Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2002. Die SZ geht es ums schöne Geld und die Euro-phorie. Die FR widmet sich der "Kulturhauptstadt der arabischen Welt 2002": Dem jordanischen Amman. Und die taz beschreibt, was sich in einem Kurs gegen Flugangst so alles lernen lässt.

FAZ, 04.01.2002

Haben sich die Schriftsteller nach dem 11. September zu schnell mit ihrer Betroffenheit gemeldet oder bekundet Marcel Beyer mit seiner Rede zur Verleihung des Böll-Preises, die heute in der FAZ dokumentiert wird, nur die uralte Angst der deutschen Schriftsteller vor öffentlicher Stellungnahme? Hier Beyers Kollegenschelte: "Je schneller, je 'einfacher', je allerweltstauglicher sich jemand zu einem Thema äußert, desto stärker mein Eindruck, dass er seine Missachtung der Sprache kundtut, indem er sie für seine Zwecke benutzt. Ein solches pornographisches Verhältnis zur Sprache aber erscheint mir unmöglich. Die Frage ist doch nicht, welche Meinungen jemand, der mit Sprache umgeht, von der Welt hat, sondern: Wie lassen sich heute, nach dem Ende des Kalten Krieges - in Zukunft auch: nach dem 11. September 2001 -, politische, gesellschaftliche Fragen in den Blick nehmen, ohne dabei bestimmte ästhetische Positionen aufzugeben?"

Anton Thuswaldner unternimmt eine Tour d'horizon durch die österreichische Verlagslandschaft. Das große Thema: der Staat will seine Anteile an den Verlagen Residenz, Deuticke und Brandstätter verkaufen, die allesamt defizitär sind. "Ob sie getrennt oder im Paket verkauft werden, bleibt vorläufig offen. Es ist schon davon die Rede, dass sie der Bund schuldenfrei stellt und zu einem Symbolwert von einem Schilling verkaufen will. Das ist vorläufig nicht mehr als ein Gerücht, aber hinter vorgehaltener Hand werden solche Verzweiflungsszenarien schon diskutiert."

Niklas Maak glaubt, dass wir auch nach der Empfehlung der Expertenkommission zur Wiederaufbau des Berliner Schlosses kaum um einen Architekturwettbewerb herumkommen: "Denn erstens braucht auch der ergrimmteste Rekonstrukteur ein paar Architekten, die ihm sagen, was jenseits von drei Fassaden, einem Hof und ein paar Innenräumen zu einem neuen Schloss noch dazugehören könnte; zweitens kann jetzt, wo von der Kommission eine Nutzung definiert worden ist, eine ernsthafte architektonische Auseinandersetzung mit dem Ort überhaupt erst beginnen."

Weitere Artikel: Sehr euroskeptisch schreibt Dirk Schümer im Aufmacher zur Einführung des Euro ("Während die Menschen ... ihre neuen Münzen und Scheine abheben und prüfen und während die EU allein schon mit dieser logistischen Tat ihre Macht bewiesen hat, ist Europa zur selben Stunde politisch so gut wie tot.") Angeilka Heinick stellt ein neues Museum für die Skulptur des 19. Jahrhunderts vor, das im nordfranzösischen Douai eröffnet wurde. Auf der letzten Seite untersucht Andreas Rosenfelder in einer längeren Reportage das Verhältnis zwischen Moslems und Christen in Köln nach dem Verbot des sogenannten Kalifatstaats. In einem kleinen Profil stellt uns Roland Kany die amerikanische Philosphin Martha Nussbaum vor, die in einem Artikel für The Nation jüngst die Frage stellte, " ob der amerikanische Patriotismus zum Mitgefühl gegenüber den Menschen anderer Länder fähig sei". (Ihr Artikel wurde leider nicht online gestellt.) Und Dietmar Dath versucht uns den Begriff der "neutrosophischen Logik" näherzubringen, über die jüngst ein Kongress abgehalten wurde.

