Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.12.2001. Die SZ druckt die Dankesrede von Richard Rorty für den Meister-Eckhart-Preis - er plädiert für eine Privatisierung der Religion. Die FAZ bringt die Laudatio von Jürgen Habermas. Die FR erklärt Osama bin Laden zur Popikone, die NZZ vergleicht Tertullian mit den Taliban und die taz macht sich Gedanken über den Adel.

TAZ, 04.12.2001

In der sechsten Folge der Serie zum Thema "Alter in der modernen Gesellschaft" analysieren Peter Fuchs und Jörg Mussmann das "ökonomisches Altenmanagement", das heutzutage die "menschliche Betreuung" ersetzt. Hier gibt es Vokabeln wie "Körperbewirtschaftungszeit" und "Körperversorgungsmutanten", die ihres Amtes walten. Die "Hölle", so die Autoren, ist die "große Hölle der gestohlenen Zeit, die zusammenschnurrt auf die Zeit der Ausübung von Pflegeoperationen". Dabei sei es doch eigentlich selbstverständlich, dass "Leute ... Respekt benötigen, Takt, Wertschätzung und Kommunikation".

Weitere Artikel: Jochen Schmidt macht sich Gedanken über Adel in Ost und West ("Sie essen wenig, neigen zu Schwermut und eigenartigen Hobbys"), Gabriele Hoffmann beschäftigt sich mit dem Künstlerhaus Stuttgart, das derzeit die Filme von Harun Farocki zeigt, und Tom Holert räsoniert über "Warholizität" anlässlich der Berliner Retrospektive des Künstlers.

Besprechungen widmen sich heute "literarischen Unbestimmtheitsrelationen" respektive drei Büchern über den Physiker Werner Heisenberg, und in einer Taschenbuchsammelrezension werden Biografien von Jung, Freud und Breuer besprochen.

Und hier wie immer TOM.

SZ, 04.12.2001

Richard Rorty wundert sich in seiner Rede anlässlich der Entgegennahme des Meister-Eckhart-Preises, dass einer, der sich "gelegentlich selbst als Atheisten beschrieben hat", diesen Preis bekommt. Und thematisiert in seinem Text wohl gerade deshalb die in der philosophischen Diskussion marginal gewordene "Auseinandersetzung zwischen Theismus und Atheismus". Er setzt sich dazu mit den Thesen des italienischen Gegenwartsphilosophen Gianni Vattimo und vor allem dessen Begriff des "Heiligen" auseinander. Rorty plädiert für eine "Privatisierung" religiöser Empfindungen: als Chance, dass deren Fehlen nicht mehr als "Vulgarität" und ihr Vorhandensein nicht mehr als "Feigheit" gedeutet werden.

Ein Bericht informiert uns über einen Vortrag, den der Kulturwissenschaftler Edward Said im Rahmen der "Berliner Lektionen" hielt. Er verwies darin erneut darauf, dass es ohne Friede in Israel keine Lösung in Afghanistan geben könne. Ein Ende des Konflikt sieht er nicht: "Die endlose Wiederholung macht uns alle krank." Petra Steinberger nimmt die Terrorwelle vom Wochenende in Israel zum Anlass, noch einmal verschiedene Lösungsmöglichkeiten durchzubuchstabieren. Auch in ihrem Fazit "bleibt weiterhin nur der fast schon verzweifelt irrationale Glaube daran, dass ... sich im Nahem Osten etwas durchsetzen möge wie common sense."

Weitere Artikel: Konrad Lischka erklärt, warum "Smallville", eine neue Fernsehserie über die Jugend von Superman, in Amerika so erfolgreich ist. Sabine Leucht liefert einen Nachklapp auf das Münchner Spielart-Festival. Claudia Benthien berichtet über die Tagung zum Thema "Rituale" in Berlin. Andrian Kreye enthüllt die Pentagon-Unterstützung für den Film "Behind Enemy Lines", Ilja Braun berichtet von einem niederländischen Verlag, dem die Autoren weglaufen, und Erwähnung findet auch eine akademische Feier zum 50. Jahrestag der Promotion Siegfried Unselds in Tübingen. Außerdem erfahren wir, dass der britische Architekturkritiker und Ausstellungsmacher Deyan Sudjic die Architektur-Biennale 2002 in Venedig ausrichten wird.

