Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2001.

Zeit, 15.11.2001

Unter der Oberfläche islamistischer Gewalt, die im Westen das Bild beherrscht, gibt es in den islamischen Ländern längst ganz andere Tendenzen, berichtet Katajun Amirpur und stellt einige "religiöse Aufklärer" wie den Philosophen Abdel Karim Soroush und den Geistlichen Mohammad Schabestari vor, die gerade im Iran über die Vereinbarkeit von Islam mit Menschenrechten und Demokratie nachdenken: "Von den Glaubensregeln, die mit der Menschenwürde nicht vereinbar sind, trennen sich die religiösen Reformer bereitwillig. Fast alle Glaubensregeln, einschließlich der so genannten fünf Säulen des Islams, seien ohnehin nur die 'Haut', die die Religion nach außen hin zusammenhält, sie hätten gleichwohl nichts mit der eigentlichen Essenz der Religion zu tun.... Zwar gebiete der Islam das Tragen des Kopftuches durchaus, aber die Frau müsse es freiwillig tragen. Wolle sie das nicht, habe sie nicht gegen einen essenziellen Bestandteil der Religion verstoßen." Wohin derartige Toleranz führen kann, zeigt die neue Frontpage der Adresse Iranian.com!

Klaus Harpprecht antwortet auf Christoph Dieckmanns Klage über Israels "Selbsterwählungshybris", die ihm letzte Woche zum 9. November ausgerechnet in Auschwitz einfiel: "Die Eingebungen aber, die der Autor in jener düsteren Umwelt empfing, gerieten ihm zur merkwürdigsten 9.-November-Predigt, die sich jemals der Seele eines Erben der Pastoral-DDR entrang." Man muss sich allerdings auch fragen, was die Redaktion bewog, diesen Schmonzes auch noch zum Aufmacher zu machen.

Der libanesische Schriftsteller Elias Khoury erzählt, wie es heutzutage in Europa gerade den harmlos und ein wenig intellektuell aussehenden Arabern ergeht: Er wurde in seinem Hotelzimmer in Aix-en-Provence von der Polizei festgesetzt, die sich zwar höflich entschuldigte, den Verdacht aber nicht los wurde: "Auch du stehst plötzlich als unberechenbare Person da; fast beginnst du selbst dich als solche zu sehen."

Weiteres: Der Kulturhistoriker Dietrich Mühlberg fordert für den Berliner Schlossplatz eine "Lösung, die dem kollektiven Gedächtnis beider Seiten Möglichkeiten zur Identifikation bietet. Sie dürften sich eher in den Traditionen der demokratischen Bewegungen finden lassen als in dem ästhetischen Symbol der Macht, gegen die sie stritten." (Uns war gar nicht aufgefallen, dass das Schloss von einer demokratischen Bewegung gesprengt wurde!) Hanno Rauterberg schickt in der Serie über die EU-Beitrittskandidaten eine Reportage über die Kunstwelt in Slowenien. Thomas E. Schmidt schildert die verzweifelte Suche der Stadt Hamburg nach einem Kultursenator. Jens Jessen fühlt sich in einem Kommentar über das Treffen von Gerhard Schröder mit Intellektuellen durch Schröders "uneingeschränkte Solidarität" an die "Nibelungentreue" zu Österreich 1914 erinnert. Ulrich Stock porträtiert den New Yorker Gitarristen Marc Ribot. Thomas Assheuer warnt vor der Carl-Schmitt-Renaissance: Der "Realismus" des Denkers führe in die Irre. Und Paul Auster singt in der Leitglosse ein Loblied auf die Engelsgeduld der New Yorker.

Besprochen werden das Avantgardefestival euro-scene in Leipzig, die Ausstellung "Monets Vermächtnis" über Serien in der Kunst in Hamburg, Debütfilme von Benjamin Quabeck und Maria Speth, Francois Ozons Film "Unter dem Sand" mit Charlotte Rampling, Klaus Hubers Mandelstam-Oper "Schwarzerde" und die Ausstellung über viktorianische Akte in London.

Die Literaturseiten entfallen heute, statt dessen gibt es die zweite Literaturbeilage des Herbstes: 80 Seiten. Aufmacher: Dieter E. Zimmers Besprechung der beiden neuen Moby-Dick-Übersetzungen von Matthias Jendis und Friedhelm Rathjen. Wir werden die Beilage in den nächsten Tagen auswerten.

Hinzuweisen ist auch auf den Wirtschaftsteil, der ein Gespräch Jacqueline Henards mit Arundhati Roy bringt.

