16.10.2001. Der Terror nimmt kein Ende: So macht sich die FAZ Gedanken über den Einfluss der Anschläge auf die Spaßgesellschaft, die NZZ berichtet, dass in Großbritannien der Rassenhass wächst und die SZ erklärt, warum die Vorstellung vom sanften Islam in eine Sackgasse führt.
NZZ, 16.10.2001
Georges Waser berichtet, dass in Großbritannien der Rassenhass seit den Anschlägen von New York und Washington zunimmt: Weiße Nationalisten schlagen Muslime zusammen, gleichzeitig predigen zwei "selbst ernannte" Scheichs aus London "den reinen Hass gegen die westliche Welt". Dieser "sture Rassenhass" in Großbritannien ist allerdings nicht ganz neu,
erklärt Waser: "Nicht zuletzt deshalb warnte Lord Ousley in einer Studie, die infolge der ethnisch motivierten Ausschreitungen in Bradford vom vergangenen Sommer unternommen wurde, vor einer durch das Schul- und Wohnsystem - man denke an die tristen Siedlungen mit stadteigenen Häusern - immer deutlicher werdenden Segregation. Die besagten Siedlungen, council estates genannt, bringen es bereits mit sich, dass Schüler nach ihrem Unterricht in gesonderten Gruppen in 'weisse', 'schwarze' oder 'asiatische' Strassen abwandern."
Weitere Artikel: Wolfgang Schneider bringt den "Buddenbrooks" zum Hundertsten ein
Ständchen. Besprochen werden eine Ausstellung über
De Chirico und Savinio in der
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, die erste
Biennale Bern, die unter dem Motto
"Jüdische Musik? Fremdbilder ? Eigenbilder" steht. Und Saburo Teshigawaras Tanztheaterstück
"Luminous" in Mülhausen. Im übrigen beweist die NZZ heute ihre Menschlichkeit, indem sie - erschöpft von den Literaturbeilagen - nur eine
Buchbesprechung bringt. Darin geht es um den eschatologischen Vorbehalt bei Erik Petersen.
SZ, 16.10.2001
Die
Medienseite bringt ein
Interview mit
Günter Grass zur Novellierung des
Urheberrechts. Grass ist mit dem
Entwurf der Bundesregierung einverstanden: "Es geht in erster Linie darum, dass Autoren und Übersetzer
angemessene Honorare bekommen. Vieles in dieser Branche ist
ehrenrührig, etwa der so genannte
Optionsvertrag, mit dem ein Autor gezwungen ist, sein nächstes Werk wieder demselben Verleger anzubieten ? der sich zu rein gar nichts verpflichtet."
Im Feuilleton
erinnert Wolf Lepenies an den Soziologen
Rene König, der in den siebziger Jahren ein Partnerprogramm mit der
Uni von Kabul betrieb und darüber in seiner Autobiografie berichtet. Die
Atmosphäre in den Seminaren schildert Lepenies so: "Den
verhaltensgestörten afghanischen Studenten standen
neurotische Dozenten aus dem Westen gegenüber." Zu Königs Autobiografie "Leben im Widerspruch" schreibt Lepenies: "Rene Königs Beschreibungen Afghanistans, des '
kompliziertesten Landes des Mittleren Orients', sind nicht mehr aktuell, deshalb aber noch nicht überholt. Was er zur drohenden
Paschtunisierung des Landes schreibt, zur Rolle der Uzbeken und zu den fatalen Folgen einer Binnenwanderung von einem 'Entwicklungsland' (Afghanistan) in ein anderes (Pakistan), ist heute noch lesenswert."
Der Orientalist
Rainer Brunner erklärt uns, "warum die Vorstellung vom
sanften Islam in eine Sackgasse führt". Die Trennung des "wahren Islam" vom Fundamentalismus ist für ihn wohl gemeint, aber
nicht erkenntnisfördernd: "Der europäische Kolonialismus und die westliche Nahostpolitik der letzten 50 Jahre haben gewiss das Ihre dazu beigetragen, den Eindruck der
Demütigung zu verfestigen. Aber die bedeutendsten Ahnherren heutiger Fundamentalisten, etwa den 1328 gestorbenen Theologen Ibn Taimiya oder die Wahhabiten, gab es schon
vorher. Wie man es dreht: Der islamische Fundamentalismus hat eine
Doppelnatur. Er ist ein politisches und religiöses Problem zugleich.
Politisch, weil er auf die Politik des Westens und die politische Situation in der islamischen Welt reagiert.
Religiös, weil die Wortwahl und das Geschichtsbild dezidiert islamisch sind."
