, wo ungefähr 10000 russische Soldaten stationiert sind. Außerdem drohen eine Million afghanischer Flüchtlinge, die sich vor den amerikanischen Bomben in Sicherheit bringen, in die GUS-Territorien zu strömen ? nach Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan. Dann bekommt Russland sein zweites Tschetschenien, nur noch schlimmer." Obgleich er zudem auf die zu erwartenden Proteste einer noch immer unter dem Afghanistan-Trauma leidenden russischen Bevölkerung hinweist, hat Waksberg auch Hoffnung: "Vielleicht überwindet auch die russische Führung die Stereotypen, die sie selbst am meisten diskreditiert, und findet eine fruchtbarere Haltung zum Tschetschenien-Problem."

Im SZ-Gespräch teilt uns Woody Allen seine Gedanken zum 11. September mit: "Das Merkwürdige ist, dass wir in New York so überrascht auf diese Katastrophe reagierten ? aber mit einer Überraschung darüber, dass wir überrascht waren. Man redete doch seit Jahren darüber. Wir alle, die wir in New York leben, haben davon gesprochen, von dieser Möglichkeit, dieser Gewissheit, dass es terroristische Akte in New York geben könnte. Wir haben es alle gewusst, haben auch mal darüber Witze gemacht. Und nun, da es geschehen ist, sind wir so verblüfft. Jeder wusste, dass es irgendwie unausweichlich geschehen musste."

Weitere Artikel: Ian Buruma sagt, was die islamistischen Extremisten mit den Nazis gemein haben ("Sie repräsentieren die muslimische Zivilisation und deren Werte genauso wenig, wie die Nazis die westliche Zivilisation verteidigt haben. Und ihre Dämonen sind ebenso rein symbolischer Natur wie die der Nazis"). Wolfgang Sofsky porträtiert den Selbstmordattentäter, Henning Klüver prüft italienische Reaktionen auf den Terroranschlag in den USA und Jörg Häntzschel weiß, warum es in NewYork eher neue Twin Towers geben wird als ein Mahnmal.

Ferner besucht Volker Breidecker eine Loccumer Tagung über Dostojewski und die Prophetie, Christine Dössel hat sich beim China Fest in Berlin umgesehen, Helmut Schödel sinnt nach über Humor im Angesicht der Katastrophe. Und Karlheinz Stockhausen entgleist.

Besprochen werden: ein Konzert mit dem Sänger Tom Liwa im Hamburger Schlachthof, die Artur-Schnabel-Retrospektive in der Akademie der Künste in Berlin, Helmut Lachenmanns Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" in Paris und Stuttgart, Theresia Walsers "Die Heldin von Potsdam" und das Projekt "Neue Mitte" von Schwarz/Urweider am Berliner Maxim Gorki Theater. Schließlich Hellmuth Karaseks neuer Roman "Betrug" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).