Ferner gratuliert Paul Ingendaay dem spanischen Regisseur Carlos Saura zum Siebzigsten. Wolfgang Sandner schreibt zum sechzigsten Geburtstag des schnellsten Gitarristen der Welt, John McLaughlin. Christoph Albrecht gedenkt des Biosemiotikers Thomas A. Sebeok. Dietmar Dath schreibt zum Tod des Mathematikers Donald Clayton Spencer. Michael Althen schreibt zum Tod der Film-Produzentin Julia Philips, die sich einst in ihren Erinnerungen poelmisch mit Hollywood auseinandersetzte. Friedrich Wilhelhm Graf schreibt zum Tod des Kirchenhistorikers Kurt Nowak.

Besprochen werden der Film "Rock Star", die Ausstellung "Streitlust" im Aachener Ludwig Forum, Germaine Acognys Solotanzprogramm "Tchourai" im Tanzhaus NRW, das Spätwerk der Malerin Maria Lassnig in der Kestner-Gesellschaft in Hannover.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht es um eine CD mit mit Viertelton-Musik für zwei Klaviere, um Chormusik des 20. Jahrhunderts und um eine CD des DJs Sven Väth.

NZZ, 04.01.2002

Andrea Köhler liefert Impressionen aus dem New York nach dem 11. September und versucht uns unter anderem mit folgender Perspektive vertraut zu machen: "Bin Ladin aber wird wohl, wie er verkündet hat, den Amerikanern nicht in die Hände fallen. Und kein Grab wird von seinem Verschwinden zeugen."

Martin Krumbholz besucht den Autor Arnold Stadler in Berlin, der ihm seinen Begriff von Authentizität vermittelt: "Die authentischsten Sätze lassen sich nicht übersetzen! Nehmen Sie nur einen Satz aus meinem Heimatdorf: 'Umsch Rumluege kaascht nimmee numluege', den versteht man im nächsten Dorf ja schon fast nicht mehr." Hm.

Besprochen werden eine William-Eggleston-Ausstellung in Paris, eine Ausstellung des Architekten W. N. Rose in Rotterdam, die Ausstellung "Requiem für die Treppe" in Barcelona und Verdis "Falstaff" in Lausanne.

SZ, 04.01.2002

Alex Rühle porträtiert die Pariser Krimiautorin Fred Vargas, deren neuer Krimi bei der deutschen Presse Furore macht. Sie erklärt ihre Methode: "Handlung, naja, die braucht man schon, 'le plot' eben, was sie 'le plodde' ausspricht. Diesen Plodde schreibt sie immer in den Sommerferien runter. Und dann kommt ein Jahr Feinarbeit, Feilen an 'le son et le sens', Klang und Sinn, was man im Französischen beim Sprechen phonetisch so schön verschmelzen kann, dass Inhalt und Form in eins fallen. Richtig Spaß mache es eigentlich erst in den letzten Wochen, bei der Feinabstimmung, 'regler l?orchestre', dabei entstehe dann plötzlich der Zauber."
Für die SZ hat sich Franziska Augstein dem Männerverein des Titanic-Magazins angeschlossen und ist mit auf Betriebsausflug nach Cuba gejettet, um die Satire mit der Seele zu suchen. Das Ergebnis der Reise allerdings (mal abgesehen von der Erkenntnis, dass es auf Cuba zwar kein McDonalds, dafür aber die kleinsten Lurche gibt) ist Unklarheit: "Die Reisegesellschaft vermutet, dass die USA die Insel wohl gern übernähmen und zur Ferienkolonie umwandelten. Man fragt sich, was in diesem Fall mit den überzähligen Einwohnern geschähe."
Der Euro-phorie auf der Spur ist Rainer Erlinger. In einem Beitrag führt er sie auf drei altbekannte psychologische Mechanismen zurück: den medialen Hype, das Prinzip der logischen Folge, das einer unspektakulären ersten Maßnahme (die Einführung des Euro vor drei Jahren) den zweiten Schritt als unabwendbaren und endgültigen folgen lässt, und vor allem die Spannung: "Ein Prinzip, welches millionenfach erprobt Kinderherzen an Weihnachten höher schlagen lässt."

