Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2002. Die FAZ porträtiert den afghanischen Schriftsteller Achmad Ziat Rafat, der aus dem Exil nach Kabul zurückgekehrt ist, die taz denkt über Genie und Wahnsinn nach. Die NZZ widmet sich der Frage, was für Richard Wagner "deutsch" war und in der SZ schreibt Martin Mosebach eine kleine Poetik der Heimatlosigkeit.

SZ, 05.01.2002

Die SZ bot heute morgen mal wieder nur ihre Ausgabe von gestern. Hier also nur eine kurze Zusammenfassung ohne Links.

Gustav Seibt gratuliert im Feuilletonaufmacher Umberto Eco zum Siebzigsten. Fritz Göttler denkt über den Identitätsverlust im Hollywoodkino nach. Derek Weber schreibt über die akustische Aufrüstung des Kimmel-Centers in Philadelphia. Miriam Neubert erzählt, dass Russlands Eliten Putins Sympathie für Amerika mit Skepsis betrachten. Auch die Muttersprache kann ein Gefängnis sein, behauptet der Schriftsteller Martin Mosebach und liefert eine "kleine Poetik der Heimatlosigkeit", die immerhin eine SZ-Seite verschlingt. Im Interview schließlich erklärt Rodney A. Brooks vom MIT, warum Roboter menschenähnlich werden müssen.

Besprochen werden Ferzan Ozpeteks Film "Die Ahnungslosen", Strindbergs "Unwetter", inszeniert von Werner Düggelin in Zürich und die Ausstellung "Extreme Beauty" im Metropolitan Museum of Art in New York.

In der SZ am Wochenende schreibt Heribert Prantl eine Liebeserklärung an das BGB. Und Burkhard Müller-Ullrich porträtiert die einstige Muse der Dadaisten, die heute 94-jährige Vera Broido. Besprochen werden Bücher, darunter eine Essaysammlung von Harold Brodkey (auch in unserer Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

TAZ, 05.01.2002

Wer Bücher schreibt, mit dem stimmt was nicht, klar. Rene Martens überprüft das am Beispiel Robert Walsers und erklärt, wem dieses langlebige Klischee eigentlich nützt: "Allemal Künstlern, die jede soziale Dysfunktionalität damit rechtfertigen können, sie als Kreative seien nun mal ein bisschen verrückt, also auch genial ... Feuilletonisten schließlich erleichtert der G&W-Mythos (Genie und Wahnsinn, die Red.) die Arbeit: Sie können Wesentliches bei Seite lassen - in Walsers Fall, dass er ein präpostmoderner Autor war, der Erzählweisen antizipierte, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich als neu galten." Als künstlerisches Movens, findet Martens, klingt G&W darüber hinaus auch viel romantischer als H&H für Handwerk und Hartnäckigkeit.

Besprechungen gibt es zu Thomas Kapielskis "Sozialmanierismus", einem weiteren Band seines großformatigen Künstler- und Entwicklungsromans, und zu Geoff Dyers Jazz-Roman "But Beautiful".

Fürs tazmag hat Anne Huffschmid den mexikanischen Autor Carlos Monsivais porträtiert, Nike Breyer interviewt den Leipziger Maler Neo Rauch, der jetzt für das New Yorker Metropolitan Museum of Art malt, und Franziska Meier fragt, ob es sowas wie einen "faschistischen Charakter" gibt und ob die Erklärungsmodelle nazistischer Gewalt noch taugen.

Die Tagesthemen bringen einen Beitrag von Michael Streck über die Sicherheits-Visionen des amerikanischen Justizministers John Ashcroft sowie ein Interview mit Nadine Strossen, der Präsidentin der US-Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (mehr hier), die den harten Ashcroft-Kurs kritisiert.

Schließlich natürlich Tom.

