Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.12.2001. Die FAZ schreibt über einen umstrittenen türkischen Film, die FR beschreibt die Angst der Deutschen vor Amerika und in der NZZ lernen wir den Vogelpfleger des afghanischen Königs kennen.

TAZ, 29.12.2001

Die taz hat einen Text des französischen Philosophen Michel de Certeau aus dem Jahr 1988 über das World Trade Center entdeckt: "Im Gegensatz zu Rom hat New York niemals die Kunst des Alterns und des spielerischen Umgangs mit den Vergangenheiten erlernt. Seine Gegenwart wird von Stunde zu Stunde erfunden, indem das Vorhandene verworfen und das Zukünftige herausgefordert wird. Eine Stadt, die aus paroxystischen Orten in Form von monumentalen Reliefs besteht. Der Betrachter kann hier in einem Universum lesen, das höchste Lust hervorruft. Dort stehen die architektonischen Figuren der coincidentia oppositorum geschrieben, die früher in mystischen Miniaturen und Textgeweben entworfen worden sind. Auf dieser Bühne aus Beton, Stahl und Glas, die von einem eisigen Gewässer zwischen zwei Ozeanen (dem atlantischen und dem amerikanischen) herausgeschnitten wird, bilden die größten Schriftzeichen der Welt eine gigantische Rhetorik des Exzesses an Verschwendung und Produktion." Stefan Reinecke hat die neueste Ausgabe der Zeitschrift "Berliner Republik"( hier mehr). Gerrit Bartels untersucht in seiner "Checkliste Medizin" diesmal den Alkoholismus. Das taz.mag erscheint mit seiner 222. Ausgabe als bunteste aller Wundertüten und mit vielen Fragen: Was ist Anstand? Was ist Staub? Wie geht Vergessen? Und schließlich Tom.

FAZ, 29.12.2001

Eine interessante Geschichte aus der Türkei erzählt Rainer Hermann auf der letzten Seite des Feuilletons. Dort hat der Film "Frau Salkims Perlen", der bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden war, heftigen Streit ausgelöst, nachdem er im staatlichen Fernsehen lief. Der Film schildert, wie die Türkei 1942 mit der konfiskatorischen Vermögenssteuer die nichtmuslimische Minderheiten aus Wirtschaft und Handel verdrängte. Viele der veranlagten Juden, Armenier und Griechen konnten die Steuern nicht aufbringen und wurden in das Arbeitslager Aksale deportiert. Dem Film und dem Autor der Romanvorlage, dem Minister Yilmaz Karakoyunlu, wurde jetzt von Rechten und Linken "Vaterlandsverrat" vorgeworfen. Die Geschichte nimmt eine überraschende Wendung, als der Autor seine Gegner mit einem unerwartet rassistischen Argument verwirrt. Aber lesen Sie selbst...

Weitere Artikel: Der kasachische Regisseur Dareshan Omirbajew stellt in der Reihe "Afghanistans Nachbarn" viele Fragen. Er beginnt mit "Das am elften September in Amerika Geschehene - was ist es?" und endet mit "Lässt sich das alles in einem Film verwerten?". Abgedruckt ist die Laudatio von Günter Grass auf den Grimmelshausen-Preisträger Adolf Muschg. Joseph Croitoru wirft einen Blick in osteuropäische Zeitschriften, die sich mit Mitteleuropa beschäftigen. Dietmar Polaczek berichtet über ein neues Museum, das unter Santa Maria Maggiore in Rom eingerichtet wurde. Auf der Medienseite erzählt Jürg Altwegg von einem Streit in Frankreich über das Urheberrecht. Es geht um die Frage, ob "Popstars", der Nachfolger von Loft Story (das französische Big Brother), schlicht Kommerz ist oder eine schöpferische Leistung, die die Bezeichnung Werk verdient (und in diesem Fall staatliche Subventionen erhalten dürfte). Und Paul Ingendaay schreibt aus Havanna über die Zeitung Granma, die die Internationale hochhält.

Reinhard Kager gratuliert Marcel Prawy zum 90. Geburtstag, Günther Rühle gratuliert Walter Huder zum 80. Geburtstag, Alexander Kluge schreibt den Nachruf auf den Universitätskurator Friedrich Rau, Gerhard Stadelmeier schreibt den Nachruf auf den Theaterdenker Jan Kott.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken des Malers Bruno Goller in Krefeld, eine Ausstellung über Ödlandschaften in der Fotografie, Jürg Kienbergers Inszenierung von "Menschsein macht müde (mehrstimmig)" im Zürcher Schauspiel und Bücher, darunter Guido Facklers Studie über Musik im KZ.

