Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.11.2001. Burkhard Hirsch wendet sich in der SZ gegen den "Otto-Katalog", die taz erzählt von den Anfängen der Anthropometrie. Die FR greift die moslemischen Verschwörungstheorien zum 11. September auf.

FAZ, 02.11.2001

Patrick Bahners polemisiert gegen das bellizistische Editorial von Kurt Scheel und Karl-Heinz Bohrer im neuen Heft des Merkur. Dort werden die heutigen Kriegsgegner mit den britischen Appeasement-Politikern in den dreißiger Jahren verglichen. Bahners antwortet: "In London gab es in den dreißiger Jahren Politiker, die der Auffassung waren, Großbritannien solle es unterlassen, dem deutschen Revisionismus entgegenzutreten. Sie hatten unrecht, aber nicht a priori. Vorderhand hatten sie gewichtige politische und moralische Argumente für sich. Es ging ihnen um die Souveränität. Richtig sahen sie voraus, dass ein neuer Weltkrieg das Ende der britischen Großmachtstellung bringen musste." Ist letzteres ein moralisches Argument?

Andreas Obst stellt grundsätzliche Fragen zu Michael Jacksons neuem Album: "Was überhaupt war jemals neu an Jacksons Musik? Bestand sie nicht schon immer im wesentlichen aus der schematischen Abfolge harter Beats und süßlicher Balladen, über denen die Stimme des Sängers eine eigene Leuchtspur zog, interpunktiert von seinen wollüstig-unschuldigen Schluckauf-Kieksern? Die Frage wird nicht erst seit 'Thriller' diskutiert, sie hat eine ganz eigene Dynamik als Füllstoff in den mehrjährigen Kunstpausen des Meisters entwickelt."

Der Historiker Dan Diner denkt über Amerika nach, das für ihn nach dem 11. September eine Neugründung erlebt, die sich in einer "Territorialisierung" ausdrücke: "Die Bildung eines nicht nur für den beschränkten Zeitrahmen eines Krieges - für die Ausnahme also - eingerichteten Home Defence Office dürfte hierfür ebenso bezeichnend sein wie die Zentralisierung von Behörden und Einrichtungen der inneren Sicherheit zur netzwerkartigen Kontrolle der Bürger, die Ausgabe von Ausweispapieren und manch andere bislang als unamerikanisch erachteten Maßnahmen mehr. Auch eine vorgeblich unzeitgemäße Keynesianisierung der Wirtschaftspolitik - und dies von einer ihrem Selbstverständnis nach konservativen und isolationistisch angetretenen Regierung - mag die Richtung weisen, in die sich Amerika bewegt."

Weiteres: Thomas Wagner feiert die "gelungene Wiederauferstehung" des Museums Ludwig in Köln. Jordan Mejias schildert die Halloween-Nacht in New York. Vorabgedruckt werden Briefe von Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder von 1901 bis 1937 aus einem Band, der demnächst bei Hanser erscheint. Wolfgang Jean Stock besucht das Architekturzentrum in Wiener Museumsquartier. Gisa Funck resümiert ein Celan-Symposion in Darmstadt. Auf der Medienseite wird die neue Staffel der Enterprise (mehr hier) vorgestellt, und außerdem spinnt man das Epos der Neubesetzung des Intendantenposten beim ZDF fort. Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht es neben Michael Jackson um eine neue Monteverdi-Aufnahme. Auf der letzten Seite betrachtet Michael Jeismann die Ausstellung "Faszination und Gewalt" auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände.

Ferner schreibt Verena Lueken hier ein kleines Porträt Jonathan Franzens, des gefeierten Literaturstars der Saison, dessen Roman "The Corrections" begeistert aufgenommen wurde. Er hatte jüngst die nie dagewesene Frechheit, nicht in der Oprah-Winfrey-Show auftreten zu wollen, die so auflagenfördernd wirkt. "Ein literarisch wertvoller Bestseller wie 'The Corrections' ist zweifellos in", schließt Lueken, "sein Autor nicht mehr." (Hier ein Auszug aus dem Buch. Mehr über den Autor finden Sie hier und hier und hier und hier und hier.)

Besprochen werden Josef Winklers Stück "Tintentod" beim Steirischen Hebst (der Mann hat einfach ein Interview mit sich selbst dramatisiert - Eva Menasse findet das nicht sehr witzig), John Maddens Film "Corellis Mandoline" (mehr hier), Goldoni-Stücke in Mülheim und Bonn und Pina Bauschs Fest in Wuppertal.

