Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.01.2002. Die FAZ erklärt uns den Niedergang der Musikindustrie, die NZZ setzt sich mit Don Delillos Essay zum 11. September auseinander und die SZ bescheinigt den New Yorkern eine größere historische Reife als den Berlinern, die immer noch über den Wiederaufbau des Schlosses streiten, während in New York schon klar ist, dass das World Trade Center niemals wiederkommt.

FAZ, 07.01.2002

Die Verkäufe der Musikindustrie schrumpfen dramatisch (mindestens so dramatisch wie der Stellenanzeigenteil in der FAZ am Samstag). Die Musikindustrie macht CD-Brenner und Internettauschbörsen dafür verantwortlich. Aber Edo Reents glaubt nicht daran und schlägt eine soziologische Erklärung vor: "Vor rund zwei Jahrzehnten hat eine Aufsplitterung von Musikstilen und deren Publikum eingesetzt, die heute aberwitzige Formen angenommen und dazu geführt hat, dass es für beinahe jedes Nischenprodukt einen Namen gibt. Von der großen Mitte mag man im Wahljahr wieder etwas mehr reden - in der Popmusik gibt es sie nicht mehr; es gibt eine kleine Mitte, erkennbar an den Verkaufszahlen, die herkömmliche Musik noch erzielt."

Zwei Artikel sind heute Argentinien gewidmet. Der Schriftsteller Tomas Eloy Martinez (mehr hier) interpretiert das Töpfeschlagen in seiner Heimat. Die Lage scheint ihm dabei seltsam inkonsistent: "Was in den letzten Wochen in Argentinien geschah, hat nichts mit den bekannten historischen Revolten zu tun. Auch wenn der Aufstand genau wie diese die Zerstörung der alten Ordnung fordert, predigt er keine neue. Die politisch konstruktive Reichweite der Aktionen ähnelt der von ungültigen Stimmzetteln... In der letzten Woche des Jahres deutete der damalige Senator Eduardo Duhalde an, dass Argentinien am Rande eines Bürgerkrieges stünde. Aber er erläuterte nicht, wer da gegeneinander stehe; es gab keine zwei Lager, sondern nur die Wut aller gegen alle oder die Wut aller gegen einen Staat..."

Der Historiker Nils Havemann macht für die Probleme des Landes die Mentalität verantwortlich, die der jetzt wieder an der Macht befindliche Peronismus immer schon geschürt habe: "Die Argentinier fassten die Wohltaten des Staates als Selbstverständlichkeit auf und maßen jeden neuen Präsidenten an sozialen Geschenken. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Argentinien immer dann den Peronismus mit seinen Verheißungen wiederentdeckte, wenn das Land im Chaos zu versinken drohte."

Weitere Artikel: Irene Bazinger ist mit Claus Peymanns "Nathan"-Inszenierung am Berliner Ensemble nicht zufrieden ? "Keine Politik, keine Idee, bloß Wortgeplänkel". Andreas Rossmann vermutet in einer detailreichen Recherche, dass der Kazlerfreund Bodo Hombach auch als Geschäftsführer der WAZ Schröders bester Mann bleiben wird ? besonders im kommenden Wahlkampf. Jürgen Kesting gratuliert dem Dirigenten Günter Wand zum Neunzigsten. Ilona Lehnart stellt Betrachtungen zur Kulturpolitik der PDS an ? man möchte vor allem ostdeutsche Kleinkunst fördern, so scheint es. Aber ob das auch das Programm eines Kultursenators Gregor Gysi in Berlin wäre? "csl" fragt, ob die Arthritis des bekannten Schafes Dolly auf die ominöse Methode seiner Zeugung zurückzuführen sein könnte. Patrick Bahners schreibt zum Tod des britischen Historikers John Grigg. Carina Villinger erzählt die Geschichte eines Surfers, der glaubte eine Sony Playstation bei ebay besonders preiswert erstehen zu können und nach der Ersteigerung nur das Foto der Playstation zurgesandt bekam: "Wir garantieren, daß das Objekt exakt dem unten Gezeigten entspricht" hatte bei ebay unter dem Bild gestanden.