TAZ, 15.11.2001

Die taz dokumentiert die Rede Arundhati Roys vor der Academie universelle des cultures, deren Preis die indische Schriftstellerin kürzlich entgegennahm. Sie kommt hier auch noch mal die beiden aufsehen erregenden Essays zurück, die sie Anfang und Ende Oktober in Outlook India veröffentlichte: "Ich bin nicht gegen den Krieg in Afghanistan, weil ich vom Wesen her antiamerikanisch oder für die Taliban bin, sondern weil ich grundsätzlich gegen Gewalt bin. Ich glaube nicht, dass Krieg Terrorismus auslöschen kann. Ich glaube, er wird das Gegenteil bewirken. Ich bin gegen den Krieg, weil Millionen normaler Menschen, die keine Terroristen und keine Fundamentalisten sind, sondern die seit zwanzig Jahren einen brutalen Krieg ausgehalten haben, in der bitteren Winterkälte der afghanischen Berge langsam zu verhungern drohen." Wobei natürlich die freigeschossenen Straßen nun erst eine Versorgung ermöglichen!

Besprochen werden ein Band des Filmmagazins "Schnitt" zum 10. Todestag von Vilem Flusser, ein Konzert der Band Soft Cell in Berlin, die Debütfilme "In den Tag hinein" von Maria Speth und "Nichts bereuen" von Benjamin Quabeck und der Film "Metade Fumaca" von Riley Ip.

Schließlich Tom.

NZZ, 15.11.2001

In der NZZ überwiegen heute die Buchbesprechungen. Angela Schader stellt zwei Bücher über das finstere Gefängnis Tazmamart vor, in dem der marokkanische König einige Offizierskadetten verrotten ließ, die von ferne an einem Putschversuch gegen ihn beteiligt waren, eines davon von Tahar ben Jelloun, das andere ein authentischer Zeugenbericht, der nur auf französisch erschien. "Die schlichte Perfidie von Tazmamart bestand .. in ? nichts", schreibt Schader, "der fast völligen Absenz der Dinge. Im Fehlen von Licht, abgesehen von einem trüben Widerschein, der tagsüber gelegentlich vom Korridor her durch die engen Luftlöcher filterte. In mangelnder Frischluftzufuhr für Zellen, in denen Männer hockten, die während 18 Jahren keinen Waschzuber und keine Dusche sahen und ihre Notdurft über viel zu engen, immer wieder überquellenden Löchern im Boden verrichten mussten."

Hans-Peter Schmidt stellt ein ebenfalls nur in französisch erschienenes Buch vor, eine Neuübersetzung der Bibel durch 20 in Frankreich bekannte Schriftsteller ? einer der Bestseller der Saison in unserem Nachbarland. "So kritisch man diesem Projekt auch gegenüberstehen mag, man sollte sich nicht alle Bewunderung für dieses Werk ausreden lassen. Einige der interessantesten Schriftsteller der französischen Sprache haben mehr als fünf Jahre lang ihre schöpferische Energie und ihr Talent für eine Begegnung der zeitgenössischen Literatur mit dem historisch einflussreichsten Buch der Menschheit eingesetzt."

Weiteres: Hanno Helbling resümiert die zehnte Ordentliche Bischofssynode, die vier Wochen lang im Vatikan über die Kirchenstruktur nachdachte. Christian Gasser sieht die finnische Untergrundband 22 Pistepirkko auf dem Weg zum kommerziellen Durchbruch. Besprochen werden ein Werk von Thomas Ades in der Zürcher Tonhalle, und ? wie gesagt ? eine Menge Bücher, darunter ein Band mit Fotografien, die Auschwitz aufgefunden wurden, eine italienische Monografie über Giottos Kruzifix in Santa Maria Novella in Florenz, einige Literaturzeitschriften und Carsten Probsts Debut "Träumer". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FR, 15.11.2001

Der israelische Historiker Doron Rabinovic stellt zum 11. September ein paar fällige Fragen, die hoffentlich auch mal von den so dominierenden Globalisierungstheoretikern zur Kenntnis genommen werden: "Die Krisen in verschiedenen Teilen der muslimischen Welt und die Fehler westlicher Politik mögen die Hinwendung zu Extremismen anheizen, doch sie allein erklären nicht die Anziehungskraft einer Ideologie, die das Heil in einer Apokalypse, im Dschihad gegen das Abendland sucht. Wenn primär soziale Fragen die Massen in Aufruhr versetzten, wieso wenden sie sich nicht kommunistischen Gruppen zu? Warum gewinnen dann nicht jene Bewegungen an Kraft, die sich gegen die Globalisierung richten?"