NZZ, 05.01.2002

Ein Euro-Problem am Rande: Soll man die kleinen Münzen "Zent" oder "Cent" a l'americaine aussprechen, wie es das ZDF von seinen Nachrichtenprechern verlangt, fragt Joachim Güntner: "Die kleine Münze des Euro, sollte sie als integraler Anglizismus in die deutsche Sprache einwandern, hätte es in sich. Die reguläre Phonetik des Deutschen kennt das scharfe s nur in der Mitte von Worten und am Schluss. Der Cent, amerikanisch ausgesprochen, würde es - regelwidrig - im Anlaut verlangen. Nun belegen zwar Beispiele wie 'Sex', 'Single' oder 'Center', dass dieser regelwidrige Anlaut ohne größere Intonationsprobleme auch von deutschen Sprechern bewältigt werden kann. Aber sein Vorkommen bleibt eine Systemwidrigkeit und gilt unter Linguisten als Hinweis dafür, dass die betreffenden Wörter ihre angelsächsische Herkunft nach wie vor ausstellen, also nicht vollendet integriert sind." Wie wär's denn mit "Pfennige"?

Weiteres: Im "kleinen Glossar des Verschwindens" denkt Stephan Krass über "Das Autokino" nach. Franz Haas schreibt zum siebzigsten Geburtstag von Umberto Eco. Henri Petter gedenkt des Zürcher Anglisten Ernst Leisi. Besprochen werden die Ausstellung "Der junge Rembrandt" in Kassel, eine Ausstellung über den Architekten Henri Gaudin in Paris und einige Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Gisela Elsner und Klaus Roehler und Jon Fosses Roman "Morgen und Abend".

In Literatur und Kunst widmet sich Udo Bermbach ausführlich der Frage, was für Richard Wagner, der in mehreren Schriften darüber nachgedacht hat, "deutsch" sei. Ein Auszug: "Der verheerenden Negativbilanz der Politik, an der - nach Wagner - fremde Mächte wie Frankreich und die Juden tatkräftigen Anteil haben, stehen die auf Sprache gegründete Kultur und die daraus erwachsende Regenerationsfähigkeit der Deutschen positiv gegenüber. Das 'Charakteristische des eigentlichen deutschen Wesens' bestimmt Wagner deshalb in einer auf empirische Überprüfbarkeit verzichtenden, idyllisierenden Beschreibung als Heimatverbundenheit, als die Fähigkeit, sich Erfahrungen in der Fremde anzuverwandeln, sich fremde Dichtungen durch Verarbeitung zu eigen zu machen und dadurch deren 'reinmenschliche Motive' zu bewahren." Auch Jens Malte Fischer befasst sich mit einem deutschen Musikheroen und seinen widrigen Zügen. Bei Ihm geht es um den Antisemitismus Hans Pfitzners.

In den weiteren Artikeln geht es hauptsächlich um Bücher. Christiane Hammer porträtiert Gao Xingjiang als Maler und Schriftsteller. Und Manfred Papst rezensiert Gaos Roman "Der Berg der Seele". Besprochen werden außerdem eine Ausgabe der Schriften des Japanforschers Engelbert Kaempfer und eine Biografie des tibetischen Reformpolitikers Gendün Chöpel.

FR, 05.01.2002

Die FR druckt ein Gespräch mit dem großen alten Alain Robbe-Grillet über seinen vergangenen Herbst erschienenen Roman "La Reprise". Mit ihm hat der knapp 80-jährige Autor dem Noveau Roman noch einmal Leben eingehaucht, mit einem Erfolg, der ihn verblüfft: "Die Kritiker waren mir plötzlich so wohlgesonnen, obwohl sie doch eigentlich noch mehr hätten kotzen müssen! Tatsächlich habe ich für keines meiner Bücher soviel Aufmerksamkeit und Lob bekommen. Ich mache mir ernstlich Sorgen." Besorgt ist Robbe-Grillet auch um die Gegenwartsliteratur. Houellebecq z.B.: "Das ist die totale Nichtigkeit. Nicht umsonst hat Houellebecq sein jüngstes Buch Plateforme genannt. Er weiß sehr wohl, dass dies die platteste aller möglichen Formen ist. Das ist eine schnulzige Liebesgeschichte auf dem Niveau von Arztromanen!"

