10.10.2001. Die Buchmesse hat ihre Pforten fürs Fachpublikum geöffnet - das spiegelt sich auch in den Feuilletons wieder: Die taz macht sich Sorgen um den Schwerpunkt Griechenland, die NZZ lobt die neue Übersichtlichkeit auf dem Gelände und die SZ beschreibt die Messe in Zeiten des Krieges.
NZZ, 10.10.2001
Franz Haas
setzt sich mit der
italienischen Debatte um den 11. September und vor allem mit einem äußerst umstrittenen
Artikel Oriana Fallacis im
Corriere della Sera auseinander. "Der Großteil der überlangen
Schmähschrift, die demnächst als Buch bei Rizzoli erscheinen wird, ist eine
vulgäre Attacke gegen die in Italien lebenden Ausländer, vor allem die aus islamischen Ländern. Im Stil unterscheidet sie sich kaum vom primitiven
Ausländer-raus-Gegröle der Rechtsradikalen." Auf der Website des
Corriere gibt es ein riesiges
Forum zum Thema.
Und Maja Turowsjkaja
schildert Reaktion aus der Sowjet..., äh, aus
Russland: "Vom Mitgefühl für die '
einfachen Menschen in Amerika' (übrigens ein sowjetisches Klischee) sprechen fast alle. Dennoch neigen viele der Ansicht zu, es geschehe Amerika recht, bzw. es sei
selber schuld. Die emotionalen Reflexe aus dem
Kalten Krieg sind noch weitgehend intakt; zumal man mit einem reichen Nachbarn ja nie recht mitleidet ('Dem Nachbarn ist die
Kuh krepiert; eine Kleinigkeit, ja, und trotzdem angenehm')."
Joachim Güntner
schickt erste Eindrücke von der
Buchmesse: "Kompakter ist die Frankfurter Buchmesse durch den
Umbau geworden, schöner nicht unbedingt. Aber was zählt architektonische Ästhetik - die Geschmäcker sind ohnehin verschieden - gegenüber dem unbestreitbaren Plus an
Fußfreundlichkeit. Die alte Halle 3 hat man abgebrochen und durch einen
großen Glasbau ersetzt. Zusammen mit dem neu hinzugekommenen Forum gruppiert sich jetzt fast alles um den Innenhof der Messe, was die Wege verkürzt." Klingt doch ganz angenehm!
Weiteres: Samuel Herzog
schreibt zum 100. Geburtstag
Alberto Giacomettis. Marc D. Herzka
stellt das
Bauhaus-Zentrum in
Tel Aviv vor. Besprechungen widmen sich einem Auftritt des japanischen
Theaterkollektivs Ishinha in Hamburg, einer
Ausstellung über
Daniele Marques in der
Architekturgalerie Luzern, dem
17. Deutschen Romanistentag in München,
Tschaikowskys "Eugen Onegin" in Graz und
Gustav Seibts Buch "
Rom oder Tod - Der Kampf um die italienische Hauptstadt" (siehe unsere
Bücherschau ab 14 Uhr).
SZ, 10.10.2001
Wie weit geht es bei der gegenwärtigen
militärischen Zuspitzung tatsächlich um
Gefahrenabwehr? fragt Gerd Krumeich und kommt zu dem Schluss, dass nach dem besonnenen Auftakt im Krisenmanagement der Amerikaner dann doch wieder die "faule Regierungsweisheit" obsiegt hat, dass
Worten Taten folgen müssten: "Eine kluge und realistische Selbstverteidigungs-Strategie hätte darin bestanden, das Entsetzen über die Anschläge des 11. September wachzuhalten und gegebenenfalls mit
ökonomischen und politischen Druck sanft nachzuhelfen. Die Torheit alter Machtpolitik hat stattdessen dazu geführt, dass sich die
Weltfront gegen den Terrorismus, die auf diese Weise (und in der Tat mit viel Geduld) hätte gebildet und stabilisiert werden müssen, schon jetzt wieder
aufzulösen beginnt."