Soll man oder soll man nicht? Ursula März schreibt über die in der Militärfrage ratlose Gesellschaft und leitet daraus die Erkenntnis ab, dass diese Ratlosigkeit "die treueste Begleiterin in der säkularisierten, entideologisierten Gesellschaft" zu sein scheint, die, über den Pragmatismus hinaus nicht genau wisse, woran sie sich im Zweifelsfall halten soll und auf ihre eigene Befreiung von Lagerdenken und Meinungszwängen zunehmend gereizt reagiere. Auch stellt Ursula März fest, dass man als Ratloser unter dem gegenwärtigen Zeitdruck an den kühlen knochentrockenen Referaten eines Militärexperten, der zumindest sachlich weiß, wovon er spricht, mehr interessiert ist, als an den Worten von Schriftstellern und Denkern, die notorisch pathetisch die Ablehnung des Krieges beschwören.

Außerdem: Harry Nutt ist der Festredner für das doppelte Biermann Jubiläum: Fünfundsechzigster Geburtstag und 25 Jahre Ausbürgerung. Eckhard Henscheid watscht wortreich Stephen Hawking und den ihn verlegenden Rowohlt-Verlag. Helmut Holzapfel berichtet über Tendenzen und Irrtümer in der Stadtplanung, über alte und neue Gründerzeit. Frank Keil schreibt über Kulturtechniken zum Umgang mit dem Tod im Kasseler Museum für Sepulkralkultur.

Besprochen werden eine Filmreihe mit frühen amerikanischen Experimentalfilmen, "Unseen Cinema" im Berliner Arsenal und im Filmmuseum Frankfurt, und eine Retrospektive des Fotografen Philippe Halsmann im Pariser Hotel de Sully.

FAZ, 15.11.2001

Marcin Kula, Professor für Soziologie und Geschichte an der Universität Warschau, fasst in knappen, klirrenden Worten die Folgen der Jedwabne-Debatte für das polnische Selbstverständnis zusammen. Sie sei für die Polen u.a. deshalb so schmerzhaft gewesen, weil sie den Verlust der Märtyrerkrone befürchteten, schreibt Kula, denn "unter Polen ist die Einstellung ziemlich verbreitet, sich selbst als ein durch Leiden besonders ausgezeichnetes Volk wahrzunehmen." Was die Folgen angeht, ist Kula zwiespältig: einerseits sieht er Fortschritte ? etwa bei der katholischen Kirche, die sich bei den Juden entschuldigt hat ? andererseits habe eine "Vertiefung der in Polen oft anzutreffenden Sichtweise stattgefunden, die zwischen 'polnisch' und 'jüdisch' unterscheidet". Dabei, so Kula, "scheint man zu vergessen, dass dieselben Menschen Polen und Juden gleichzeitig sein können".

Henning Ritter hadert beim Anblick der Grünen vor der Entscheidung über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan mit dem politischen Instrument der Gewissensentscheidung: "Das Gewissen ist für die letzten Dinge der Politik zuständig, für Überleben oder Untergehen. Das ist die politische Schwäche der Gewissensentscheidung. Wenn das Gewissen zu einem Vorwand oder Vorbehalt wird, der andere Gründe verschleiert, dann ist es schlecht bestellt nicht nur um den einzelnen, der zum Heuchler wird, sondern auch für die Politik, die nicht zum Sachverhalt vordringt."

Patrick Bahners steuert zur Gewissens- und Vertrauensfrage noch einige Sophistereien hinzu: "Insofern Gewissen und Vertrauen die Grenzen des Argumentierens bezeichnen, erscheint die Vertrauensfrage ebenso widersinnig wie die Gewissensprüfung. Nicht zufällig kennt die Sprache die Vertrauensantwort nicht."

Weitere Artikel: Michael Jeismann berichtet über einen Film, den der amerikanische History Channel im Dezember über das ? noch intakte ? WTC senden wollte und der nun die Frage aufwarf, wann eigentlich Geschichte beginnt. Christian Schwägerl wundert sich, dass die sonst so "lustfeindlichen" Grünen ausgerechnet am Dienstag, "inmitten einer Weltkrise" recht ausgelassen im Hamburger Bahnhof feierten. Mit "kurzberockten Tänzerinnen"! Teufel auch. Stefanie Peters schreibt über die Oktober-Ausgabe des Lifestylemagazins Wallpaper, dass das "junge, kapitalistische und moderne Polen" zum Trend erhoben hat. Stefan Weidner berichtet über einen Auftritt des arabischen Dichters Adonis am Berliner Wissenschaftskolleg. Stephan Sahm hat bioethische Zeitschriften gelesen. Gisa Funke war dabei, als in Frankfurt der "Writers in Prison" gedacht wurde. Dirk Schümer erklärt, warum es zugleich richtig und falsch ist, in Venedig einen Traum aus 1001 Nacht zu sehen.

