Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2002. Der Euro ist da - auch in den Feuilletons. Die taz verteidigt die westliche Religion des Geldes. Die FR erzählt eine Kulturgeschichte des Töpfeschlagens in Lateinamerika und die FAZ feiert den Fernsehmehrteiler "Die Affäre Semmerling".

FAZ, 02.01.2002

Auf der Medienseite feiert Sandra Kegel den Fernseh-Mehrteiler "Die Affäre Semmeling". Regisseur Dietmar Wedel hat die Semmelings vor dreißig Jahren schon einmal diverse Katastrophen durchleben lassen, diesmal schlägt das Unheil in Form einer Finanzbeamtin zu. "Es gab schon andere kostspielige und aufwendige Filme. Was die 'Semmelings' von ihnen unterscheidet, ist die Kunst der Fuge, übertragen auf das Medium Fernsehen. Kaum einer beherrscht dies so virtuos wie er. Sein Thema, über das er im Gespräch zum schäumenden Debattier wird, ist das Verhältnis zwischen Finanzamt und Steuerzahler und der Einfluss der Politik darauf ... In den besten Momenten gelingt es Wedel, aus ehernen Begriffen wahrhaftiges Leben zu destillieren, zu beschreiben, wie Gesellschaft funktioniert, ohne dabei einen bebilderten Leitartikel zu verfassen."Daneben gibt es ein Porträt des Semmeling-Darstellers Fritz Lichtenhahn.

Dietmar Dath beschreibt Ubicomp ? das sind allgegenwärtige Rechner, die in Kleidung oder Accessoires eingebaut sind. Ob uns diese totale Vernetzung nun die "soziale Frage" ersparen wird, oder ob sie nur eine neue Disziplinierungsmaschine ist, fragt sich Dath, hat dann aber keine Idee dazu. Auf einer ganzen Seite denkt der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf über den Schöpfungsbegriff nach. Hans-Peter Riese berichtet über die Eröffnung eine Privatmuseums für den Kinetiker Milan Dobes (mehr hier und hier) in Bratislava, Malte Selugga beklagt den Abriss klassischer Hofhausarchitektur in China, Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod des Schauspielers Matthias Fuchs. Auf der Stilseite schildert Peter Müller die Sammlung von Industriedesign der DDR, die in Berliner Hallen lagert und auf ein Museum wartet. Und auf der letzten Seite beschreibt Julia Schürmann, was sich Brügge von seinem Status als Europäische Kulturhauptstadt 2002 erwartet.

Besprochen werden eine Ausstellung über Ödön von Horvath im Münchner Literaturhaus, Mohsen Makhmalbafs Film "Reise nach Kandahar", eine Kolonialwarenschau im Haus Peters bei Husum und drei Choreographien des Ballets Russe in Paris. Eleonore Büning ist Silvester in Berlin zwischen Philharmonie und Lindenoper hin- und hergesaust und dabei jedes Mal Daniel Barenboim begegnet: "Er wurde zum Walzerkönig vom Dienst an diesem letzten Tag im Jahr und bediente sich dabei jener geheimnisvollen Gabe der Bilokation, die nur mit perfektem Zeitplan zu realisieren ist."

NZZ, 02.01.2002

Tja, und in dieser an sich schon mageren Neujahrsproduktion fehlt auch noch die NZZ. Sie war um 9 Uhr noch nicht im Netz. Kater in Zürich? Keineswegs: Die Zürcher feiern Berchtoldstag.

SZ, 02.01.2002

Der in Indien lebende Schriftsteller Ilja Trojanow informiert uns über die Geschichte Kaschmirs und über die indische Fähigkeit zu religiösen Synthesen, die in Kaschmir verloren gegangen ist: "Die Geschichte solcher Synthesen endete in Kaschmir allerdings durch die Teilung in Indien und Pakistan - das war vor gut 50 Jahren. Seither ist 'das schöne Tal' zu einem Spielball im Kampf zwischen zwei unsicheren, neuen Nationalstaaten geworden, zum Schlachtfeld ihrer politischen Rhetorik. Indien möchte beweisen, dass es ein multireligiöser, säkularer Staat ist, zu dem auch eine überwiegend moslemische Region gehören kann. Pakistan möchte den Prozess der 'Zwei-Nationen-Werdung' vollenden. Beide Seiten haben die fragile kulturelle Ökologie der Region zerstört."
"Matrix" und "Mission impossible" wurden hier gedreht: Australien wird immer mehr zu einem von den Gewerkschaften unbelästigten Drehort für Hollywood und zu einer ernsthaften Konkurrenz, berichtet Anke Sterneborg. "Was in der großen alten Zeit mit Errol Flynn begann und vor zwanzig Jahren mit Mel Gibson weitergeführt wurde, hat sich heute beeindruckend entwickelt: Russell Crowe und Nicole Kidman, beide durchaus chancenreich im kommenden Oscar-Rennen, sind nur die Speerspitze einer kleinen Armee, zu der unter anderem Guy Pearce ('Memento'), Hugh Jackman ('Password Swordfish') oder Toni Colette ('Shaft') gehören. Mit ihrer sehr australischen Mischung aus Charme und Chuzpe, aus Verve und Virilität wirbeln diese Helden die glatten Oberflächen der Traumfabrik auf."

