Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2001. Die überregionalen Zeitungen haben frühen Redaktionsschluss, daher ist in den Feuilletons nichts über die Vergeltungsschläge zu finden. Die Themenspannbreite reicht von Hochhausarchitektur (FR) über Andy Warhol (SZ) bis zu der Frage, ob Hitler schwul war (FAZ).

TAZ, 08.10.2001

Katrin Bettina Müller berichtet über das nun nur in Schrumpfform zustande kommende "Centrum für Photographie" in Berlin. Der Rat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz will nur noch eine "Kleinstlösung". "Wenn die Stiftung in zwei Jahren ein neues Finanzierungsabkommen mit ihren Trägern auszuhandeln beginnt, will sie sich noch einmal für das DCP stark machen. Bis dahin bleibt es ein kleines Beiboot, das bei zukünftigen Ausstellungen angewiesen ist auf das Andocken an bestehenden Museumstankern."

Weiteres: Jürgen Berger bespricht eine kritische Neuedition von Kafkas "Tagebüchern" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr), Stefan Koldehoff weist auf einen in Deutschland erst 50 Jahre nach Entstehen veröffentlichten "Pippi-Langstrumpf"-Band hin. Und Wolfgang Müller erzählt, wie die Grünen vor zwanzig Jahren als zuverlässige Kulturbanausen ein Wahlplakat ablehnten, das Andy Warhol auf Anregung Joseph Beuys' für sie gestaltet hatte.

Schließlich Tom.

NZZ, 08.10.2001

Wie antiamerikanisch sind die Deutschen? Joachim Güntner setzt sich mit entsprechenden Meinungsäußerungen (zum Beispiel Reinhard Mohrs Spiegel-Artikel im Tagesspiegel) auseinander, hat aber seine Zweifel: "Es muss etwas tief Befriedigendes haben, deutsche Seelenlagen auf die immergleichen Reaktionsmuster zurückzuführen. Ein bisschen seltsam aber ist es schon, wie sich die Zeiten ändern, ohne dass es die auf Antiamerikanismus-Verdächtigungen geeichten Diagnostiker stört. Die Achtundsechziger zum Beispiel mussten noch 'USA - SA - SS' grölen, um dafür des Antiamerikanismus geziehen zu werden. Dieser Tage reicht es für den Vorwurf bereits, wenn man Präsident Bush mit der Bitte in den Ohren liegt, nicht blinde Vergeltung für die Ermordeten des 11. Septembers zu üben." Glückliche Schweiz, die sich solche Fragen gar nicht zu stellen braucht!

Thomas Burkhalter stellt die ziemlich bunte, eher westlich orientierte Musikszene im Libanon vor: "Glaubt man den Musikern, bleiben Meinungs- und Redefreiheit und die Abschaffung der latenten Zensur eine Utopie - auch wenn die Regierung dies anders sieht. 'Wir erhalten kaum finanzielle Unterstützung und müssen aufpassen, keine politischen, sexuellen oder religiösen Tabus zu brechen', erzählt ein Sänger: 'Viele üben infolgedessen Selbstzensur; sie wissen um die Risiken, denen sie sich aussetzen, wenn sie heikle Themen aufgreifen.'"

Weitere Artikel: Gabriele Killert und Richard Schroetter porträtieren den "Buchkünstler, Poeten und Weltbürger der Phantasie" Horst Hussel. Und Matthias Vogel bespricht eine Picasso-Retrospektive in Bern.

FR, 08.10.2001

Der Hochhausarchitekt Christoph Ingenhoven sieht im Gespräch mit Christian Thomas durch die Anschläge nicht sein Metier an sich in Frage gestellt: "Gegen ein solches Attentat ist kein Gebäude der Welt geschützt. Die Terroranschläge haben gezeigt, dass man sich nicht ohne weiteres schützen kann, und die Sicherheit, die notwendig ist, muss anderswo als am Gebäude erzeugt werden."

Vor drei Jahren wurde in Berlin ein großartiges Deutsches Centrum für Photographie (warum eigentlich nicht Zentrum für Fotografie?) geplant. Nun ist davon nur noch eine "Kleinstlösung" übriggeblieben, berichtet Martina Meister: "Statt eines zentralen fotohistorischen und fotoästhetischen Ortes wird in der Parey Villa nahe des Kulturforums eine Art Stützpunkt eingerichtet, in dem zwei Kuratoren arbeiten werden, eine Bibliothek ihren Platz finden soll und Fotos zu konsultieren sein werden, die freilich weiterhin über Berlin verstreut bleiben werden und bei dieser personalen Ausstattung vermutlich nicht einmal katalogisiert werden können." Vielleicht sollte man es in "Centrum für kulturpolitische Minimalintervention" umbenennen.

Besprochen werden eine Ausstellung über Jean Dubuffet im Pariser Centre Pompidou, Mozarts "Idomeneo" in Mannheim, der Germanistentag in Erlangen und Moritz von Uslars Stück "Freunde II" in Hannover.

FAZ, 08.10.2001

Patrick Bahners hat Lothar Machtans Buch über "Hitlers Geheimnis" gelesen, das morgen im Alexander Fest Verlag erscheint, und fragt sich, wie belangvoll oder -los die These ist, dass Hitler in Wahrheit schwul gewesen sei: "Hitlers Lustknaben wird auch Machtan nicht namhaft machen können. Aber auch die Annahme, Hitler habe eine homosexuelle Anlage unterdrückt, würde unser Bild von der Menschenmaschine seiner Hofgesellschaft verändern, wie John Röhls Biografie Wilhelms II. durch die Prüfung der analogen, nicht minder spekulativen Hypothese gezeigt hat. Die Meinung, niemanden würde es kümmern, sollte Machtan recht haben, dürfte jedenfalls eine Sekurität verraten, die von den bewegenden Kräften der Geschichte keinen Schimmer hat." (Rainer Blasius bespricht das Buch auf der politischen Buchseite der FAZ.)