Mögliche Gründe für die
kurzlebige Weltfront zeigt der Völkerrechtler Michael Bothe auf, der die im Sinne des humanitären Völkerrechts normativen
Grenzen der Angriffe gegen die Taliban
herausarbeitet. Zu beachten wäre demnach, "dass
nicht jeder Vorteil, der aus der Zerstörung entstehen könnte, diese
Zerstörung rechtfertigt, sondern nur der 'eindeutige militärische Vorteil'. Die zweite wesentliche Grundregel ist das Verbot eines unverhältnismäßigen, eines 'übermäßigen'
zivilen Kollateralschadens."
Andere
Gedanken macht sich Thomas Steinfeld. Er überlegt, ob sich die
Buchmesse in Zeiten des Krieges wird behaupten können und ob der Besucher unterscheiden können wird zwischen Werken, "in denen ein
Vorgefühl des Ernstfalls zu spüren ist" und solchen, "die sich nun von außen ein wenig
tragisches Gewicht ausleihen möchten ...um sich die
handgenähten Sohlen mit Blei beschweren zu lassen." Wen er da wohl im Sinn hat? Steinfeld hat denn auch den Aufmacher der heute beigelegten Literaturbeilage nicht Christian Krachts 1979, sondern Denis Johnsons Roman
"Engel" gewidmet: "Auch dieser Roman ist ein Abwehrzauber, aber ein Abwehrzauber Amerikas gegen sich selbst.")
Weiteres: Susan Vahabzadeh
denkt (einmal mehr) nach über
Hollywood und den Terror, Harry Lachner
über Laurie Anderson auf Deutschland-Tournee, Gottfried Knapp
freut sich mit
Zubin Mehta und der Bayerischen Staatsoper über deren
Triumphe in Tokio und Yokohama, Jonathan Fischer
schreibt über Soul-Queens und den
Sündenfall des Rhythm'n'Blues,
Glückwünsche schließlich gehen an den Schauspieler
Gert Voss zum 60.
Besprochen wird so einiges: Verdis
"Otello" in Gent, die japanische
Tanztruppe "Ishinha" auf
Kampnagel, eine
Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld über
Weiblichkeit im Surrealismus, eine
Foucault-Konferenz der
Historiker in Hamburg, Hollywoods
Version von
Dürrenmatts "Versprechen", eine
CD mit auf Reggae getunten nordamerikanischen
Soul-Klassikern. Ferner Peter Handkes Übertragung des
Briefwechsels zwischen dem syrischen Dichter
Adonis und dem griechischen Historiker
Dimitri T. Analis, ein
Sammelband über
Psychologie in der Bundeswehr und Noam Chomskys
"War Against People" ? ein hochaktuelles
Buch über
Menschenrechte und Schurkenstaaten (auch in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
FR, 10.10.2001
Der 11. September rückt unaufhaltsam in die Ferne. Denn erstens ist Buchmesse und zweitens gibt es immer auch andere wichtige Fragen, z. B.:
War Hitler schwul? Ina Hartwig
überlegt, was den Reiz einer solchen These ausmacht, wie sie der Historiker Lothar Machtan in seinem soeben erschienenen Buch
"Hitlers Geheimnis" aufstellt: Obwohl sich jeder gewissenhaft Argumentierende auf glattes Eis begibt, weil "die
insinuierte latente Homosexualität (...) notgedrungen mit der manifesten kriminellen Perversion des Menschenvernichters Hitler" konkurriert, so Hartwig, scheint es reizvoll zu sein, "ein
Monster mit sexuellen Fantasien lächerlich zu machen."
Hans Mommsen dagegen, der zum Thema
befragt wurde, ist der Meinung, dass "es bei ihm (Hitler) gar keine wirklich private Zone gibt." Hitler wäre demnach
so gut wie geschlechtslos gewesen und die Frage nach der Relevanz der Sexualität auf sein Handeln somit erledigt.