Weiteres: Detlef Esslinger schildert einen Streit zwischen dem Kasseler Theaterintendanten Christoph Nix und seinem Kulturdezernenten. Adrienne Braun lotet anhand der Ausstellung "Neue palästinensische Kunst" in Stuttgart aus, "wie tief die kulturellen Gräben sind". Helmut Schödel freut sich über den Euro: "Die Dispokredite drohen nur noch mit der halben Schuld." (Hat er da nicht etwas missverstanden?) Gerd Krumeich bespricht ein amerikanisches Buch über deutsche Gräueltaten im Ersten Weltkrieg. Robert Frank schildert die neuesten Peripetien im Streit um das denkmalgeschützte Studentendorf in Berlin-Schlachtensee. Tatjana Rexroth resümiert den "Moskauer Herbst" und nimmt ihn zum Anlass, um die Lage der Neuen Musik in Russland zu beschreiben.

Besprechungen gelten David Lynchs neuem Film "Mulholland Drive" (mehr hier), einem Auftritt der Rockband The Strokes in New York und den Silvesterkonzerten in Berlin und in Hamburg.

FR, 02.01.2002

Karin Ceballos Betancur erzählt eine kleine Kulturgeschichte des Töpfeschlagens in Lateinamerika: "1971 trommelten Frauen der chilenischen Mittelschicht durchaus im Sinne ihrer Gatten beim Staatsbesuch Fidel Castros auf Töpfe und Pfannen, um gegen die Regierung des gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende zu protestieren... In Caracas demonstrierten Menschen im vergangenen Herbst deckelklappernd gegen die Regierung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez, auch aus Kolumbien ist öffentliches Topfschlagen bekannt. In Argentinien sollen die Cacerolazos der letzten Wochen eine egalisierende Wirkung innerhalb der Bevölkerung entfaltet haben, die dem Topf als allgemein verfügbarem, einfachem Haushaltsutensil ohnehin inne wohnt."

Weitere Artikel: Erik Franzen porträtiert die israelische Musikjournalistin Greta Klingenberg. Sie sang einst in Theresienstadt die Hauptrolle in Hans Krasas Kinderoper "Brundibar", die zur Zeit überall in Deutschland wiederaufgeführt wird. Und Günnar Lützow bespricht einen britischen Gesprächsband mit dem Young British Artist Damien Hirst.

TAZ, 02.01.2002

Mit freundlicher Unterstützung von Deleuze und Guattari deutet Ronald DükerMelvilles soeben neu ins Deutsche übersetzten Roman "MobyDick" als scharfsichtige Prophezeiung der Globalisierung unteramerikanischer Flagge: "Moby Dick muss überall vermutet werden: Die Jagd auf den Wal beinhaltet also die imaginäre Besetzung eines jeden Punktesauf allen Weltmeeren, Ahabs Jagdrevier ist im Wortsinne global. Doch auch sein Wahnsinn ist alles andere als ein Auswuchs individueller Pathologie. Wie auch im Fall von Queequeg und Ismael geht es nicht um Psychologie, sondern um Politik. Ahabs Wahn ist die letzte Konsequenz, die maßlose Übersteigerung jener Flucht, die für Amerika ein kollektives Projekt ist."

Ralph Bollmann ist kühn genug, die westliche "Religion des Geldes" - im Sinne des Philosophen Georg Simmel - für verteidigungswert zu halten: Denn sie "bedeutete vor allem eines: Freiheit für den Einzelnen. Das Geld ersetzte die persönlichen Bindungen der ständischen Gemeinschaft durch die anonymen Abhängigkeiten der modernen Gesellschaft. Die persönliche Lebensführung war nicht mehr durch Geburt und Einbindung ins Kollektiv festgelegt. Jeder, der über Geld verfügt, kann über seinen Weg tagtäglich selbst entscheiden. Darin sah Simmel, gegen alle Kulturpessimisten seiner Zeit, den großen kulturellen Fortschritt - auch wenn diese Entscheidungen den Einzelnen überfordern können."

Weiteres: Brigitte Werneburg erzählt uns, dass sie von einer Uhrenmanufaktur ein Werbegeschenk bekommen hat. Auf der Medienseite finden wir eine Besprechung der "Affäre Semmeling".

Schließlich Tom.