Ferner gratuliert Jürg Altwegg dem populären französischen Historiker Max Gallo zum Siebzigsten. In der Serie zum Verständnis des "Herrn der Ringe" erscheint eine zeitgenössische, erstmals übersetzte Kritik von W. H. Auden über das Buch. Martin Kämpchen hofft, dass sechzig Jahre nach dem Tod Rabindranath Tagores und damit auch nach Erlöschen des Copyrights auf seine Werke die Chance zur Wiederentdeckung des Autors gekommen ist. Von Gregory Ingleright erfahren wir, dass in Sankt Petersburg um die Restaurierung einer Residenz am Finnischen Meerbusen gerungen wird. Jordan Mejias meldet, dass der Streit in Harvard um die "Black Studies" womöglich beigelegt ist (wie die New York Times berichtet). Und Peter Körte meldet, dass Will Smith 35 Kilo zulegte, um Muhammed Ali zu spielen.

Besprochen werden eine Ausstellung der "Nürnberger Tonapostel" im Germanischen Nationalmuseum ebendort und die Verfilmung von Hubert Selbys "Requiem for a Dream".

TAZ, 07.01.2002

Parlamentskorrespondent Patrik Schwarz macht sich Gedanken über die Produktion medialer Wirklichkeiten - anhand eines Bildes der Fotografin Julia Faßbender, das den Kanzler bei einer Pressekonferenz vor dem Weißen Haus in Washington : "Im Beziehungsgeflecht von Politikern, Reportern und Zuschauern legt ihre Aufnahme eine Hierarchie des Sehens offen: Für manche Betrachter fällt mehr ab als für andere. Wie viel Einblick am Ende der Bürger erhält, hängt von der inneren Haltung der Berichterstatter ab." Und davon, ob auch Bilder ins Netz gestellt werden. Außerdem gibt es ein Scherbengericht von Christian Beck, in dem Platten von Paul McCartney, Yoko Ono, Shelby Liynn, Earl Scruggs , Busters und Les Negresses Vertes besprochen werden. Und schließlich Tom.

SZ, 07.01.2002

Das World Trade Center wird nicht wieder aufgebaut. Laut Holger Liebs kann man sich eine solch pragmatische Entscheidung hierzulande nur wünschen. "Damit haben die New Yorker nur 114 Tage nach der Katastrophe des 11. September eine Gedankenleistung hinter sich, die man beispielsweise in Berlin, wo derzeit wieder über die Rekonstruktion des Stadtschlosses der Hohenzollern nachgedacht wird, nach zwölf Jahren noch immer nicht erbracht hat. Es geht um die Erkenntnis, dass die Architektur der Jetztzeit keine Reise in die Vergangenheit ermöglicht, weil Geschichte weder wiederholbar ist noch ungeschehen gemacht werden kann und die schiere Rekonstruktion einer wie glänzend auch immer imaginierten Historie nur neue Chimären schafft, statt den Alb der Gegenwart zu verdrängen." Wolfgang Schieder widmet sich der italienischen Version der deutschen Wehrmachtslegende - so brave Soldaten konnten keine Täter sein: "Wer sie in Frage stellte, wurde totgeschwiegen oder an der Verbreitung seiner kritischen Einwände gehindert. Als Ken Kirby 1989 für die BBC unter dem Titel 'Fascist Legacy' einen mit Dokumentaraufnahmen durchsetzten Film über faschistische Gewaltverbrechen in Afrika und auf dem Balkan drehte, erntete er in Italien wütende Proteste. Der Film wurde vom italienischen Staatsfernsehen gekauft ­ aber niemals gesendet. Ähnlich waren die Reaktionen auch 1992, als der amerikanische Historiker Michael Palumbo für einen italienischen Verlag ein quellengesättigte Studie über die Untaten der italienischen Division 'Pinerolo' in Griechenland schrieb. Unter dem Druck der italienischen Öffentlichkeit verzichtete der Verlag auf die Publikation des Manuskriptes." Weiteres: Robert Jacobi beklagt, dass sich das Prinzip Zewa auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt durchzusetzen droht ("Nicht nur in der Küche, sondern ganz allgemein auf dem freien Markt. Unternehmen beschäftigen Menschen nicht mehr als vollständige individuelle Einheit, sondern als Mittel, um konkrete Probleme schnellstmöglich wegzuwischen "). Fritz Göttler kommentiert die Preisverleihung des American Film Institute. Wolfgang Schreiber gratuliert Günter Wand zum 90. Geburtstag. Dieter Schlesak berichtet von einem Dracula-Park, der nahe der mittelalterlichen transsylvanischen Stadt Schäßburg gebaut werden soll, Oliver Fuchs hat ein Interview mit nahezu der gesamten Kelly-Family geführt. Besprechungen widmen sich Claus Peymanns Inszenierung des "Nathan" in Berlin sowie neuen Büchern zum Thema Musik, darunter zwei Biografien: eine über Händel und eine eine über den Bach-Dirigenten Karl Richter (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

