Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2001. Die FR interviewt die indische Autorin Arundhati Roy, die ihre Amerikakritik wiederholt. In der FAZ denkt Erwin Chargaff über "seinen" 11. September nach. Die SZ wundert sich, dass die französischen Intellektuellen weniger über den Krieg klagen als die deutschen, und die NZZ ortet die Ursprünge des Terrorismus in Russland.

FAZ, 26.11.2001

Erwin Chargaff, der 95-jährige, in New York lebende Pionier der Genforschung denkt über "seinen 11. September" nach. Er kritisiert die USA und kommt zu dem Schluss: "In den hier besprochenen Vorgängen haben beide Seiten unrecht gehandelt. Die terroristische Protestaktion der neunzehn hat viele Tausende von Toten verursacht und ungezählte Hinterbliebene unglücklich gemacht; der in blinder Wut erfolgte Angriff auf Afghanistan hat das gleiche getan. Schuld wurde mit Schuld bezahlt, Tod mit Tod."

Auf der Medienseite beschreibt Julia Schürmann die von der amerikanischen Rand-Corporation formulierte Netzwerktheorie, nach der sich Terroristen in Netzwerken bewegen und nur durch Netzwerke bekämpft werden können. Unterschiedliche Arten von Netzen werden da definiert: "Ketten-Netze, bei denen die Kommunikation zwischen zwei Gliedern immer durch ein drittes hindurchmuss; Stern- oder Rad-Netze, die teilweise hierarchisch organisiert sind und bei denen die Akteure mit einer zentralen Figur, dem 'hub' verbunden sind, wie vermutlich bei bin Laden. Und schließlich 'all channel networks', bei denen jeder Knoten mit jedem verbunden ist."

Patrick Bahners würdigt den Historiker Wolfgang Reinhard, dessen "Geschichte der Staatsgewalt" vor zwei Jahren für einiges Aufsehen sorgte. Reinhard hat den Preis des Historischen Kollegs bekommen. Die FAZ publiziert seine Preisrede, in der Reinhard einmal mehr die "Volkssouveränität als juristische Fiktion" bloßstellt. "Dank Rousseau aber wurde die Staatsgewalt zum legitimatorischen Selbstversorger, entzog sich jedem Kontrollanspruch der Religion und der Untertanen. Künftig konnte sie selbst über ihre Kompetenzen entscheiden."

Weitere Artikel: Henning Ritter gratuliert dem Historiker Wolfgang Schivelbusch zum Sechzigsten. Andreas Rosenfelder denkt in einer Reihe über Tolkiens "Herrn der Ringe" über die dem Buch beigelegten Karten von Mittelerde nach. Jörg Magenau berichtet von der Verleihung des Kleistpreises an Judith Herrmann. Lucian Haas reümiert ein ein Symposion über grüne Gentechnik an der Universität Göttingen. Auf der Medienseite interviewt Michael Hanfeld den ARD-Intendanten Fritz Pleitgen, der einen Sonderstatus für Journalisten in Kriegen fordert, um sie besser vor Gewalt zu schützen. Außerdem schlägt Haneke den Gong zur nächsten Runde im Poker um die ZDF-Intendanz.

Auf der letzten Seite berichtet Klaus Stiersdorfer von der Einsetzung des neuen anglikanischen Bischofs von Gibraltar. Hans-Dieter Seidel porträtiert Peter Kremer, den Kommissar Siska aus der ZDF-Serie. Und Wolfgang Sandner weiß, dass Claudio Abbado in einem Streit gegen seinen inoffiziellen Biografen Christian Försch erste juristische Siege vorweisen kann.


Besprochen werden Werner Düggelins Inszenierung von Strindbergs "Unwetter" in Zürich (eine Wunder, nach Gerhard Stadelmaier), Martin Schläpfers Chroeogrpahien nach Musik von Alfred Schnittke in Mainz, eine Inszenieung von "La vie de Boheme" am Frankfurter Theater, die Ausstellung "Television - Kunst sieht fern" in der Kunsthalle Wien, Kerstin Spechts Stück "Marieluise" über Marieluise Fleißer in Ingolstadt und München, und ein Konzert des auf Tournee befindlichen Esbjörn Svensson Trios.

TAZ, 26.11.2001

Der letzte Montag im Monat ist Gabriele-Goettle-Tag. Die begnadete Reporterin porträtiert heute auf 916 Zeilen "Erwin Perzy (III.). Fabrikant von Schneekugeln, Reiseandenken, Neujahrsglücksbringern." Hier der Anfang ihres Artikels: "Die Schneekugelmanufaktur von Herrn Perzy liegt in Hernals, dem 17. Wiener Gemeindebezirk. Wir fahren mit der U6 bis zur Volksoper, von dort mit der Straßenbahnlinie 24 bis zur Klostergasse, spazieren vorbei am Haus der Barmherzigkeit, Spital des Lazaristenordens, entlang an den zusammenhängenden, balkonlosen Fassaden dreistöckiger Zinshäuser, die meisten aus der Zeit der Jahrhundertwende, gegliedert durch ein wenig Stuck, durch Simse und Sprossenfenster..." Den Rest sollten Sie ausdrucken und in der U-Bahn lesen!