Auf der Rückseite von Bilder und Zeiten etwas nie Gesehenes: ein ganzseitiges Foto von Barbara Klemm: Jemand lugt aus Christos Reichstagsverpackung hervor. Bildunterschrift: "Nicht jede Bühne kann für alle Zeit bespielt werden, bisweilen muss sich der Vorhang schließen." Denn das war's. Der Perlentaucher hat weniger Arbeit. Die Beilage Bilder und Zeiten, das schöne Produkt, wird mit der heutigen Ausgabe eingestellt.

Den letzten Aufmacher verfasste Michael Althen, der über das Jahr 2001 schreibt, "das Jahr, in dem die Zukunft nicht nur im Kino von der Gegenwart eingeholt wurde". Marci Shore erzählt, "wie die polnische Avantgarde der Zwischenkriegszeit zum Marxismus gefunden hat und daran scheiterte". Lorenz Jäger teilt mit, dass "aus unseren Sternbildern nicht nur die antike Sagenwelt (spricht), sondern auch die Bewunderung der Neuzeit für den Fortschritt. Schließlich erinnert Klemens Ludwig an den Maler Nicholas Roerich und seine Frau Helena.

Wird eigentlich auch die Frankfurter Anthologie eingestellt?

In der heutigen Folge schreibt jedenfalls der Meister selbst. Marcel Reich-Ranicki stellt ein Gedicht von Sarah Kirsch vor - "Schwarze Bohnen":

"Nachmittags nehme ich ein Buch in die Hand
Nachmittags lege ich ein Buch aus der Hand
Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg..."

SZ, 29.12.2001

Die SZ war am Sonnabend um 10 Uhr noch nicht im Netz.
Wir liefern kurz ein paar Hinweise auf das Wesentliche.
Einen neuen Höhepunkt des Rezensionswesen stellt wohl Jürgen Todenhöfers ganzseitige "Kritik der US-Militärstrategie" dar. Todenhöfer war Bundestagsabgeordneter der CDU und hat sich als Afghanistan-Kernner bereits mehrmals gegen den Krieg ausgesprochen. Wenn wir uns richtig erinnern, hat er den Amerikanern annonciert, dass sie niemals gewinnen könnten. Jetzt schreibt er: "Der Jubel in den USA ist leiser geworden. Zwar hat Amerika schon wieder einen Krieg gewonnen, aber vorerst noch nicht den richtigen." (Vielleicht sind die afghanischen Frauen trotzdem dankbar?) Claus Koch denkt in seinen "Noten und Notizen" in der gleichen Richtung und annonciert drei weitere Kriegsjahre und damit ein von den Amerikanern selbst zu verantwortendes Ansteigen des Antiamerikanismus.
Weiteres: Gottfried Knapp argumentiert in einem kentnisreichen Artikel gegen die "diffus-kompromisslerischen Empfehlungen" der Expertenkommission für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Petra Steinberger erklärt uns, warum "in den USA und im Mittleren Osten Verschwörungstheorien so hoch im Kurs stehen". Anke Kempkes stellt die Designzeitschrift nest vor. Auf einer Literaturseite schreibt Ulrich Baer über Frank Stellas von "Moby Dick" inspirierte Gemälde. Jens Bisky denkt über die Antiglobalisierungsbibel Empire von Antonio Negri und Michael Hardt nach. Und Clemens Pornschlegel berichtet über das "Livre noir du Canada anglais", in dem der frankokanadische Journalist Normand Lester den kanadischen Sprachen- und Nationalitätenstreit wieder anfacht.
Besprochen werden der Film "Zoolander" und Israel Horovitz Stück "Drei Wochen nach dem Paradies" in Linz

NZZ, 29.12.2001

Im Feuilleton ist nicht allzu viel los. Peter Nadas schreibt in der Reihe über das "Verschwinden" über ein ungarisches Dorf, das heute verlassen ist. Ursula Sinnreich bespricht eine Ausstellung burgundischer Tapisserien in Bern. Christoph Funke schreibt zum Tod des Dramaturgen und Theaterwissenschafters Jan Kott. Matthias Wegner gedenkt des Verlgers Carl Hanser, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. Michael Mayer resümiert eine Tagung zum Thema Glück am Einstein-Forum in Potsdam Hanno Helbling schreibt über den Filipino Toni, der bei ihm in Rom die Fenster putzte und nun einen viel interessanteren Job hat: Er ist Vogelpfleger beim König von Afghanistan. Besprochen werden außerdem einige Bücher, darunter Georges Perecs Roman "Die Dinge". (Siehe unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr.)