Außerdem: Petra Steinberger macht uns mit der "Generation 9/11" bekannt und trägt sie umgehend zu Grabe, Bernd Graff stellt die dank Motiven von Andy Warhol und James Rizzi komplett wohnstubentaugliche fünfzehnbändige Neuausgabe des Brockhaus vor, H. G. Pflaum erzählt, wie der fast 70-jährige spanische Filmemacher Carlos Saura noch einmal zu seinem filmischen Vater Bunuel zurückkehrt. Und Martin Pollack erzählt, wie Andrzej Stasiuk und Monika Sznajderman in Wolowiec in den Beskiden den Verlag "Czarne" aufbauen.

Besprochen werden die Ausstellung "New Heimat" über Mixed-Cultures-Assemblagen im Kunstverein Frankfurt, Valeska Grisebachs Filmdebüt "Mein Stern", eine Schau mit Stücken der wiederentdeckten Prussia-Sammlung in Kaliningrad sowie Bücher: eines über Medizin zwischen naturwissenschaftlichem Materialismus und ethischer Verantwortung, ein anderes mit Gedichten des griechischen Lyrikers Charis Vlavianos (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 04.01.2002

In der mit einem dünnen Ferien-Feuilleton aufwartenden FR stellt uns Andrea Nüsse die "Kulturhauptstadt der arabischen Welt 2002" vor: Das keine 100 Jahre alte jordanische Amman, in dem es weder Theater noch Buchhandlung gibt. Dafür einen Libanesen mit 600 Kilo im französischen Fernsehen gewonnener Bücher, eine gemalte Bücherwand im Hyatt-Hotel und eine zur privaten Kulturstiftung der Arab Bank gehörende restaurierte Steinvilla aus den 20-er Jahren: "Hier, im populären Stadtteil Jebel Weibdeh, in unmittelbarer Nähe zum historischen Stadtkern gibt es Ausstellungen, eine Kunstbibliothek, ein Bildhaueratelier und Zimmer für durchreisende Künstler. Im Garten, unter römischen Säulenresten, finden im Sommer Konzerte statt." Das Programm zum Kulturhauptstadtjahr mit Dokumentarfilmfest, Skulpturenworkshop, Fotowettbewerb und Theaterfestival kommt da gerade recht.

Besprechungen widmen sich David Lynchs neuem Streifen "Mulholland Drive", einer Schau mit Arbeiten des Architekten Jean Nouvel im Pariser Centre Pompidou, den zeitgemäß kriegerischen "Walküren" des Kölner "Ring"-Projekts sowie Bildern von Maria Lassnig in der Kestner Gesellschaft Hannover.

TAZ, 04.01.2002

Anlässlich seiner soeben als Buch erschienenen Geschichte des Punk ("Verschwende Deine Jugend") fragt die taz den Autor Jürgen Teipel, warum "diese ganze Musik von damals" so unglaublich beschissen klingt und wozu sie überhaupt gut gewesen ist. Um den Humor zu retten, meint Teipel. "Es war ja geradezu ein Sport seinerzeit, das Gegenteil von dem zu sagen, was man eigentlich meinte. Zu provozieren um zu provozieren. Einfach so. Das ging natürlich mit der Zeit auf den Senkel, weil es alles höllisch verkomplizierte, aber es herrschten damals nun einmal extrem verhärtete Strukturen ... Es gab den harten Staat, und es gab die verhärtete Linke. Und dazwischen gab es Leute, die erkannt hatten, dass es sehr, sehr einfach war, die Brechstange anzusetzen und mit den einfachsten Sachen totale Wirkung erzielen."

Außerdem: Daniel Bax stellt neue Platten vor von Gotan Project ("La Revancha DelTango") und Kid Loco ("Kill Your Darlings"), Tobias Rapp bespricht die Madonna-Biografien von Randy Taraborelli ("Madonna. Die Biographie") und Andrew Morton ("Madonna") und fragt sich, ob der Blick hinter die Kameras lohnt.

Und in den Tagesthemen sagt uns Janna Plotte, was sich bei einem Kurs gegen Flugangst so lernen lässt: Der Angst die Wurst zu geben.

Schließlich Tom.