Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2001. Große Aufregung: Heute wird das Literarische Quartett beerdigt. Die Zeitungen platzen fast aus den Nähten vor lauter Nachrufen. In der FAZ meditieren vier besprochene und vier beschwiegene Autoren und die taz bringt einen schrrrecklich herrrlichen O-Ton.

NZZ, 14.12.2001

Hilmar Poganatz liefert eine Reportage über ein Treffen des kubanischen Journalisten Jose Fornaris mit einem deutschen Reporter. Kuba sei laut der Organisation "Reporter ohne Grenzen" (ROG), das einzige lateinamerikanische Land, in dem Journalisten Gefängnisstrafen verbüßen müssen, berichtet Poganatz. Fornaris, der für die Internetseite www.cubanet.org schreibt, ist sich sicher, dass das Internet in Zukunft zunehmend an Einfluss gewinnen wird: "Zwar hat Castro verkündet, dass bald alle Kubaner Internetzugang haben sollen; tatsächlich hat jedoch nicht einmal ein halbes Prozent diese Möglichkeit. Trotzdem schwört die Opposition auf das unbekannte Wesen World Wide Web."

Joachim Güntner berichtet, wie aufgeregt die Ergebnisse der Pisa-Studie im "Land der Dichter und Denker" aufgenommen und diskutiert würden: "Es wird ein Weilchen dauern, bis man in Deutschland bei "Pisa" wieder an Italiens schiefen Turm statt an die Schieflage der deutschen Schulbildung denkt", meint Güntner. Selbstbewusste Bildungspolitiker fühlen sich jetzt bestätigt, schreibt Güntner, denn "Spaßschule", "Kuschelpädagogik", aber selbst "Eliteförderung" - wohin soll das schon führen?

Die Verhandlungen über Kulturgüter aus Museen und Bibliotheken Polens, die während der deutschen und sowjetischen Besatzung verloren gingen, sind noch immer nicht abgeschlossen, informiert Gerhard Gnauck: Die polnische Regierung dokumentiert durch Krieg oder Diebstahl vermisste polnische Kulturgüter auf der Internetseite www.icons.pl.

Angelika Overath hat den Archivar Dr. Thomas Scheuffelen besucht, den Leiter der "Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg im Schiller-Nationalmuseum". Sein persönliches Lieblingsmuseum? Der Hölderlinturm.

FR, 14.12.2001

Auch die FR trauert um das Literarische Quartett. Marius Meller trauert sogar gleich um den ganzen MRR, diesen "Virtuosen des Pensionärsdaseins", weil der nämlich zwar künftig weiter im TV über Literatur dozieren wird, allerdings solo, im "perpetuierten Interview seines sich aller medialen Kokons allmählich entblätternden Ichs". Im Quartett dagegen, so Meller, entfaltete sich die Funktion MRR. Und zwar als erste Geige: "Starke G-Seite, hat alles fest im Griff. Überhaupt werden Bordune auf leeren Seiten bevorzugt, fortissimo. Klingt trotz des wie Klezmer swingenden Sounds immer stark nach 19. Jahrhundert (Chopin?). Effektvolle Abkadenzierung stets nach lang stehender Dominante mit Septe (rhetorische Fragen). Pointenselige Motivfolge. Übrigens der musikantischste Part des Quartetts. Kommt über die dritte Lage nicht hinaus, was keiner vermisst, weil die G-Seite so schön klingt." Was zweite Geige, Cello und Bratsche so hergaben ? hier steht's.

Wehmut über das Scheiden des flotten Literatur-Vierers auch bei Wladimir Kaminer. Kaminer hat das Quartett zwar nur ein einziges Mal gesehn (pfui), sich aber dafür den ganzen von MRR empfohlenen "Spiegel"-Kanon zugelegt und fragt sich jetzt, ob er das noch alles "weglesen" soll, wo die Schule doch sowieso dichtmacht.

Weiteres: Gemma Pörzgen dokumentiert erste Annäherungsversuche zwischen Jugoslawien und Kroatien, Hubertus Adam ist ganz glücklich über ein Laborgebäude, das der niederländische Architekt Ben van Berkel in Utrecht gebaut hat, Anne Ponger berichtet von einer Heine-Tagung in Jerusalem, Hans-Jürgen Linke freut sich über das 22. Hofheimer Jazzfest, das mit sechsjähriger Verspätung endlich wieder stattfinden konnte, Burkhard Brunn schreibt zum Tod des Museumsmannes Eugen Thiemann. Und im Interview erklärt Elfriede Jelinek, warum sie Marlowes antisemitisches Stück "Der Jude von Malta" für Zadeks Burginszenierung bearbeitet hat: "Wenn man die Geschichte Deutschlands und Österreichs sozusagen auf seinem Rücken trägt, wie jeder hier, muss einen Antisemitismus interessieren."

Besprechungen gibt es zu der Ausstellung "Televisions" in der Wiener Kunsthalle, wo's um, genau, um die Glotze geht, und ein tapferer FR-Mitarbeiter hat die "Factory", Igor Bauersimas theatrale Medienkritik, in Zürich getestet.