Sabine Heinlein hat in Amerika die jüngsten Moden des Krieges aufgespürt. Tarnfarben sind eigentlich nicht so neu, erhalten aber eine neue Aussagekraft in Kombination mit einem T-Shirt mit Flagge und Aufschrift: Osama-Wanted! Dead or Alive. Überhaupt: Die Flagge ("das Kuscheltuch der Nation") ? "als T-Shirts, Körperschmuck, Gesichtsbemalung und Modelabel kleiden Sterne und Streifen ihren patriotischen Träger; als Aschenbecher, Poster und Buchcover dekorieren sie das amerikanische Heim." Reichlich gewagt, meint Heinlein, muss doch laut "Code of Flag Etiquette" eigentlich mit 100 Dollar Buße rechnen, wer sich das Sternenbanner nur unter die Zimmerdecke nagelt.

Außerdem zu lesen: Heribert Kuhn untersucht die "Doppelleben"-Strategie Gottfried Benns und erkennt dessen Liebesaffäre mit Ursula Ziebarth als umgekehrten Orpheus-Mythos, in der Serie "Literaturszenen" erliegt Jochen Schimmang dem Zauber der Trostlosigkeit in Flauberts Erzählung "Ein schlichtes Herz", Guido Graf gratuliert Umberto Eco zum 70., Stefan Koldehoff schreibt zum Tod des Stuttgarter Sammlers, Arztes und Philanthropen Gustav Rau. Und im Magazin erklärt der Pianist Maurizio Pollini, dass Chopin und Appelle an die Menschlichkeit sehr gut zusammengehen und warum man Stockhausen mit Handschuhen spielen muss.

Besprochen schließlich werden Stephen Hereks Bandfilm "Rock Star", zwei Ausstellungen zum Thema Sex in Dresden (Kunst Haus und Deutsches Hygiene Museum), Paul Celans Briefwechsel mit Hanne und Hermann Lenz und Slavoj Zizeks Gedanken zur "Tücke des Subjekts" (auch in unserer Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

FAZ, 05.01.2002

Eine Samstags-FAZ ohne Bilder und Zeiten ist wie ein Cappuccino ohne Häubchen! Zwar wurde das Samstagsfeuilleton - zumindest heute - erweitert und die Frankfurter Anthologie gibt's auch noch. Aber alles auf langweiligem graugelben Zeitungspapier.

In anderen Ländern stehen Schriftsteller noch vor echten politischen Herausforderungen. Zwei Artikel machen uns das deutlich: Wulf Schmiese porträtiert Achmad Ziat Rafat, einen 35-jährigen afghanischen Schriftsteller, der aus dem Exil im Iran nach Kabul zurückgekehrt ist und nun für seine Exilkollegen die Lage in der Heimat erkundet. "Er hat drei Seiten dabei, die er dem neuen Kulturminister Afghanistans überreichen wird. Darin sind die 'Vorschläge für den nächsten Monat' als Tabelle aufgelistet, sieben Punkte vertikal, drei horizontal. In der ersten Spalte steht das 'Thema', in der zweiten der 'Weg zur Umsetzung' und in der dritten, 'welches Land helfen kann'. Ganz oben auf der Liste steht 'Pressefreiheit', deren Gewähr die Literaten von der neuen Übergangsregierung fordern. Bisher gibt es keine richtige Zeitung in Afghanistan... Ein unabhängiges Komitee von zehn Wissenschaftlern müsse eingerichtet werden, 'darunter keine Islamisten', sagt Rafat. Es solle darüber wachen, dass sich etablierende Presse frei entfalten kann." Klingt doch vernünftig.

Walter Haubrich übt scharfe Kritik an den argentinischen Schriftstellern. Heute machen sie das Ausland für die Probleme des Landes verantwortlich. Während der Militärdiktatur aber hätten sie sich selten geregt. "Die Demokratie gab den argentinischen Intellektuellen das Recht zurück, die Politiker zu kritisieren. Manche übten dieses Recht mit Verantwortungsbewusstsein und gestützt auf Information aus; die meisten aber äußerten sich mit gewohnter Herablassung und geringen Kenntnissen des politischen Geschehens. Wenn die Politiker es wagten zu antworten, heulten die Schriftsteller getroffen auf und klagten über angebliche Zensur."

