Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.10.2001. Gustav Seibt führt in der SZ den Islamismus auf die gewaltsame Trennung von Männern und Frauen im Islam zurück. Gerd Koenen identifiziert ihn in der FR mit dem Totalitarismus. In der FAZ eröffnet David Grossman ein israelisches Tagebuch. Die taz denkt derweil über die neue Benetton-Kampagne nach.

FR, 24.10.2001

In der FR untersucht Gerd Koenen (mehr hier) das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Totalitarismus und Terrorismus. "Der politische Islamismus," schreibt er, "lässt sich durchaus mit den kommunistischen oder faschistischen Projekten gereinigter, homogenisierter, zu Machtblöcken neuen Typs zusammengeschweißter Staaten und Völker in eine Reihe stellen. Auch diese haben sich essentiell vom Widerspruch gegen die 'westlichen Siegermächte' und die von ihnen ausgehende 'Globalisierung' und kosmopolitische Weltzivilisation genährt." Aber auch aus den "nationalen Befreiungsbewegungen" der 60er und 70er Jahre kennt Koenen "viele Zitate, die die radikalen Linken des Westens damals elektrisierten" und die sich im Widerschein der brennenden Türme über Manhattan mit "neuer Beklommenheit" lesen.

Desweiteren gibt es ein Gespräch, in dem der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun die Fehler des Westens, insbesondre der amerikanischen Außenpolitik anprangert: "Die Amerikaner und Europäer müssen begreifen, dass sie auf etwas Wohlstand verzichten müssen. Denn wir können mit dieser schrecklichen wirtschaftlichen Überlegenheit nicht weitermachen. Wir können uns nicht weiter einbilden, dass wir die Einzigen auf dem Planeten sind ... (Ich) erinnere an die irakischen Kinder, die zehn Jahre unter amerikanischen Bomben und Boykotten gelitten haben. Jede irakische Mutter wird Bin Laden applaudieren ..."

Andere Artikel: Hans Wolfgang Hoffmann plädiert für eine Wende in der Berliner Baupolitik, Klaus Hemmo sucht nach historischen Ursachen ethno-nationaler Konflikte in Mazedonien, Palästina und anderswo.

Und besprochen werden: Das Festival "YES" in München, Karin Jurschicks Dokumentarfilm "Danach hätte es schön sein müssen" sowie Opern: Franz Schrekers "Der ferne Klang" in Berlin, Offenbachs "Contes d'Hoffmann" in Leipzig und "La Dame Blanche" in Düsseldorf.

TAZ, 24.10.2001

Axel Krämer stellt die neue Benetton-Kampagne vor, die der United-Colors-Konzern zusammen mit den United Nations entwickelt hat und staunt über den neuen Trend zur Wahrheit in der Werbung und zum "moral standing" in der Firmenkultur. "Waren die Konzernvorstände bislang im zeitlichen Horizont von Zweijahreszyklen beschränkt und auf den Wert des Shareholder-Value fixiert, gilt es nun, sie von einer imagefördernden Nachhaltigkeit zu überzeugen. Denn diese lässt sich offenbar von gesellschaftlichen Megatrends immer weniger entkoppeln. Es ist vielleicht die neue große Herausforderung für die Werbebranche, ihre Auftraggeber mit diesen Zusammenhängen vertraut zu machen."

Weiteres: Brigitte Werneburg liefert einen Erlebnisbericht von einem Flug Berlin-London hin und zurück (156fache Vergrößerung der üblichen Warteschleife beim Sicherheitscheck inclusive), Jan Engelmann war auf einer Tagung der Arbeitsgruppe "Kultur und Strategie," auf der man den Barbaren als Sleeper unserer Kulturversessenheit entlarvte, Björn Gottstein berichtet von sehr facettenreichen Donaueschinger Musiktagen 2001. Und empfohlen wird das "Schwarzbuch der Markenfirmen" ? ein Muss für jeden kritischen Konsumenten.

Schließlich Tom.