Weitere Artikel: Henning Klüver
resümiert die italienische Debatte über den 11. September und bringt ein schönes Zitat von
Adriano Sofri: "Wir haben viele
stolze Worte gebraucht, als sie nötig waren: Wir sind alle
deutsche Juden, wir sind alle
Vietcong, wir sind alle
Boatpeople, wir sind alle
polnische Katholiken, wir sind alle Kosovoflüchtlinge gewesen. Und da sollten wir nicht genug Mut haben, um wenigstens für zwei oder drei Protestzüge zu sagen: Wir sind alle
Amerikaner?". Ulrich Herbert
berichtet, dass
italienische Zwangsarbeiter kaum von der jüngst ausgehandelten Entschädigung profitieren werden. Oliver Fuchs
macht versöhnliche Töne bei der an sich für Hass-Ausbrüche bekannten deutschen Band
"Mutter" aus, die gerade auf Deutschland-Torunee ist. Arno Orzessek
resümiert die Jubiläumstagung der
Museumspädagogik in Berlin. "ijo"
berichtet, dass die
Frankfurter Buchmesse künftig auf
Länderschwerpunkte verzichten und eine
Rechtemesse in New York gründen will. Der Psychoanalytiker
Wolfgang Leuschner macht sich über
Computerspiele Gedanken. Und
Daniela Dahn schreibt einen PDS-mäßigen Artikel zu den Gegenschlägen der Amerikaner und der "Privatisierung der Gewalt" ("Während Blair den Terrorismus als Angriff auf unsere Seele bezeichnet, macht man sich im deutschen Fernsehen jenseits aller Heuchelei Gedanken über die Auswirkungen auf das
Weihnachtsgeschäft.")
Besprochen werden
Werner Egks Opernkomödie
"Der Revisor" am Münchner Gärtnerplatztheater, Stücke von
John von Düffel in Göttingen und Bonn, die
Jean-Dubuffet-Ausstellung im Pariser
Centre Pompidou, das Stück
"Merkels Brüder" am Berliner Gorki-Theater und
Clare Boothe Luces "Damen der Gesellschaft" am Hamburger Thalia Theater.
FR, 16.10.2001
Rudolf Walther
erinnert an die Atmosphäre in
Paris nach dem 17. Oktober 1961, als die Pariser Polizei unter dem einstigen Kollaborateur
Papon über 200 demonstrierende
Algerier erschossen hatte: "Der Polizeichef feierte das Massaker in seiner Neujahrsansprache an 'die Soldaten der öffentlichen Ordnung' als 'Sieg über den
algerischen Terrorismus'. De Gaulle, Premierminister Michel Debre und Innenminister Roger Frey gelang es, einen parlamentarischen
Untersuchungsausschuss zu verhindern. Die
Regierungspresse schaute weg, das Staatsfernsehen duckte sich. Die kritischen Blätter wurden beschlagnahmt, ein Dokumentarfilm mit Zeugenaussagen
verboten. Sartre, Boulez, Aragon und andere erhoben zwar ihre Stimme, aber sie drangen nicht durch in der nationalistisch aufgeheizten Atmosphäre. "
Martina Meister
hat einem Auftritt
Samuel Huntingtons bei einem Kongress von PR-Leuten in Berlin zugehört: "Schon vor seinem Auftritt in Berlin hatte sich Huntington davon
distanziert, den Konflikt, den die Ereignisse vom 11. September ausgelöst haben, als einen
'Kampf der Kulturen' zu bezeichnen. Fast scheint es, als würde ihm seine Analyse, die er 1996 immerhin auf knapp 600 Seiten ausgebreitet hat, selbst
unheimlich geworden sein..."
Weitere Artikel: Adam Olschewski
bespricht eine CD-Box mit den gesammelten Werken von
Simon & Garfunkel. Peter Iden
berichtet, dass das New Yorker
Guggenheim und die St. Petersburger
Eremitage gemeinsam eine Kunsthalle in
Nevada gründen. Im Interview
verteidigt der Stadtplaner
Jochem Jourdan das
Hochhaus ("Wenn jemand einen Terroranschlag ausüben will, dann kann er das in
jedem Gebäude an jedem Punkt der Welt versuchen, es sei denn, es handelt sich um extrem bewachte Bauwerke. Terroranschläge können nur durch eine andere
Gesellschaftspolitik vermieden werden.")
Besprochen werden ein
Einar-Schleef-Spektakel an der Berliner Volksbühne, die Ausstellung
"Lourdes" von
Gabriele Regiert in Delmenhorst, und ein
Hindemith-Operntriptychon mit Günter Krämer in Köln.
TAZ, 16.10.2001
Elisabeth Bronfen hat sich durch die Erklärungen zum
Attentat vom 11. September gearbeitet und stellt fest, dass all die
Allegorisierungen, Analogien mit Hollywoods Katastrophenszenarien, Deutungen und Entlastungsgeschichten uns letztlich nicht von der
Gegenwart des Todes abschirmen. Sie
schlägt vor, "die Attacke auf das World Trade Center auch als
wake-up call (zu) verstehen: als
verheißungsvolle Mahnung daran, bei diesem Einbruch des realen Todes in unsere medial verbreiteten Fiktionalisierungen von Katastrophen auch zu verweilen, den
Bruch nicht einfach wieder durch Entlastungsgeschichten abzudichten."