Weitere Artikel: Jordan Mejias setzt seine Berichterstattung über die Probleme der Harvard-Universität mit ihren "Black Studies" unter dem renommierten Henry Louis Gates, der mitsamt seinen Kollegen nach Princeton abzuwandern droht - nun hat sich auch Reverend Jesse Jackson mit Kritik an Harvard-Präsident Lawrence H. Summers zu Wort gemeldet. Der ARD-Intendant Fritz Pleitgen bekennt sich in einem Beitrag für die Medienseite als "Radiomann" und verteidigt die kulturelle Mission des Hörfunks (na, da sind wir ja gerührt). Sonja Margolina schildert Reaktionen der russischen Presse auf die Kündigung des ABM-Vertrags durch die Amerikaner. Henning Ritter erinnert an den Kunsthistoriker Alois Riegl, der 1903 die Begriffe des "Kunstwerts", "Erinnerungswerts", "historischen Werts" und "Gegenwartswerts" für die Theorie des Denkmals entwickelt, welche unser Autor auch auf das künftige Holocaust-Mahnmal angewandt sehen will.

Ferner gratuliert Gerhard R. Koch Maurizio Pollini zum Sechzigsten und nennt ihn den "wichtigsten Pianisten seiner Generation". Dirk Schümer gratuliert Umberto Eco zum Siebzigsten. "apl" gratuliert dem Buchgrafiker Celestino Piatti zum Achtzigsten. "wha" schreibt zum Tod des nicaraguanischen Autors Pablo Antonio Cuadra. Wilfried Wiegand schreibt zum Tod des Kunstsammlers Gustav Rau.

Und in einer Meldung werden die ersten Wettbewerbsfilme der Berlinale mitgeteilt. Tom Tykwer wird das Festival mit seinem neuen Film eröffnen, auch Filme von Bertrand Tavernier und Zhang Yimou werden dabei sein. Näheres finden Sie hier. In einer weiteren Meldung erfahren wir, dass Robert Gernhardt künftig bei S. Fischer verlegt wird.

Besprochen werden eine Pisanello-Ausstellung in der Londoner National Gallery, Valeska Grisebachs Debütfilm "Mein Stern", eine August-Macke-Ausstellung im Westfälischen Landesmuseum Münster, Veracinis Oper "Rosalinda" in Weimar, eine Retrospektive des Architekten Jean Nouvel im Centre Pompidou, der Film "Die Ahnungslosen" von Ferzan Ozpetek und die neue Staffel der Fernsehserie "Die Sopranos",

In der Frankfurter Anthologie, einem der wenigen Überbleibsel der tragisch verblichenen Samstagsbeilage Bilder und Zeiten, stellt Doris Runge ein Gedicht von Bertold Brecht vor - "Von den verführten Mädchen":

"Zu den seichten, braunversumpften Teichen
Wenn ich alt bin, führt mich der Teufel hinab.
Und er zeigt mir die Reste der Wasserleichen
Die ich auf meinem Gewissen hab..."

Und auf der letzten Seite, die der mit Rücksicht auf die fehlende Beilage nun der Literatur gewidmet scheint, denkt Charles Simic anlässlich einer neuen, bisher nur in englisch erschienenen Biografie über Saul Bellow nach: "Bei Bellow hängt dieses Gefühl, dass einem ständig übel mitgespielt wird, gewiss zu einem Teil mit der Erfahrung der Einwandererfamilien zusammen, wo es durchaus üblich ist, dass das Leben absurder verläuft als die Handlung des chaotischsten pikaresken Romans. Es ist sehr schwer, sich darüber klar zu werden, weshalb das eigene Leben nun gerade so verlaufen ist und nicht anders. Für einen Immigranten wird das geradezu zu einem metyphysischen Problem. Das Absurde ist die einzige Realität, also zählt für den einzelnen Menschen im Leben nur die Kontingenz."