FAZ, 24.10.2001

Der israelische Schriftsteller David Grossman verfasst für die FAZ ein Tagebuch. Am 15. Oktober notiert er: " Immer wieder lese ich in der europäischen Presse feindselige Bemerkungen über Israel. Teils schiebt man dem Land gar die Verantwortung für die jüngsten Ereignisse in die Schuhe. Es empört mich, wie begierig gewisse Kreise Israel als Sündenbock benutzen. Als wäre Israel der eine simple, fast schon alleinige Grund, um den Terror und Hass, den der Westen derzeit zu spüren bekommt, zu 'rechtfertigen'. Bestürzend ist auch die Tatsache, dass Israel nicht eingeladen wurde, sich der Allianz gegen den Terror anzuschließen, während Syrien und Iran (!) dazugebeten wurden."

Auf der letzten Seite berichtet Helga Hirsch nach einem Gespräch mit Witold Kulesza vom "Polnischen Institut für nationales Gedenken" über den letzten Stand der Ermittlungen über das Massaker von Jedwabne. Demnach sind 1941 nicht 1.600, sondern 250 Juden bei dem Massaker in eine Scheune gepfercht und verbrannt worden. Die Haupttäter waren Polen, obwohl auch deutsche Gendarmerie zugegen war: "Kulesza hält es für äußerst wahrscheinlich, dass die acht Gendarmen bei dem Pogrom mitgewirkt haben und mindestens einer von ihnen geschossen hat: Dafür spricht die Tatsache, dass in dem Körper eines Opfers in der Grube neben der Scheune ein Neunmillimetergeschoss gefunden wurde, wie es einer Pistole der Marke 'Parabellum' oder 'Walther' entstammen könnte."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru liest arabische Presse, in der man sich einig, dass Palästinenser, die sich vor Diskotheken in die Luft sprengen, nicht als Terroristen zu gelten haben. Michael Althen fürchtet, dass der 98jährige Bob Hope, nachdem er von einer Lungenentzündung genesen ist, zur Unterhaltung der amerikanischen Truppen aufbrechen will ? seit dem Zweiten Weltkrieg ist er in dieser Hinsicht unermüdlich tätig. Felipe Gonzalez, ehemaliger spanischer Ministerpräsident, denkt über eine neue Weltordnung angesichts des globalisierten Terrors nach. Christoph Albrecht fragt sich, wie im Falle einer eventuellen Festnahme ein Prozess gegen bin Laden aussehen könnte. Barbara Hobohm berichtet unter Natur und Wissenschaft über den Versuch, Wirkstoffe gegen Anthrax zu entwickeln.

Ferner nimmt Timo John die römischen Hinterlassungen im Kurbad Badenweiler in Augenschein. Eduard Beaucamp meldet, dass Irene Ludwig ihrem Museum den Rest ihrer Sammlung schenkt. Siegfried Stadler berichtet über die bevorstehende Fusion der Theater von Erfurt und Weimar. Stiftungsexperte Michael Göring fragt sich, wie die von Julian Nida-Rümelin geplante Kulturstiftung aussehen könnte. Jürgen Kesting gratuliert der Sopranistin Sena Jurinac zum Achtzigsten. Florian Borchmeyer resümiert eine Leipziger Tagung über das Werk von Jose Luis Borges. Wolfgang Sandner gratuliert der Komponistin Sofia Gubaidulina zum Siebzigsten. Edo Reents vermeldet das wahrscheinlich endgültige Ende der Spice Girls. Auf der Medienseite gratuliert Freddy Langer der Zeitschrift Geo zm 25. Geburtstag. Und Jörg Thomann beschwert sich zurecht, dass uns Fernsehgrößen wie der Fußballansager Rainer Beckmann nun auch mit Kolumnen in der Zeit erfreuen. In einer Meldung erfahren wir, dass "Manitu" der erfolgreichste deutsche Film aller Zeiten ist und den bisherigen Favoriten der Kulturnation, "Otto ? den Film", auf die Ränge verweist. Auf der Stilseite macht sich Achim Hölter Gedanken über die Adressen deutscher Universitäten: In dieser Zeitung ist wirklich sehr viel Platz.