Fleißige Ina Hartwig: Auch der
Leitartikel zur
Buchmesse stammt von ihr. Glauben wir ihr, so hat die
Globalisation beim Buch längst begonnen: "Die Literatur ist dabei, ihre Deutungshoheit zu verlieren, vor allem die Nationalliteratur - wie sie eben in der
Idee des Länderschwerpunktes und Gastlandes verkörpert war. Schon seit längerem ist zu beobachten, dass die Belletristik durch das
intellektuelle und populäre Sachbuch eine ernst zu nehmende
Konkurrenz bekommen hat. Die Fragen der Zukunft - internationaler Terrorismus, Biotechnologie, die Gefährdung der Idee der Gleichheit werden als Stichworte genannt - müssen diskutiert werden, je
hochkarätiger und internationaler, desto besser." Aufmacher der heute beigelegten Literaturbeilage der FR ist ein
Essay von Martin Mosebach über die farbige Antike der Griechen.
Weitere Artikel: Natan Sznaider
schreibt über ein
frustriertes Israel, das weiterhin mit dem "kleinen" Terror leben muss, während alle Welt den großen bekämpft. Harry Nutt
warnt davor, den
Eventcharakter der Frankfurter Buchmesse zugunsten einer
neuen Ernsthaftigkeit zu reduzieren. Marius Meller
beschwört noch rasch einen
"starken" Bücherherbst. Es gibt eine
Kritik zu Michael Hanekes Film
"Die Klavierspielerin".
Und Alberto Giacometti wäre 100 geworden.
TAZ, 10.10.2001
Es hat seine Zeit gebraucht, aber dafür ist es originell ? das
Plädoyer für die
Analyse des Anderen von
Julia Kristeva, das uns die taz kredenzt. "Dass es einen Unterschied gibt zwischen einer
Religion und
ihrem
Fundamentalismus," schreibt Kristeva, "sollte uns nicht davon abhalten, in aller Gelassenheit und ohne uns zu ereifern die
Querverbindungen zwischen beiden zu untersuchen. Denn in Gedanken an ein paar Zeilen einer dieser Lehren lässt ein Terrorist ein Flugzeug explodieren,
nicht in Gedanken an eine Sonate von Mozart, einen Vers von Shakespeare oder ein Gemälde von Picasso!" Und
optimistisch ist die Kristeva auch: "Das Jahrhundert der Aufklärung hat durchaus seine Fortsetzung in den modernen Geisteswissenschaften gefunden, die uns dem Fanatismus gegenüber
nicht so hilflos dastehen lassen, wie manche meinen. Stellen wir nicht voreilig das Licht jener Aufklärung unter den
Scheffel von Toleranz und Multikulturalismus." Let's analyse!
Ferner: Gerrit Bartels
prophezeit eine ziemlich
politische Frankfurter Buchmesse und macht sich Sorgen um den Schwerpunkt Griechenland. Und die
Literataz bringt
Buchmessenbesprechungen, hergestellt u.a. von Georg M. Oswald, Claus Leggewie und
Klaus Theweleit (und bald schon in unserer großangelegten Auswertung der Literaturbeilagen).
Jetzt der
Tom.
FAZ, 10.10.2001
Der afghanisch-amerikanische Autor
Tamin Ansary mahnt den Westen: dies sei kein Krieg um Land, sondern um
Menschen. "Mir scheint, dass der Westen, der seine Raketen gerade abfeuert, im Begriff ist, diese
Schlacht zu verlieren. Versetzen wir uns einmal in diesen Jugendlichen und fragen uns, was ihn mitreißt. Auf der einen Seite sieht er
Bin Ladin, der nicht hinter einem Schreibtisch sitzt, sondern in einer Höhle, gekleidet im schmucklosen Gewand des strenggläubigen Muslim, der so
sanft aussieht und doch so stark ist - ein Mann, der seinen Weg geht. Dieser Jugendliche stellt sich vor, dass er später einmal wie Bin Ladin wird oder . . . wie wer? Wie sieht das
andere Bild aus? Ist es Bush, der im blauen Anzug das Weiße Haus verlässt? Nein. Es gibt überhaupt
keine romantische Heldenfigur auf der anderen Seite."
