Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2001. In der FAZ hofft John le Carre, dass Bin Ladens "homoerotischer Narzissmus" dem Westen helfen könnte. In der taz beschreibt Boris Groys den 11. September als "Lichtung des Seins". Die SZ schreibt über die islamischen Länder als Akteure der Globalisierung.

FR, 17.10.2001

In der FR nimmt der Politikwissenschaftler Jan T. Gross Stellung zur Kritik an seinem Buch "Nachbarn" und verteidigt seine These, derzufolge 1941 im polnischen Jedwabne ca. 1600 Juden von der Bevölkerung massakriert wurden. Ergebnisse einer im Juni vorgenommenen Exhumierung, bei der man die Zahl der Toten auf ca. 250 veranschlagt hat und bei der auch deutsche Munition gefunden wurde, lässt Gross nicht gelten: "Es waren die Präliminarien zu Präliminarien einer Exhumierung; für eine wirkliche Exhumierung bräuchte man Monate. Was dabei allerdings klargestellt wurde, ist, dass man tatsächlich kleine Kinder, Frauen und alte Leute in diesem Massengrab verscharrt hatte."

Wladimir Kaminer genießt die herbstliche Stimmung im Berliner Wahlkampf: "Der Herbst kommt, die Blätter der Pappelbäume an der Schönhauser Allee werden durch bunte Wahlplakate ersetzt ... Unter jedem Baumkandidat steht eine kurze Botschaft, die ihn positiv charakterisieren soll. Aber dadurch, dass die Plakate in diesem Jahr sehr hoch hängen, um sie besser vor Vandalismus zu schützen, kann man die Botschaften nur mit Mühe entziffern. Oft bleibt bloß ein besonders fett gedrucktes Wort in Erinnerung, wenn man vom Einkaufen nach Hause kommt. Bei einem PDS-Kandidaten ist es das Wort 'Jetzt', bei der FDP ? 'Mist' und bei der CDU ? 'Macht'".

Ferner: Martina Meister berichtet Neues vom Streit um das neue Urheberrecht, Sandra Danicke besichtigt Hans Kollhoffs Main-Plaza-Turm am Frankfurter Deutschherrnufer. Und Peter Michalzik fühlt sich angesichts der Bündnisfallquerelen an eine Polit-Revue im Frankfurter TAT erinnert: "Immer und immer wieder sagte Fischer hier, übrigens dargestellt von vier Spice-Girls, das 'Nie wieder' - um sich dann in Guido Westerwelle zu verwandeln. Die Szene wurde zu einem FDP-Parteitag, der als sektenmäßiges Glücksversprechen mit Westerwelle als Guru der überzeugungsfreien Versuchung inszeniert war."

Besprochen werden: Coppolas Neufassung von "Apocalypse Now", eine Schau der britischen Foto-Künstlerin Josephine Pryde in der Berliner Galerie Neu sowie eine Karlsruher Ausstellung zur "Rhetorik der Überwachung".

FAZ, 17.10.2001

John Le Carre (mehr hier) glaubt, dass der Westen den Krieg verlieren muss, weil die bin Ladens nachwachsen. Andererseits glaubt er als erfahrener Agententhriller-Autor, dass bin Laden selbst dem Westen in gewisser Hinsicht helfen könnte: "Die inszenierten Fernsehbilder und Fotos von Bin Ladin lassen einen homoerotischen Narziss vermuten, und vielleicht können wir daraus sogar ein kleines bisschen Hoffnung schöpfen. Wenn er mit einer Kalaschnikow posiert, bei einer Hochzeit zugegen ist oder einen heiligen Text liest, vermittelt er mit jeder selbstverliebten Geste das Kamerabewusstsein eines Schauspielers. Er ist hochgewachsen, sieht gut aus, besitzt Gewandtheit, Intelligenz und Anziehungskraft - alles großartige Eigenschaften, sofern man nicht der meistgesuchte Verbrecher der Welt ist, denn in diesem Fall sind sie, weil kaum zu verbergen, eher von Nachteil."