Besprochen werden eine August-Sander-Ausstellung in Köln, die Ausstellung "Monets Vermächtnis" in der Hamburger Kunsthalle, eine Rachel-Khedoori-Ausstellung im Kunstverein Braunschweig, eine Ausstellung über die Geschichte des Linoleums im Badischen Landesmuseum Karlsruhe.

NZZ, 24.10.2001

Florian Coulmas geht ? offensichtlich nach längerer Abwesenheit ? durch Tokyo und findet eine traurige, nostalgische Stadt, die Angst vor der Zukunft hat: "Die Gemütslage der Nation genau getroffen hat der staatliche Fernsehsender NHK mit der Serie 'Projekt X'. Sie dokumentiert und zelebriert vergangene Erfolge aus Wissenschaft und Technik: als es Thoru Kuwabara gelang, für Yamaha einen Flügel zu bauen, der neben einem Steinway bestehen konnte; als Kazuma Takeuchi mit einem vierköpfigen Team das erste Laser-Skalpell entwickelte; als japanische Ingenieure von der französischen Seite aus den Kanaltunnel gruben. Solche Leistungen lassen das Herz höher schlagen, aber sie liegen Jahrzehnte zurück. Ihre Protagonisten sind Vorbilder, nach denen man sich sehnt; an Aufbruchstimmung und hoffnungsvollem Ehrgeiz fehlt es heute."

Weiteres. Sieglinde Geisel resümiert die "Attac"-Tagung in Berlin am Wochenende. Kurt Kreiler scheibt zum Tod von Anna Maria Jokl. Marc-Christoph Wagner vermeldet einen Streit überden Opern-Neubau in Kopenhagen. Elisabeth Schwind gratuliert Sofia Gubaidulina zum Siebzigsten. Joachim Güntner berichtet über eine Neuausrichtung des Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover.

Besprochen werden die Ausstellung "Rinascimento" in Rom, eine Ausstellung über die Schweizer Nachkriegsmoderne in der Architektur in Wien und ein Liederabend von Ruggero Raimondi in Zürich.

SZ, 24.10.2001

Worum soll der Kampf der Kulturen, wenn er denn schon unausweichlich ist, eigentlich geführt werden? Für Gustav Seibt steht fest: Es geht dabei um "eine Menschheitskultur, in der unterschiedlichste Traditionen miteinander leben können." Im Wege steht dem laut Seibt vor allem die Unterdrückung der Frauen. "(Sie) dürfte das meiste von dem bedingen, was für den Westen an den islamischen Lebensformen inakzeptabel ist ... Von der religiösen Hasserziehung bis zur Unfähigkeit, Ambivalenz zu ertragen, von dem am Kollektiv ausgerichteten Selbstbewusstsein vieler muslimischer Männer bis zur Bereitschaft zum religiösen Selbstmord verweisen alle Züge, die den Islam heute so zerstörerisch und unproduktiv erscheinen lassen, auf die gewaltsame Trennung von Männern und Frauen."

Außerdem: C. Bernd Sucher über Frank Baumbauers Start an den Münchner Kammerspielen, Thomas Meyer erinnert an Peter Szondi, der vor 30 Jahren starb, Reinhard J. Brembeck stellt den Kabbalisten, Komponisten, Musikforscher und Flötisten Rene Clemencic vor, Helmut Mauro freut sich über die Rekonvaleszenz des italienischen Plattenlabels Fonit Cetra, Ralf Dombrowski avisiert die Deutschlandtour der portugiesischen Fadosängerin Misia, wir lesen Glückwünsche an die Komponistin Sofia Gubaidulina zum 70. und einen Nachruf auf die Schriftstellerin Anna Maria Jokl. Auf der Medienseite schließlich erfährt, wer will, Neues vom Klinch zwischen Springer und Kirch.

Besprochen werden in der SZ: Alban Bergs "Lulu" in Palermo, Vanessa Jopps Spielfilm "Engel & Joe", florentinische Frauenbildnisse der Renaissance in der National Gallery Washington, der "Make-World"-Kongress in München, ein Berliner Festival übers Rauschen, Rolf Hochhuths "Hitlers Dr. Faust", ebenfalls in Berlin. Und Bücher, darunter Andrzej Stasiuks Minibiografie und Essays von Stanislaw Lem (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).