Besprochen werden der Kinothriller "The Glass House", eine Ausstellung mit Afghanistan-Fotografien von Irwin Dermers im Lindenmuseum Stuttgart, Meryl Tankards Tanztheaterstück "Merryland" in Den Haag und Bücher, darunter der neuen Roman von Petra Morsbach und eine Kulturgeschichte über den Schwindel (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 04.12.2001

Karl-Heinz Ott erinnert an den frühen Christen Tertullian, dessen Pamphlete ihn an die heutigen Taliban erinnern. "Während er die weltliche Dichtung, alle Tragödien, Komödien und Epen ohne jede Differenzierung als die Seele und den Geist ruinierende Fabeln abkanzelt, weiss er mit Gewissheit, dass sein Straf- und Vernichtungsszenarium die reine, von keinerlei panischen Phantasien geleitete Wahrheit ist. Wie die islamischen Assassinen ruft er zum glorreichen Märtyrertod auf, der ihm als das endgültige und kostenlose 'Circusspiel' auf dieser Erde gilt: 'Erhebe dich beim Zeichen Gottes, stehe aufrecht zur Trompete des Engels, rühme dich der Siegeszweige des Martyriums!' ('ad martyrii palmas gloriare')." Sind denn bei Terullian denn auch die im Islam so beliebten Paradiesjüngferchen vorgesehen?

Besprochen werden die große Ausstellung über Van Gogh und Gauguin in Chicago, das Holland Dance Festival, eine Wiener Tagung über das Jahrhundert der Avantgarden und einige Bücher, darunter eine Monografie über den Architekten Arne Jacobsen, neue Gedichte von Christian Saalberg und Susanne Riedels Roman "Die Endlichkeit des Lichts" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 04.12.2001

Der Politikwissenschaftler Farish A. Noor vom Institute of Strategic and International Studies (ISIS) in Malaysia erklärt, warum die neue Mode in Asien, T-Shirts mit dem Konterfei Osama Bin Ladens zu tragen, letztlich nichts zu bedeuten hat: "Blickt man aufs konkrete Detail, hat Osama nirgends auch nur den Anhauch des Greifbaren zu melden oder zu bedeuten. Genau wie das Abbild des finster blickenden Che Guevara, der über die Jahre hinweg Tausenden von jungen Europäern als Ikone der Revolution galt, ist Osama bin Laden zu einer inhaltsleeren Größe geworden, der man statt Inhalten Romantik und Legenden überstülpt."
 
Roman Luckscheiter fasst die Diskussion der französischen Intellektuellen über den Krieg in Afghanistan zusammen: "eine nationale Nabelschau". Nur Michel Houellebecq soll mal wieder eine brauchbare Idee gehabt haben."Statt Bomben sollte man über Afghanistan einfach Miniröcke abwerfen. Dem Karikaturisten der Satirezeitschrift Le Canard enchaine scheint die Idee unmittelbar eingeleuchtet zu haben. Er zeichnete Mitarbeiter einer humanitären Hilfsorganisation, wie sie gerade diskutieren, ob nun Nahrungsmittel, Bikinis oder Rasiermesser zu verteilen seien."

Weitere Artikel: Walter Prigge, der stellvertretende Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau (mehr hier) kündigt die Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt (IBA STADT BAUHAUS) bis 2010 an. Ihr Thema: die posturbane Stadt, ihr Motto: "Das Schrumpfen muss gestaltet werden". Martina Meister berichtet über die Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an Richard Rorty, Daniel Kothenschulte schreibt schreibt den Nachruf auf Budd Boetticher, und Marietta Piekenbrock weiht uns in die Ingolstädter Würdigungsmaßnahmen anlässlich des 100. Geburtstags von Marieluise Fleißer ein.

Besprochen werden eine von Magnum-Fotografen zusammengestellte Ausstellung in New York, die dem Anschlag auf das World Trade Center gewidmet ist. Vorgestellt werden außerdem die beiden Bände "Havard Guide to Shopping" und "Great Leap Forward" von Rem Koolhaas, in denen er Einkaufen zu einer "fundamentalen Seinsweise" erklärt. Und schließlich gibt es noch Besprechungen der "Orestie" des Aischylos in Hannover, und Inszenierungen von "Richard III" in Köln und einer "Verkauften Braut" in Heidelberg.