TAZ, 14.12.2001

Das Thema des Tages widmet sich u.a. dem Literarischen Quartett, das heute seinen letzten Auftritt hat. Für alle, die es vergessen haben, erklärt Dirk Knipphals noch mal, worum es in der fröhlichen Runde eigentlich ging: "Survival of the fittest: Der Schnellere, Lautere, Lustigere macht den Stich." Gut so, denn "weihevolles Sprechen über Literatur war so jedenfalls nicht möglich". Und die von vielen gefürchtete Macht des Quartetts war ja auch nicht hausgemacht. "Sie wurde ihm von den Buchverlagen - und zwar auch von den renommierten ? angetragen ... der Kampf um die Plätze der besprochenen Bücher muss mit allem Ellenbogeneinsatz ausgefochten worden sein." Aber wie auch immer, eins, meint Knipphals, ist doch sicher: "Wenn die heutige Folge über den Sender gegangen sein wird, wird es im Fernsehen ruhiger werden um die Literatur." Einen schrrrecklich herrrlichen O-Ton gibt es zum Abschied dazu.

Und im Kulturteil erklärt uns Daniel Bax das Fado-Gefühl und stellt uns die unkonventionellen Nachfolgerinnen der legendären Fado-Sängerin Amalia Rodrigues vor, Thomas Winkler bespricht neue Alben der beiden "Superproduzenten" Dr. Dre und Timbaland, Brigitte Werneburg über das Buchprojekt "Pass The Bitch Chicken" des Künstlers Christopher Wool und des Filmemachers Harmony Korine, Arno Frank hat sich bei Cypress Hill ("Stoned Raiders") und Afroman ("The Good Times") einmal mehr angehört, wie's klingt, wenn man high ist. Und Florian Malzacher berichtet vom Frankfurter Plateaux-Festival für internationale junge Regie.

Schließlich Tom.

FAZ, 14.12.2001

Heute erhält das Literarische Quartett im Schloss Bellevue sein Staatsbegräbnis erster Klasse. Der Bundespräsident soll sogar einleitende Worte sprechen! Auf Seite 3 des FAZ-Feuilletons prangt die große Anzeige des ZDF: "Das Literarische Quartett, 22.15 Uhr, mit Marcel Reich-Ranicki." Die anderen sind keiner Erwähnung wert. Um welche Bücher es gehen wird, haben wir bereits in den Buchmachern angekündigt.

Die FAZ bringt eine ganze Seite aus dem Anlass: Vier "besprochene" und vier "beschwiegene" Autoren schreiben Nachrufe. "Dabei sein war alles!", ruft Georg Klein, dessen Roman Barbar Rosa zwar einmal auf der Liste des Quartetts stand, aber in nur in einigen Worten abgefertigt wurde. Felicitas Hoppe schreibt: "Ein Segen, fürs erste unbesprochen über die Erde zu wandern." Der "besprochene" Ingo Schulze erinnert sich: "Ich habe mich immer für das Quartett interessiert, es aber nahezu kontinuierlich verpasst." So ging es wohl vielen. Weitere Autoren des im Netz leider nicht freigeschalteten Dossiers sind Cees Nooteboom, Günther Rühle (der Herausgeber der Kerr-Tagebücher), Jenny Erpenbeck, Thomas Hettche und Martin Mosebach.

Auf der Medienseite fragt sich Tilman Spreckelsen, was wohl nach dem Quartett kommen wird - offensichtlich bereitet die ARD eine neue Sendung unter dem Titel Drucksache vor - es wird sich dabei aber nicht um eine Diskussion unter Kritikern handeln.Wir stellen heute Vormittag ein kleines Dossier zu den besprochenen Büchern zusammen. Und morgen Vormittag, um 11, schickt dann Arno Widmann seinen Nachruf.

Jürg Altwegg beschreibt Frankreich nach dem 11. September: "Die Anschläge in New York haben Frankreich in einen gleichzeitig realen und irrationalen Taumel der Unsicherheit gestürzt. Wochenlang zirkulierten nach der Explosion einer Chemiefabrik in Toulouse die wildesten Gerüchte. Sogar einen möglichen Täter präsentierten durchaus seriöse Medien. Es handelte sich um einen Araber, der die Gewohnheit hat, bis zu vier Unterhosen zu tragen. Renommierte Islam-Experten wurden gefragt, ob es sich dabei um ein Reinheitsgebot oder sonstiges Ritual für Terroristen des Heiligen Kriegs handeln könnte."

Weitere Artikel: Maja Turowskaja erzählt, warum eine von Temur Tschcheidse inszenierte "Antigone" Moskau erregt: Kreon wird hier nämlich nicht als "kleinbürgerlicher Vernünftling" dargestellt, sondern als "pragmatischer Staatsmann, der im korrumpierten Theater wenigstens ein bisschen Ordnung schaffen möchte". Achim Bahnen berichtet über eine Diskussion zu "Visionen vom optimierten Menschen" mit dem Biophysiker Gregory Stock und Peter Sloterdijk in Düsseldorf. Joseph Croitoru hat israelische und palästinensische Zeitungen zur jüngsten Eskalation im Nahen Osten gelesen. Lorenz Jäger schreibt in einem Tagebuch über das Fernsehinterview, das Günter Gaus mit Christian Klar führte (wird am 23.12. um 23.40 Uhr auf 3sat wiederholt). Siegfried Stadler würdigt die Restaurierung der Villa Esche in Chemnitz.