Literatur und Kunst erscheint heute in reduziert Version ? den größten Raum nimmt das Inhaltsverzeichnis der Beilage für das Jahr 2001 ein.

Dann aber immerhin ein langer Essay von Rüdiger Safranski, der mit Wehmut an der Eros erinnert. Der Anfang des Textes zeigt, womit sich die Wehmut erklärt: "Wenige Tätigkeiten sind so öffentlich und geheimnislos geworden wie der Sex. Es herrscht taghelle Aufklärung... Wir erhalten Auskunft über begleitende oder verursachende Vorgänge im Gehirn und in anderen Körperteilen bei der Erregung von Lust, bei der Empfindung einer Anziehung und bei der Erfahrung von Verbundenheit. Bei der Lust, so lehrt die Endokrinologie, erfolge eine vermehrte Ausschüttung von Östrogenen und Androgenen. Und wenn der Testosteronspiegel steigt, so ist womöglich die Stabilität einer Beziehung in Gefahr, denn es wächst das Verlangen nach einem neuen Sexualpartner. Hat das Verlangen seine Gelegenheit gefunden, erhöht sich beim Mann der Vasopressinspiegel, was die Bereitschaft zur Treue wenigstens kurzfristig belebt. Das Gefühl der romantischen Anziehung ist mit hohen Werten von Dopamin und Norepinephrin und niedrigen Werten von Serotonin verbunden. Einer romantischen Liebe geben die Endokrinologen 6 bis 18 Monate."

Weiteres: Marion Janzin und Joachim Güntner erzählen eine kleine Kulturgeschichte der Verlagssignets, besonders in ihrer tierischen Ausprägung. Und Matthias Frehner bespricht die große Ausstellung über den viktorianischen Akt in der Tate Britain in London.

FR, 29.12.2001

Rolf Paasch blickt auf den 11. September zurück. In seinen Reise-Notizen lautet der Eintrag für den 25. September: "Nie war der Atlantik so breit, selten die Wahrnehmung in Alter Welt und Neuer Welt so verschieden. In Deutschland kommt zu der Angst vor Attentaten die Angst vor Amerika. Es ist das erste Mal, dass sich die Deutschen nicht mehr auf ihre Schutzmacht verlassen können, weil die USA selbst bis ins Mark getroffen sind. Die von Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz dahingeworfene Drohung vom "ending of states", dem möglichen Auslöschen von Unterstützerstaaten, wird in Washington als leere Phrase, von der deutschen Linken dagegen wörtlich genommen. Doch die Angst vor den USA ist ambivalent. Sie speist sich aus der traditionellen Sorge vor "imperialistischen" Überreaktionen; aber auch aus der neuen Wahrnehmung amerikanischer Hilflosigkeit im Angesicht der Selbstmord-Attentate." Weiteres: Adam Olschewski sagt uns eine blau-weiße Zukunft voraus. Christoph Schwandt bilanziert das Verdi-Jahr, Ulf Erdmann Ziegler feiert die Wiederkehr der "Incredible String Band" (hier mehr). Schließlich ist Ina Hartwigs Laudatio auf den Dichter Georges-Arthur Goldschmidt zu lesen, dem der Nelly-Sachs-Preis verliehen wurde. Besprochen werden der neue Film von Caroline Link "Nirgendwo in Afrika", das Ballett  "Winterreise" in Hamburg. Und zwei Bücher: Eine neue Rilke-Biografie von Ralph Freedman, Bernd Roecks Streifzüge durch "Florenz 1900"(mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). Im Magazin berichtet unter anderem Karin Finkenzeller aus Island, dass sich Widerstand gegen das Unternehmen bildet, die Gene aller Isländer zu erfassen und erforschen. Petra Mies und Martin Scholz interviewen den Autor Henning Mankell.