Joseph Hanimann hat neue französische Filme über das Landleben gesehen und stößt auf die spezifisch französische (besonders gern in Paris gehegte) Vermutung, "dass im harten Wechsel der Generationen doch etwas hängen bleiben muss, und sei es die Erinnerung an eine tiefe, gemeinsame Bauernnatur."

Weitere Artikel aus den unendlichen Weiten des FAZ-Feuilletons: Hubert Spiegel resümiert Reaktionen von Schriftstellern auf die Anschläge vom 11. September. Heinrich Wefing hat dem ehemaligen Berliner Kultursenator Christoph Stölzl beim Wahlkampf zugesehen ("In seinem 'Stölzl-Mobil', einem klitzekleinen weißen Mercedes samt Vierfarb-Werbeflächen, saust er durch den Bezirk und verspricht eine Politik 'mit Herz und Verstand für Berlin'.") Paul Ingendaay erzählt die Geschichte der Buchhandlung Lagun in San Sebastian, die dem Terror der ETA trotzt. Peter Kemper interviewt auf einer ganzen Seite Laurie Anderson zu ihrer neuen CD. Dietmar Polaczek meldet eine Wachablösung in der römischen Biblioteca Hertziana. Ilona Lehnart berichtet über die traurige Gründung eines Rumpf-"Centrums für Photographie". Alexandra Kemmerer resümiert eine Juristentagung über den Stand der EU-Bürgerschaft. Auf der Medienseite erfahren wir, wer die deutschen Fernsehpreise verdientermaßen gewonnen hat. Auf der letzten Seite porträtiert Olaf Breidbach Ernst Haeckel als den "ersten erfolgreichen Wissenschaftspriester". Jörn Thiede begrüßt das deutsche Forschungssschiff Polarstern, das nach einer Arktis-Expedition nach Bremerhaven zurückkehrte. Und Verena Lueken berichtet über die Entstehung zweier neuer Ableger des Guggenheim-Museums in Las Vegas.

Besprochen werden Goethes "Clavigo" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, das erste Stück von Händl Klaus (so heißt der Autor) beim Steirischen Herbst, Moritz von Uslars "Freunde II" in Hannover, eine Ausstellung des Industriefotografen Max Steckel in Ratingen, die 15. Dresdner Tage für zeitgenössische Musik, eine Ausstellung des amerikanischen Malers Henry Darger in den Berliner Kunstwerken und einige Sachbücher, darunter Ulrich Wickerts philosophisches Grundsatzwerk "Zeit zu handeln" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 08.10.2001

Die große Warhol-Retrospektive in Berlin hat begonnen. Der Kurator Heiner Bastian, so berichtet Holger Liebs, will ihn als großen Maler zeigen, aber Liebs ist ein bisschen skeptisch: "Die fotografisch dokumentierte Szene der 'Factory', Warhols Bildfabrik und Auffanglager für Amphetamin-Bohemiens, Transvestiten und höhere Töchter wie Edie Sedgwick, die sich dort als 'Superstars' fühlen durften, fehlt ebenso wie Hinweise aus die Filmproduktion, die begleitend im Kino Arsenal gezeigt wird. Auch der Musikproduzent Warhol, der mit 'Velvet Underground' einer der einflussreichsten Bands ein Zuhause gab, kommt nicht vor. Auslöschung aller Kontexte heißt das Programm. Vasari feiert fröhliche Urstände. Warhol, der erste wahrhaft multimediale Künstler, der mehrmals biografische Brüche vollzog, wird zum Genie alter Schule."

Gustav Seibt (den die Zeit hat gehen lassen!) resümiert eine Mediävistentagung in Konstanz und stellt fest: "Die deutsche Mediävistik baut die Ausstellungen auf, aber die Bücher, die die Menschen hinterher lesen, kommen aus anderen Ländern: aus Italien, Frankreich, selbst Amerika."

Richard Chaim Schneider berichtet, dass sich die Israelis durch die neue amerikanische Politik einer Antiterrorallianz, die Arafat, Syrien und den Iran, nicht aber Israel einschließt, enttäuscht fühlen. "Diese Ängste stehen nun, am Vorabend eines allseits erwarteten Angriffs auf Osama Bin Laden und seine Al-Quaida-Organisation, im Vordergrund israelischer Überlegungen. Und die zusätzlich aus Europa herüberschallenden Stimmen, der jüdische Staat sei mitschuld am islamischen Terrorismus, tragen nicht gerade zu einer Beruhigung der Gemüter bei." Der Vorabend ist nun vorbei - erstaunlich ist übrigens ein weiterer Aspekt, den Schneider anspricht: Stimmt es, dass sich die USA weigern, Hamas, Hizbollah und Dschihad als Terrorgruppen einzustufen, um den Iran und Syrien in ihrer Allianz zu halten?

Weitere Artikel: Daghild Bartels fragt sich angesichts eines anhaltenden Trends zu Privatmuseen, ob der Blick auf die Kunst endgültig privatisiert wird. Arno Orzessek schreibt zum 100. Geburtstag der Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik.

Besprechungen widmen sich der Uraufführung von Moritz von Uslars Stück "Freunde II" in Hannover, Goethes "Clavigo" am Hamburger Schauspielhaus, Pendereckis Milton-Oper "Paradise lost" in Münster, den Filmen "Maldoror" und "Ressources humaines", der neuen CD "Fever" von Kylie Minogue, Guo Wenjings Politoper "Ye Yan - Die Nacht des Banketts" beim Pariser Festival d'automne.