Dass die Märtyrer nachwachsen, wird plausibel aus einem Artikel von Monika Osberghaus. Sie hat die Studie eines unabhängigen amerikanischen Instituts über syrische Schulbücher gelesen. Dort werden die Kinder von der ersten Klasse an auf den Opfertod gegen Israel eingestimmt. Richtig konkret wird's in den Schulbüchern für die zehnte Klasse: "Unter anderem wird der Tod der siebzehn Jahre alten Sana Muheidaly als Romanze nacherzählt. Das Mädchen hatte drei Tage vor ihrer Hochzeit mit einem Laster voller Sprengkörper einen israelischen Militärkonvoi und sich selber in die Luft gejagt: 'Sie hat sich mit dem Märtyrertum vermählt', zitiert das Lehrbuch Präsident Assad, der auch gleich eine Schule nach ihr benannte."

Weitere Artikel: Lisa Zeitz berichtet, dass beim Anschlag auf das World Trade Center unter anderem wichtige Aktenbestände der New Yorker Zollbehörden vernichtet wurden, die in einem Nebengebäude logierten ? es scheint sich um die beste Aktensammlung über gestohlene und Beutekunst gehandelt zu haben. Oliver Tolmein kommentiert die Gerichtsniederlage eines Zwitters (oder "Intersexuellen"), der eine Anerkennung seiner Zweigeschechtlichkeit durch eine Änderung im Geburtenbuch verlangt hatte. Zhou Derong schreibt zum Tod von Zhang Xueliang, der als Marschall Tschiang Kai-Tscheks 1936 den "Zwischenfall von Xian" herbeiführte. Oliver Elser resümiert ein Symposion zur Restaurierung des Brandenburger Tors. "rc" gedenkt der Firma Polaroid, mit der es durchaus doch auch eine kunstgeschichtliche Bewandtnis hat und die nun kurz vor dem Konkurs steht.

Auf der Medienseite berichtet Marion Aberle über die Arbeit der Daily News, der letzten freien Zeitung in Zimbabwe. Außerdem erfährt man in einer Meldung, dass die Auflagen der Berliner Zeitungen, mit Ausnahme des sich knapp behauptenden Tagesspiegels, stark sinken. Auf der Stilseite stellt Jürgen Dollase das Brüsseler Restaurant "Comme chez soi" und seinen Koch Pierre Waynants vor. Auf der letzten Seite fragt Christian Schwägerl, "was Trittbrettfahrer ticken lässt".

Besprechungen gelten neuen Pariser Claudel-Inszenierungen, John Cages "Europeras 1-5", die in Hannover erstmals komplett aufgeführt wurden, einer Ausstellung des Plastikers Robert Jacobsen im Kopenhagener Statens Museum for Kunst, einer japanischen Trickfilmverfilmung von Johanna Spyris "Heidi", einer Ausstellung des Fotografen Hiroshi Sugimoto im Kunsthaus Bregenz, dem Warschauer Herbst und Tschepko Dan Agbetous Tanzstück "Myae" in Düsseldorf.

TAZ, 17.10.2001

Im Interview mit Vitus H. Weh erklärt der Kunst- und Medientheoretiker Boris Groys den 11. September zum Tag der Evidenz, weil er wie "eine wahre Einsicht in die wahre Beschaffenheit der Welt" rezipiert worden sei. "Heidegger würde sagen, es ist die neueste 'Lichtung des Seins'". Für Groys allerdings heißt das Dämmerung der Weltverschwörung: "Die islamischen Kleider (der Verdächtigen, d. Red.) halte ich schlicht für Kostümierung. Diese Orientalisierung wird ebenso absichtlich betrieben wie die Angabe von möglichen Ursachen. In meinen Augen spielt hier Religion überhaupt keine Rolle." Was also tun, Herr Groys? - "Die einzige Möglichkeit gegen Verschwörungen zu wirken ist es, eine eigene Verschwörung zu organisieren. Alle werden sich also auf verschiedene Weise in Verschwörungen involvieren müssen." Wir halten den Vorschlag schlicht für eine Verschwörung.

Besprochen werden: Baz Luhrmanns Musical-Film "Moulin Rouge", "Ein launischer Sommer" am Schauspielhaus Düsseldorf, eine Festschrift zum 65. Geburtstag Dietmar Kampers. Und Jazz in Zeiten des Krieges: Neue Platten von Diana Krall, Dave Douglas und Marc Ribot.

Last not least Tom.