NZZ, 02.11.2001

Welcher Islam wird sich durchsetzen? Die gemäßigte, doch vorsichtig-misstrauische oder die radikale Variante? Tomas Halik, Theologe an der Prager Karlsuniversität, ist der Ansicht, dass der Westen dabei mitentscheidet: "Das Christentum hat aufgehört, sich die Gesellschaft ideologisch unterwerfen zu wollen. Gerade in dieser Freiheit liegt jedoch die Chance einer ideellen Rückbesinnung auf die eigenen religiösen Wurzeln sowie auf ursprüngliche Werte wie Solidarität und Spiritualität. Vielleicht kann das Christentum dieses Potenzial für einen Dialog mit dem Islam nutzen und eine aktive Vermittlerrolle zwischen den Kulturen wahrnehmen. Stilfragen sind nach dem 11. September politisch geworden und theologische Auseinandersetzungen auch keine akademische Übung mehr."

Weitere Artikel: Roman Hollenstein gratuliert dem Architekten Paolo Portoghesi zum Siebzigsten. Marion Löhndorf beschreibt die Spielzeiteröffnung in Nordrhein-Westfalen, die exemplarisch dafür sei, dass es mit der Spaßkultur vorbei ist: "Die deutschen Stadttheater sind wieder ganz bei sich selbst, schwelgen unangestrengt in Moll- und Kassandratönen: dem also, was sie von jeher aus dem Effeff beherrschen." Paul Jandl meldet, dass Claus Peymanns Dramaturg Hermann Beil nun doch nicht Leiter des Theaters in der Josefstadt wird, sondern Hans Gratzer. Und Joachim Güntner wünscht sich nach der Veröffentlichung des BKA-Gutachtens, wonach keine Indizien für eine Manipulation von Sebastian Haffners Manuskript zur "Geschichte eines Deutschen" gefunden wurden, dass "jene, die als Wissenschafter den schweren Vorwurf einer Textmanipulation erheben, bisweilen die dazu passenden Beweise sehen ließen."

Besprochen wird eine Ausstellung zum 100. Geburtstag von Jean Dubuffet im Pariser Centre Pompidou.

SZ, 02.11.2001

In der SZ bezeichnet der FDP-Politiker Burkhard Hirsch Otto Schilys Sicherheitspaket als einen Gesetzentwurf, "gegen den sich die Notstandsgesetze wie Träumereien am Kamin ausnehmen" und warnt eindringlich vor dem Überwachungsstaat: "Der Gesetzentwurf hat keinen Respekt vor der Rechtstradition unseres Landes, vor Würde und Privatheit seiner Bürger. Er verrät totalitären Geist." Für Hirsch ist der Entwurf allerdings nicht nur seinem Inhalt nach, "sondern auch in seiner gesetzestechnischen Systematik von erstaunlich schlechter Qualität. Seine Begründungen sind phrasenhaft und allgemein. Sie ersetzen Tatsachen durch Behauptungen oder verhüllen den Sinn des eigentlich Gewollten." Dies alles, so Hirsch, stellt uns vor die Frage, ob wir ein demokratischer Rechtsstaat bleiben. "Natürlich ist es eine wichtige Aufgabe des Staates, dem Bürger Sicherheit zu verschaffen. Das bedeutet aber nicht, dass der Staat seine Bürger behandeln darf wie verdächtige Straftäter."

Der Post geht's schlecht, meint Petra Steinberger, und so geht's dem Boten. "Als ob auf einmal jene andere, düstere Seite einer modernen Kommunikationsstruktur zum Vorschein käme, die Schattenseite der ununterbrochenen Zugänglichkeit: Sie enthüllt die totale Verletzlichkeit der Welt, in der sie funktioniert ? und auch die totale Verschwörungsangst, die dahinter liegt." Auf die Weise aber werde der Postbote wieder zu dem, was er zu Beginn der Postgeschichte, zu Zeiten des legendären Pony Express, gewesen sei: "sein eigener Begleitschutz, bereit den Tod zu riskieren, wenn er die Kommunikation aufrecht erhalten will."