In der Rubrik Natur und Wissenschaft klärt uns Günter Paul über den "Planetarischen Nebel" auf. Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über einen Postenschacher beim ZDF. Auf der Filmseite schreibt Dominik Graf über Gewalt im amerikanischen Kino nach dem 11. September. Außerdem wird die Berliner Marlene-Dietrich-Ausstellung besprochen. Auf der letzten Seite berichtet Karol Sauerland über ein Interview des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda in der Zeitschrift Rzeczpospolita, in dem er sich "äußerst kritisch über die geistige und politische Situation seines Landes äußert". Und schließlich beschreibt Siegfried Stadler, wie sich die Stadt Halle ihres DDR-Monuments "Fäuste" auf dem Bahnhofsvorplatz entledigen will.

Besprochen werden: die Ausstellung "Blut" in der Frankfurter Schirn und im Museum für angewandte Kunst, Adriana Hölszkys Oper ohne Text "Tragödia" im Berliner Hebbeltheater, drei Ausstellungen mit Roman Signer in Münster, Köln und Stommeln, Maria Speths Filmdebüt "In den Tag hinein", eine Ausstellung des Berliner Malers Martin Assig im Centro de Arte Reina Sofia in Madrid und eine Aufführung des Emerson String Quartetts in Badenweiler.

SZ, 15.11.2001

Poptheorethiker Martin Büsser rechnet mit dem Pop ab, den er spätestens seit Mitte der 90er Jahre auch mental in der Neuen Mitte angekommnen sieht. Dort zelebriere der Pop die Anpassung ans Prinzip der Überlegenheit, das "Survival of the Fittest", in Form von durchtrainierten Männerkörpern. "Die Diskussion um Rammsteins Riefenstahl-Video lenkte aber von der Tatsache ab, dass sich an der Band vor allem das neue Selbstverständnis des Pop drastisch zugespitzt ablesen lässt". Mal diene er als Soundtrack zur Selbstinszenierung jener freien Welt, "der beim Begriff Freiheit nur noch sexy Oberfläche, Kurzweil und Erfolg" einfallen würden, mal diene er "zur identifikationsstiftenden Abgrenzung, die inzwischen tendenziell eher rechts" verlaufe. "Das Ethos hinter Begriffen wie Subkultur und Independent, das über Jahrzehnte ­ womöglich seinerzeit schon einseitig idealisiert ­ für schwarze, homosexuelle oder feministische Interessen stand, ist längst von einer Haltung abgelöst worden, die Alternative mit den als bedroht empfundene Interessen des weißen, heterosexuellen Mannes gleichsetzt".

Franziska Augstein stellt fest, dass es bei der Vertrauensfrage des Kanzlers nicht um das Vertauen geht, das ihm selbst entgegengebracht wird. Vielmehr gehe es um das Vertrauen, dass die Abgeordneten in den Ratschluss der Vereinigten Staaten setzten sollen. Schröder verlange von den Parlamentariern, auf ein Jahr eine Militärpolitik zu sanktionieren, die er selbst nicht kenne. "Wenn die Bundesregierung schon an einem Krieg mitwirken will, sollten sie und das Land dann nicht erfahren dürfen, was genau die amerikanische Strategie und was die Kriegsziele sind?"

Weitere Artikel: Thomas Meyer resümiert eine Tagung über Juden und den Kommunismus in Leipzig. WTC und kein Ende - Michael Henry Adams erzählt noch einmal die Geschichte des World Trade Centers und denkt über die Zukunft von Ground Zero nach. Viele Hochhäuser Manhattens seien auf Friedhöfen gebaut, erfährt man. WTC-Pächter Larry Silverstein habe nun die Chance, New Yorker Baugeschichte wie Rockefeller zu schreiben: "Welch außerordentliche Gelegenheit, den neuen Schrecken abzuschütteln und ein unvergleichliches Monument der Entschlossenheit, Freiheit und Hoffnung zu errichten!" Holger Liebs schreibt über das Stockholmer Moderna Museet, das drei Jahre nach seiner Eröffnung wegen eklatanter Baumängel schließen muss.

Besprochen wird eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, die sich mit Europäischen Künstlerkolonien befasst. Der Rest ist Kino: Besprochen werden Robert Luketics Film "Legally Blonde" (es gibt auch ein Interview mit dem Regisseur), der Film "Scary Movie", und schließlich hat Rainer Gansera den Jungregisseur Benjamin Quabeck ("Nichts bereuen") interviewt.