Besprochen werden die
Keith-Haring-Ausstellung "Himmel und Hölle" im
Museum für Neue Kunst im ZKM Karlsruhe und
Bücher, darunter ein
Hörbuch von
"Asphaltpoeten" und
politische Bücher. Und Harald Fricke
schreibt in einer Reihe zur
Warhol-Ausstellung in Berlin über die Fans und die
Haare von Jackie Kennedy: "Nein, es gibt keine Zweifel: Ein Mann, der sich sein Leben wegen seiner frühen Glatze grämte, bis er wie zum Spott einen grauen
Popmopp auf dem Kopf trug, er muss diese
Fülle beneidet, bewundert, geliebt haben."
Schließlich
Tom.
FAZ, 16.10.2001
Der Science-Fiction-Autor
Gregory Benford (mehr
hier)
schreibt über die Verschmelzung von
Mensch und Maschine und zitiert die deutsche Roboterbauerin
Anne Först, die glaubt, dass sich
künstliche Intelligenz nur zusammen mit einem
Körper entwickeln kann. Eine Nietzscheanerin gewissermaßen: "Wenn eine Maschine wirklich intelligent sein soll, muss sie einen
Körper haben. Wir glauben, Intelligenz lässt sich nicht vom Körper lösen. Der Körper, die Art, wie er sich bewegt, wie er wächst, Nahrung verdaut, altert - all das hat
Einfluss auf das
Denken. Darum haben wir
Cog und
Kismet mit
menschlichen Zügen ausgestattet. Cog
bewegt sich und erlebt die Welt wie jemand, der aufrecht geht. Er erlebt
Gleichgewichtsprobleme, Reibungsprobleme, Gewicht, Schwerkraft, also dasselbe wie wir, so dass er ein dem unseren ähnliches Körpergefühl haben kann." Aber wie geben wir dem Roboter eine
Verdauung?
Eric Rohmers neuer Film "L'Anglaise et le duc" spielt in der
Französischen Revolution und ist in Frankreich
umstritten,
berichtet Joseph Hanimann ? weil Rohmer für den
Adel ist! "Neu ist in Rohmers Film nicht die Darstellung des in revolutionärer Gewalt überbordenden Volks. Anstößig scheint manchen vielmehr, dass der intimistische Filmautor Rohmer diese aufbegehrenden
Fuhrknechte,
Hausdiener,
Kleinhandwerker und
Tagelöhner statt als undifferenzierte Haufen immerfort konkret als keifende, polternde,
rülpsende Typen mit lallender Zunge und schrägem Blick vorführt."
Weitere Artikel: Mark Siemons
macht sich Gedanken über den Einfluss der
Anschläge auf die
Spaßgesellschaft. Dieter Bartetzko
meldet, dass Schweizer Wissenschaftler die von den Taliban zerstörten
Bamiyan-Buddhas rekonstruieren wollen. Der Politologe
Peter Reicher plädiert gegen ein Verbot der
NPD. Jörg Thomann
schildert, wie die
Bild-Zeitung mit einem
Stasi-Fall in ihrer Redaktion umgeht (nämlich hilflos). Eva Menasse
erzählt aus Wien, dass
Jörg Haider als Populist seinen Zenit überschritten habe ? und trotzdem immer noch
beliebter ist als die anderen Politiker. Richard Kämmerlings hat
Christian Kracht und
Rebecca Casati auf der Buchmesse lesen hören. Johan Schloemann berichtet über die Gründung einer "Gesellschaft für
antike Philosophie". Siegfried Stadler fragt, wie man sich die Kaiserpfalz
Ottos des Großen in
Magdeburg vorstellen muss ? eventuell als
Investitionsruine? Susanne Klingenstein berichtet über die Amtseinführung des neuen
Harvard-Präsidenten,
Lawrence H. Summers. Hanjo Kesting
schreibt auf der
Bücher-und-Themen-Seite über
Edgar Allen Poe. Tilman Spreckelsen schreibt zum Tod der Rilke-Freundin
Erika Mitterer.
Besprochen werden die Ausstellung
"UnheimlicheFrauen" in der
Kunsthalle in Bielefeld, eine minimalistische Musik von
Michael Nyman aus Anlass des Abschlusses der Restaurierung von
Michelangelos Moses in Rom, eine
James-Bond-Persiflage im Schauspiel Dresden, eine Ausstellung des Fotografen
Luigi Ghirri inWintherthur, das
Irish Folk Festival auf Deutschlandtournee, eine Tagung der
Novalis-Gesellschaft auf Schloss Oberwiestedt, das Lustspiel
"Drei Fische für zwei Paare" von
Bodo Kirchhoff, uraufgeführt am Schauspiel des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, das holländische
Introdans-Festival und
Igor Bauersimas Stück
"Launischer Sommer" in Düsseldorf.