Andere Artikel: Jörg Heiser macht sich mit uns auf einen Streifzug über die Art Cologne, Christiane Wirtz erklärt, was sich am Stiftungs-Privatrecht ändern soll, Ulrich Raulff schreibt zum Tod des Philosophen Dietmar Kamper, Peter Reichel denkt nach über Nürnberg als Gedächtnisort, Jens Bisky sagt, wie man in Potsdam die Encyclopedie feierte, Arno Orzessek verkündet die Eröffnung des Museums Rammelsberg, Andreas Bernard erblickt "Zeichen & Schriften" und fragt: Wer ist J. Mano aus der aktuellen Adidas-Werbekampagne? Und, apropos Ende der Spaßgesellschaft, auf einem New Yorker Benefizkonzert der Beastie Boys hat Andrian Kreye ein alter Schlachtruf wie Engelssang berauscht: "Fight for your Right to Party!"

Besprochen werden heute Filme von Bahman Ghobadis ("Zeit der trunkenen Pferde") und Alejandro Gonzales Inarritu ("Amores Perros"), eine Bonner Tagung, bei der sich alles um die Erde drehte, die Fotoausstellung "Nightscapes" im Stadthaus Ulm, sowie ein fetter Band über die Moskauer Metro und Klaus Günzels Studie über die Weimarer Dynastie (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 02.11.2001

Rolf Paasch berichtet von einem reichlich verwirrenden Gespräch mit pakistanischen Islamwissenschaftlern von der Universität Peschawar über die Glaubensgrundsätze des Islam, das unversehens zur "einseitigen Klage über die 'double standards' des Westens" geriet. Das Gespräch gipfelte in einer wilden Verschwörungstheorie über die Attentäter von New York: "Alle Indizien, sagen sie, deuteten auf eine Aktion des israelischen Geheimdienstes Mossad hin. Wurde nicht das erste Video vom Einschlag der Flugzeuge in die Türme des World Trade Center von einem Juden aufgenommen? Und warum fehlten die 4 000 dort gewöhnlich arbeitenden Juden ausgerechnet an diesem Tag an ihrem Arbeitsplatz? ... Die Beweisführung der Islamwissenschaftler ist induktiv: Wer profitiert am meisten von den Anschlägen? 'Israel.' Wem schaden sie am meisten? 'Pakistan.' Also muss es so gewesen sein. Oder?"

Weiteres: Peter Michalzik berichtet über die neue Intendantin des Frankfurter Schauspiels, Elisabeth Schweeger, und einen rätselhaften Theatervirus (siehe dazu auch den Beitrag von Peter Iden, der uns den infektiösen Spielplan vorstellt). Martina Meister liefert Eindrücke von der Präsentation einer neuen Auswahl der "Encyclopedie" Diderots und D'Alemberts im Potsdamer "Einstein Forum." Rudolf Maria Bergmann schließlich kündet von der Eröffnung eines enttäuschenden "Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände" in Nürnberg.

Und besprochen werden die Medienkunst-Schau "Avatare und Andere" im Edith-Ruß-Haus in Oldenburg sowie Filme auf der 39. Viennale, wo's u.a. eine interessante Retrospektive über das Kino Zentralasiens zu sehen gab.

TAZ, 02.11.2001

In der taz erinnert Christian Semler an die Anfänge der Anthropometrie. Die Lehre vom Zusammenhang von Charakter und Physis als statistische Erfassung von Verbrechern durch Profil, En-Face-Foto und bis zu einem Dutzend Merkmalen von gemessenen Gesichts- und Körperteilen bzw. deren Abständen nahm nach der Ermordung der österreichischen Kaiserin Elisabeth durch einen italienischen Anarchisten 1898 und der daraufhin einberufenen ersten Anti-Terror-Konferenz ihren Ausgang. "Heute hat die Biometrie das Erbe der Anthropometrie angetreten ... Vorfahren wie Enkeln ist aber ein Laster gemeinsam: der Sicherheitswahn und sein Sprössling, die Datenfresssucht, die erst mit der Erfassung der gesamten Bevölkerung gestillt ist."

Besprochen werden: neue Alben von Michael Jackson und Aphex Twin, das Jodel-TripHop-Akkordeon-Metal-"Schräg dahoam"-Festival in Bayern, die Ausstellung "Lebensbaum und Kalaschnikow" im Stuttgarter Lindenmuseum, auf der Teppiche aus Afghanistan zu sehen sind, die den Krieg gegen die Sowjetunion als geknüpfte Botschaft aus Kampfhubschraubern, MIGs und Panzern zeigen. Schließlich ? die Schonzeit ist um ? der Katastrophenknüller "Passwort: Swordfish" mit John Travolta.

Und natürlich Tom.