FR, 07.01.2002

Der Politikwissenschaftler Farish A. Noor beklagt, dass sich sowohl Westen als auch Islam in inzestuöse Monologe verstrickt hätten. Dabei müssen sich beidek, fordert Noor, noch einmal den Kopf zu zerbrechen: "Der Westen muss den Glauben und das Wertesystem, das Streben und die Sehnsüchte verstehen lernen, von denen seine ältesten Kulturnachbarn, nämlich die Menschen der islamischen Welt, geprägt sind. Umgekehrt müssen die Muslime begreifen, dass sich hinter der abgestandenen und monochromen Dialektik des 'wir gegen die' eine hochkomplexe und hochgradig binnendifferenzierte westliche Welt verbirgt, in der es ganz und gar nicht stimmt, dass jedermann die Muslime für blutrünstige Fanatiker hielte." In weiteren Artikel wird Günter Wand zum 90. gratuliert und Claus Peymanns "Nathan"- Inszenierung in Berlin besprochen.

NZZ, 07.01.2002

Viel Aufhebens hat Don DeLillos Essay über den 11. September, der auch der neuen Nummer von Literaturen beigelegt ist, noch nicht gemacht. Angela Schader hat ihn zusammen mit anderen Publikationen zu diesem Datum gelesen und ist eher enttäuscht. "Obwohl erst gut drei Monate nach den Anschlägen publiziert, bleibt der Essay weitgehend im Schock des Ereignisses verhaftet: In Anbetracht dessen, dass Angehörige des Schriftstellers der Todesgefahr nur knapp entgingen, muss dies verzeihlich sein; weniger jedoch die Vereinfachungen, die sich gegen Ende des Textes einstellen. Weder die Reduktion der Konfliktkonstellation auf zwei Kräfte - die 'moderne Demokratie' contra eine 'Theokratie, ungezügelt und wabernd' - noch der gleich darauf folgende, forciert wirkende Versuch einer versöhnlichen Geste in Richtung der islamischen Welt sind die Antwort, die man sich gerade von diesem Autor erhofft hatte."

Jens Schlieter betrachtet die hiesiger bioethische Debatte aus buddhistischer Sicht und stellt fest, dass etwa in Japan selbst die Organspende äußerst heikel ist: "In Japan (wird) die Diskussion zur Transplantation sogar von einem Begriff 'belebt', dessen Anwendung in Europa geradezu schockiert: dem des Kannibalismus. In der Tat ist dessen basale Definition, sich vom Fleisch von seinesgleichen zu nähren, bei der Organtransplantation erfüllt. Nur ist es kein Akt des 'Verzehrens' im wörtlichen Sinne. Warum ist im Westen der Gedanke, dass hier ein Fall von Kannibalismus vorliegen könnte, bisher kaum geäußert worden?"

Weitere Artikel: In Frankreich liegt die Quote des einheimischen Films bei sage und schreibe 41 Prozent der verkauften Kinokarten. Marc Zitzmann fragt nach den Gründen dieses Erfolgs und sieht vor allem in der Fusion von Vivendi, Universal und Canal Plus entscheidende Verschiebungen in der französischen Kinolandschaft. Besprochen wird eine Ausstellung mit dem fotografischen Werk von Richard Prince im Basler Museum für Gegenwartskunst und ein amerikanisches Buch mit Luftaufnahmen von New York.