FAZ, 04.12.2001

David Grossmann schildert die verzweifelte Stimmung in Israel und fragt: "Wie kann man Arafat motivieren, weniger zu reden und mehr zu handeln, und wie bringt man Israel dazu, weniger zu handeln und mehr zu reden?" Aber Grossmann erklärt der Weltöffentlichkeit auch, dass es schwer ist, mit Arafat zu reden: "Arafat, der - durch Israel vom Vorhandensein eines effizienten Sprengstofflabors in Nablus unterrichtet - die Sprengstoffvorräte konfisziert und die Terroristen umgehend wieder auf freien Fuß setzt. Arafat, der unablässig von seiner Antiterrorhaltung redet, es aber aufgrund von Kurzsicht und Feigheit unterläßt, endlich mutig den Kampf gegen die terroristischen Elemente in der palästinensischen Autonomieführung aufzunehmen, und nicht begreift, dass sie es sind, die seinem großen Traum und womöglich auch ihm selbst letztlich den Garaus machen werden."

Lorenz Jäger stellt anhand der ZDF-Serie über die Vertreibung der Deutschen fest, dass sich das Klima gegenüber dem Thema geändert hat. Das hat allerdings Grenzen, wie er an der Figur des Historikers und Völkerrechtlers Alfred de Zayas festmacht, der gerade den Preis einer von Jäger nicht benannten "rechtskonservativen Stiftung" bekommen hat: "Sein Buch 'Die Angloamerikaner und die Vertreibung der Deutschen' hat sich seit dem Erscheinen als Dauererfolg erwiesen und mehrfach Neuauflagen erlebt. Aber de Zayas gilt als riskant. Er spricht ohne Umschweife von alliierten Kriegsverbrechen, wo er auf sie stößt. Wer gelegentlich mit Historikern diskutiert, kann es erleben, daß der smart set der Disziplin die Augenbrauen hochzieht, wenn der Name de Zayas fällt. Aber man hört bei solchen Gelegenheiten selten eine triftige Widerlegung seiner Tatsachenbehauptungen, sondern wird eher getadelt, weil man mit einem unkorrekten Buch erwischt wurde." Und wie heißt nun diese rechtskonservative Stiftung? (Zeitgeschichtliche Forschungsstelle Ingolstadt, ZFI, hat uns der Autor inzwischen gemailt.)

Weiteres: Christian Geyer würdigt Richard Rorty, der den mit 50.000 Euro dotierten Meister-Eckhart-Preis der Identity Foundation erhalten hat. Abgedruckt wird auch Jürgen Habermas' Laudatio auf Rorty aus diesem Anlass. Paul Ingendaay beschreibt die Situation im Prado, der bedeutendsten spanischen Kulturinstitution nach dem Rücktritt ihres Leiters Fernando Checa. Hanns C. Löhr freut sich, dass einer der seltenen profanen Bauten im Osten Brandenburgs, der Speicher von Lietzen nun restauriert wird. Auf der Medienseite erzählt Jochen A. Siegle eine Recherche der Newsweek über die couragierten Passagiere an Bord der United Airlines 93 nach - also des Flugzeugs, das am 11. September in Pennsylvania abstürzte. Gina Thomas schreibt zum Tod der britischen Moralapostelin Mary Whitehouse. Und Joseph Croitoru berichtet über eine Öffentlichkeitsoffensive der Israelis, die der Welt ihr Leiden unter dem Terror verständlich machen will.

Ferner erinnert auf der Bücher-und-Themen-Seite Richard Stäblein an den Märchenerzähler Ludwig Bechstein. Auf der letzten Seite berichtet Stefanie über eine deutsch-polnische Kunstaktion an der Grenze. Edo Reents porträtiert den auf Deutschland-Tournee befindlichen Elton John. Und Frank Ebbinghaus weist Edzard Reuter nach, dass er Walther Rathenau, den er in einem Festvortrag zu würdigen hatte, völlig missversteht.

Besprochen werden ein "Richard III." in Köln, das Musical "Der König der Löwen" in Hamburg, die Ausstellung "New Heimat" im Frankfurter Kunstverein, eine Ausstellung mit spanischer Fotografie im Münchner Instituto Cervantes, das AvantgardeFestival Wien modern, eine "Orestie" in Hannover und die britische Band "Bush" (mehr hier) auf Welttournee. Außerdem gibt es 32 Seiten Literaturbeilage. Aufmacher ist ein Essay von Raymond Carver über seinen Vater.