Die
deutsche Käsesituation ist miserabel, wie Michael Allmaier von einem Treffen der
Slow Food-Bewegung im italienischen
Bra berichtet. Franzosen, Italiener, Spanier können Dutzende von Sorten
Rohmilchkäse mit den unterschiedlichsten Aromen präsentieren. Und in Deutschland? "
Vier Sorten mit geschützter Ursprungsbezeichnung sind bei der Europäischen Union registriert, und man darf sie getrost als Nischenprodukte bezeichnen. Der
Odenwälder Frühstückskäse etwa schaffte es gar nicht erst nach Bra, weil es nur einen einzigen Erzeuger gibt, und der kämpft gerade mit einem
Schimmelproblem. Zwei andere immerhin vertreten den deutschen Käse mit eigenen Ständen. Einer davon gehört
Ernst und Martina Metzger-Petersen, deren Betrieb im nordfriesischen
Oster-Ohrstedt als 'einer der bekanntesten Käseerzeuger aus dem Norden Deutschlands' vorgestellt wird."
Weitere Artikel: Konstanze Crüwell
bespricht Ausstellungen
griechischer Kunst im Beiprogramm der Buchmesse. Dietmar Dath
setzt sich mit
Botho Strauß' Äußerungen über den
amerikanischen Gegenschlag auseinander. Reiner Scharf
stellt die drei Physik-Nobelpreisträger
Eric A. Cornell,
Wolfgang Ketterle und
Carl E. Wieman vor. Gerhard Stadelmaier
gratuliert dem Schauspieler
Gerd Voss zum Sechzigsten. Joseph Hanimann stellt das "erfrischendste,
heiterste und lustigste Buch der Saison" in Frankreich vor,
"La Reprise", ein spätes Meisterwerk des Nouveau Roman von
Alain Robbe-Grillet (der übrigens im
Nachkriegs-Berlin spielt). Jordan Mejias berichtet von New Yorker Konzerten der
Berliner Philharmoniker, die ihre Solidarität erklärten: "Wie sind alle
New Yorker." Matthias Ehlert schreibt zum Tod des Berliner Schauspielers
Dietrich Körner. Auf der
Medienseite finden wir ein
Inteview mit dem 72 Jahre alten Regisseur und Schauspieler
Achim Hübner, der sich seinen alte DDR-Fernsehfilme aus der Serie
"Ich - Axel Cäsar Springer" noch mal ansah. Zhou Derong feiert
Chinas Qualifikation für die
Fußballweltmeisterschaft.
Ferner beruhigt uns
Wolfgang Beyer vom Institut für Umwelt und Tierhygiene der Universität Stuttgart-Hohenheim im Interview mit Jörg Albrecht: "
Bacillus anthracis ist ein
Krankheitserreger und keine
Biowaffe. Zu einer Biowaffe gehört sehr viel mehr, und ein besonders schwieriger Schritt ist der letzte, nämlich das
Ausbringen." Jürgen Richter berichtet über den Stand der Sanierungsarbeitetn bei den
Schwibbogenhäuser im hessischen
Butzbach. Johann Schloemann stellt ein Forschungsprojekt
"Berliner Klassik" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vor. Christian Geyer nennt
Bernd Stieglers Sachbuchprogramm bei Suhrkamp "eines der eindrucksvollsten der Buchmesse". Mark Siemons hat den Resten der Berliner
Friedensbewegung beim Demonstrieren gegen den Krieg zugesehen. Gerald Siegmund bespricht Eröffnungsveranstaltungen am
Wiener "Tanzquartier".
Weitere Besprechungen gelten einer Zürcher
Ausstellung mit Manuskripten aus
Robert Walsers "Bleistiftgebiet" und dem vierten
Open-Strings-Festival in Osnabrück.