SZ, 17.10.2001

Kathrin Kommerell erzählt, wie Islamwissenschaftler und Politologen auf einer Tübinger Tagung das Phantom der Globalisierung aufspürten, das seit dem 11.September verstärkt der Projektion der arabischen Opferrolle dient. Die arabischen Staaten, so ein Ergebnis der Diskutanten, sind vor allem auch Akteure in der Dynamik der Globalisierung. "Ihre dringendste Frage ist: Ist Globalisierung kontrollierbar? Können sie die Rosinen, etwa die ökonomischen Vorteile, herauspicken, während sie zugleich andere, soziale und politische Konsequenzen ausgrenzen?"

Nun, da der Horror sich klein gemacht hat und in Pulverform per Post unterwegs ist, zeigt sich für Ulrich Raulff neben Panik und Hysterie ein noch böserer Effekt: "Der jüngste Schrecken ist kälter, subliminaler. Er äußert sich als generalisierter Verdacht ... Die Hermeneutik des Verdachts, als Deutungsmuster aus den Geisteswissenschaften bekannt, übernimmt die Kontrolle des alltäglichen Verhaltens. Sie macht der verlässlichen Welt ein Ende ... Der neue Terror tötet nicht sogleich das Leben, er tötet zuvor die Lebenswelt. Ohne sie aber sind wir, was T.S.Eliot die klagenden Frauen von Canterbury von sich sagen ließ, lebend und nur halb lebend."

Außerdem lesen wir in der SZ, warum Haruki Murakami seine Deutschlandreise abgesagt hat. Eva Marz berichtet über den Romanistentag in München. Und Christoph Marthaler probt eine Szene.

Und im übrigen jede Menge Besprechungen: eine Max-Kommerell-Konferenz in Marburg, die World Music Days von Yokohama, das Musikprotokoll im Grazer Steirischen Herbst, Abi Morgans "Splendour" am Schauspiel Zürich, der "Launische Sommer" in Düsseldorf, ferner Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now Redux", eine Rembrandt-Ausstellung der Londoner Royal Academy. Und Literatur: ein Sammelband über den Architekten Bruno Taut und Antonio Lobo Antunes Roman "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 17.10.2001

Die arabische Welt hat es schwer. Erst sucht man die Schuld für die Anschläge bei ihr, und nicht etwa in der verfehlten amerikanischen Außenpolitik, und dann bekommt auch noch V.S. Naipaul den Literaturnobelpreis. Wadi Saadah berichtet über saure Reaktionen. Der amerikanische-palästinensische Intellektuelle Edward Said darf nicht fehlen: Er "sieht Naipauls Begegnung mit dem Islam als eine verhängnisvolle Kollision. 'Ich glaube', schreibt Said, 'dass Naipaul irgendwann einen gefährlichen intellektuellen Unfall erlitt . . . sein wahnhafter Antagonismus gegenüber dem Islam hat sein Denken blockiert oder ihn in eine Art geistigen Suizid getrieben.' Said wirft dem Schriftsteller vor, er habe seither seine Fähigkeiten eingebüßt, sein Schreiben sei 'repetitiv und langweilig' geworden; die Bücher, in denen er sich mit dem Islam befasse, bewiesen höchstens, dass er auf seinen Reisen durch muslimische Länder nichts gelernt und lediglich nach einer Bestätigung für seine vorgefassten Urteile gesucht habe." Während Said, als er Steine auf Israel warf, unvoreingenommen handelte.

Genevieve Lüscher berichtet über das Projekt des Basler Afghanistan-Museums und der "New 7 Wonders"-Stiftung, die von den Taliban zerstörten Bamiyan-Buddhas zu rekonstruieren. Zunächst sollen alle Daten zusammengetragen werden. "Erstes Ziel ist ein dreidimensionales Modell der grösseren der zwei zerstörten Bamian-Statuen, und zwar soll nicht nur die Buddha-Figur selber, sondern auch die sie umgebende Felsnische, die ja Teil des ganzen Ensembles bildet, mit rekonstruiert werden. Es handelt sich also um ein Hochrelief. Die Daten für die Realisierung stammen aus verschiedenen Vermessungen."

Besprochen werden Pina Bauschs "Fest in Wuppertal", Cages "Europeras" in Hannover, die neue Lettre International, die für ihre Hintergrundartikel zu den Anschlägen gelobt wird, und einige Bücher, darunter der dritte Band von Michael Manns "Geschichte der Macht". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)