Weiter meldet Walter Haubrich die Verleihung des Cervantes-Preises an den kolumbianischen Schriftsteller Alvaro Mutis. Elmar Schenkel schreibt den Nachruf auf den Anglisten Willi Erzgräber, und Eleonore Büning schreibt den Nachruf auf den Dirigenten Heinz Rögner.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen der deutschen Romantiker aus der Wiener Akademie im Winckelmann-Museum in Stendal, Gerhard Schedls Kinderoper "Der Schweinehirt" in Stuttgart, die Uraufführung von Igor Bauersimas neuem Stück "Factory" in Zürich, Stefan Ruzowitzkys Filmkomödie "Die Männer Ihrer Majestät". Auf der Schallplatten und Phono Seite werden Aufnahmen mit Orgelmusik aus Israel, Schumann-Lieder mit Christoph Pregardien und Michael Gees, und eine CD der Kölner Band "Workshop" vorgestellt.

SZ, 14.12.2001

Das Quartett ist so wichtig, dass die SZ sogar ihre Seite 3 freigeräumt hat, sonst Wichitgerem als der Kultur gewidmet ist. Evely Roll schreibt eine launige Reportage über MRR und erzählt auch die Geschichte von Frank Schirrmacher und dem hohen Blutdruck: "Wie er, Schirrmacher, da in Frankfurt die Treppe hochgestürmt sei, um nach einem schweren Streit mit Reich-Ranicki ein Versöhnungsangebot zu machen. Wie Reich-Ranicki ihn oben an der Tür mit einem Blutdruck-Messgerät empfangen habe. Wie Schirrmachers Blutdruck dann leider 210 zu 120 gewesen sei und er sich schon ganz elend und nach Notarzt gefühlt habe."
Und das Feuilleton? Aus New York berichtet Andrian Kreye von einer "Conversation With Susan Sontag" an der New York University und wundert sich über das starke Interesse einer Generation, der offenbar die kritischen Leitfiguren fehlen. "Es ist nicht so, dass es in der Generation der 20- bis 40-Jährigen keine kritischen Intellektuellen gäbe, nur spielen sie in den USA publizistisch kaum eine Rolle." Selbst die Vertreter der sogenannten "Third Culure", wie Stephen Hawking und Jaron Lanier, so Kreye, richten gegen die staatstragenden Affirmationen der etablierten Meinungsartikler nichts aus und zeigen sich seit dem 11. September eher ratlos. Dies zeigte sich besonders in den Beiträgen der Third Culture bei edge.org. "Es wird in der nahen Zukunft viel Mut dazu gehören, sich in den USA als kritische Stimme zu etablieren", meint Kreye. Susan Sontag dagegen ? und das erstaunt doch, schließlich hatte ihr die Kritik an der Kriegstreiberei ihres Landes Morddrohungen eingebracht ? bleibt Optimistin: "Immer wenn etwas passiert, heißt es, dass Amerika seine Unschuld verliert, dass nichts mehr so sein wird wie vorher. Das war schon nach dem Mord an Kennedy so. Und dann war natürlich trotzdem alles wieder so wie vorher."

Und außerdem: Bernd Graff erzählt, wie Peter Sloterdijk auf einer Tagung in Düsseldorf die Zivilisation entsorgte. Sonja Zekri stellt die Staatliche Sammlung der Arktis und Antarktis in St. Petersburg vor (brr). Burkhard Müller-Ullrich hat auf der Pariser Literaturmesse "Salon Saveurs" mehr gegessen als gelesen. Andreas Wilink staunt über den Spagat Gerard Mortiers zwischen Ruhr-Triennale und Pariser Oper. Verwundert ist auch Raphael Honigstein und zwar über den Erfolg des österreichischen Exportstars DJ Ötzi. Reinhard J. Brembeck sagt, wie Klaus Schultz den Bayreuther Burgfrieden retten soll. Stefan Koldehoff war auf einer Kölner Tagung zum Thema "Raubkunst". Eva Marz hat den Greenpeace-Aktivisten Thilo Bode über die Wechselbeziehung von Globalisierung und Terror sprechen hören. Und weil sich das Literarische Quartett in seiner letzten Vorstellung den Werther vornimmt, hat die SZ für uns einmal die gänzlich unbekannten Briefe des Werther-Freundes Wilhelm aufgestöbert.

Besprochen werden schließlich Verdis "Troubadour" in Stuttgart, Albrecht Hirches Inszenierung der "Heroen des Abseitigen" in den Berliner Sophiensälen, Stefan Ruzowitzkys Kinostreifen "Die Männer Ihrer Majestät". Und Bücher: Eine Einführung in das Denken Amitai Etzionis, der Roman "Miss Bukarest" des rumäniendeutschen Schriftstellers Richard Wagner sowie ? für Nimmermüde ?das "Literarische Quartett" als Hörbuch (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).