Und hier noch Tom.
Stichwörter: Goettle, Gabriele, U-Bahn

FR, 26.11.2001

Anja Schöck und Nicole Dörr unterhalten sich mit der indischen Autorin Arundhati Roy, deren Amerika-kritische Debattenbeiträge in Outlook India (hier und hier) Furore machten. Sie bleibt ihrem Standpunkt treu: "1987 versuchte die UNO eine Resolution gegen Terrorismus zu verabschieden. Wer setzte dagegen sein Veto ein? Die Vereinigten Staaten von Amerika. Warum? Weil die Definition für Terrorismus vorsah, dass alle Organisationen, die ein rassistisches oder koloniales Regime bekämpfen, keine Terroristen sind. Das bezog sich auf den afrikanischen Nationalkongress in Südafrika. Aber die USA unterstützte das dortige Apartheid-Regime. Für mich ist auch Krieg Terrorismus."

Besprochen werden Kurt Weills Musical "Venus" in Berlin, "La vie de Boheme" nach Murger und Kaurismäki in Frankfurt und politische Bücher, darunter Ernst Fraenkels Analyse des NS-Staates, "Der Doppelstaat". (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 26.11.2001

In Frankreich ist alles anders, vermittelt uns Klaus Harpprecht heute: Keine meckernden Künstler, die wie Günter Grass den Staatschef wegen seiner Solidaritätsbekundungen mit den USA ohrfeigen, auch erklärt niemand Chirac zum Vasallen Bushs, schreibt Harprecht. Dabei hat die französische Armee im Gegensatz zur Bundesrepublik "die Rückkehr in die militärische Integration der Nato bis heute offiziell nicht vollzogen". Den Vereinigten Staaten beizustehen sei ein Akt "selbstverständlicher Solidarität". Stattdessen begnügen sich die Intellektuellen "mit rhetorischer Aufsässigkeit gegen den Großen Bruder, die sofort schweigt, wenn es ernst wird."

Der Soziologe Armin Nassehi (mehr hier) fühlt sich in der derzeitigen Diskussion über den Afghanistan-Krieg an Carl Schmitts These erinnert, dass Krieg eine "Politik generierende Funktion" hat: "Zum Staat (...) gehört (...) die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen." Nach Nassehis Meinung hat sich der Westen in Ermangelung eines "satisfaktionsfähigen, eines staatsförmigen Gegners" kurzerhand für Afghanistan entschieden. Nun, da der Krieg dem Ende zuneigt, hat der Westen Afghanistans innere Ordnung "am Hals", stellt Nassehi fest ? und ist "seines Gegners noch nicht einmal ansichtig geworden".

Gernot Sittner und Thomas Steinfeld haben den neuen Generalsekretär des Goethe-Instituts Joachim-Felix Leonhard interviewt. Dieser vermisst so einiges: Klare Zielvorgaben aus Berlin, ein gutes äußeres Erscheinungsbild des Instituts und Deutsche, die Fremdsprachen lernen.

Weitere Artikel: Alexander Hosch wünscht sich, dass München mit neuem Fußballstadion und BMW-Erlebniscenter doch noch zum Architekturvorbild wird. Jürgen Berger berichtet über den Streit Frankfurter Kulturpolitiker um die Finanzierung der städtischen Bühnen. W. S. informiert, dass Dirigent Kent Nagano auf der Suche nach "kreativen Partnern" ist. Alexander Kissler war bei der Jahrestagung der Ranke-Gesellschaft in Essen. Und Michael Ott beschäftigt sich mit einem Streit um Kafka-Faksimiles.

Besprochen werden ein Liederabend Franz Wittenbrinks an den Münchner Kammerspielen, ein Konzert von Yann Tiersen, dem Komponisten der Filmmusik von "Amelies Welt" in Berlin, eine Ausstellung über die Frauen Raffaels im Pariser Musee du Luxembourg und Bücher, darunter eine Paganini-Biografie (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 26.11.2001

Die russische Publizistin Marina Rumjanzewa schildert die Geburtststunde des modernen Terrorismus, dessen Ursprünge für sie ganz eindeutig in Russland liegen: "Im Frühling 1869 spricht beim legendären Anarchistenführer Michail Bakunin in Genf ein unbekannter Mann aus Russland vor. Er heisst Sergei Netschajew und soll jene Figur werden, die man heute als Pjotr Werhowenski aus Dostojewskis Roman 'Dämonen' kennt und den heutige Lexika als einen der Väter des modernen Terrorismus bezeichnen. Netschajew ist zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt, hat ein Jahr Universität hinter sich und ein Jahr Erfahrung in revolutionären Zellen. Kurz vor seiner Abreise hat er seinen Kameraden eine Verhaftung und Flucht aus dem Gefängnis vorgetäuscht. Er hat zudem ein Dokument bei sich, das ihn als Führer einer mächtigen russischen Geheimorganisation ausweist - alles fingiert und erfunden..." Man sollte wieder Dostojewski lesen in diesen Zeiten.

Weitere Artikel: Bernd Flessner warnt vor einer übersteigerten Sicherheitspolitik nach den Anschlägen. Jürgen Tietz meldet neue Hoffnung für die Hutfabrik Steinberg und Herrmann in Luckenwalde, ein Meisterwerk des Architekten Erich Mendelsohn, das zu verfallen drohte. Gieri Cavelty schreibt zum 200. Jubiläum der Herder-Verlags. Besprochen werden Konzerte des Ensemble Modern beim Basler Musikmonat, Werner Düggelins Inszenierung von Strindbergs Kammerspiel "Unwetter", Jazzkonzerte der Reihe "Piano" beim Lucerne Festival und ein Konzert Marek Janowskis in der Zürcher Tonhalle.