Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.01.2002.

FAZ, 09.01.2002

Berlin ist janz dicke in der heutigen FAZ. Im Aufmacher interpretiert Mark Siemons die Tatsache, dass der PDS im neuen rot-roten Senat die Ressorts Wirtschaft und Kultur zugeschlagen wurden, so: "Berlin soll offenbar zu einer Art Volksbühne der Republik werden: ein subventioniertes Theater, dessen Gemeinnützigkeit in seinen wohlkalkulierten Provokationen besteht. Alle Berlin-Unterstützung wird, so gesehen, von nun an Kulturpolitik sein."

Eleonore Büning hat sich unterdes in das einzig rentable subventionierte Theater Berlins begeben, den Friedrichstadtpalast, eine Errungenschaft der DDR. "Die Beine der Girls sind der Höhepunkt in den Revuen des Friedrichstadtpalastes. Sie sind zugleich Signum seines Weltniveaus, denn Vergleichbares findet sich nur noch in Las Vegas oder Paris. Im Unterschied zu letzteren wird aber in Berlin ausschließlich hochgeschlossen und jugendfrei gearbeitet, für die ganze Familie." Also doch nicht Weltniveau!

Für Jürgen Kaube wird Gregor Gysi als (vermutlicher) Wirtschaftssenator für eine Wirtschaft zuständig sein, die in der Hauptstadt ohnehin nur Zitat ist: "Den richtigen Kapitalismus, den altökonomischen, den gibt es gar nicht in Berlin, der hat da nur ein paar Filialen." Mechthild Küpper stellt fest, dass eine PDS-Senatorin für Soziales kaum etwas zu tun hat, denn die Sozialhilfe läuft zwar durch ihren Etat, wird aber in den Bezirken verteilt. Dafür könnte sie aber einen "warmen Ton" anschlagen, "könnte den 1. Mai in der Ersten Hilfe des Kreuzberger Urban-Krankenhauses verbringen". "jöt" analysiert die Bekenntnisse zum Westen in der Präambel des Koalitionsvertrags. Ingolf Kern nimmt Abschied von der kurzzeitigen Kultursenatorin der rot-grünen Übergangsregierung Adrienne Goehler, die noch einmal den Geldmangel ihres Ressorts beklagte. Außerdem werden zwei Artikel aus Peking und aus Havanna geschickt, um einen Satz des CDU-Manns Frank Steffel zu illustrieren: "Berlin darf nicht nach Peking und Havanna die dritte kommunistisch regierte Hauptstadt werden."

Und schließlich hat sich Edo Reents ein bisschen umgesehen um zu erfahren, wie "ehemalige und heutige Kommunistenfresser" auf den rot-roten Senat reagieren. Der ehemalige Innensenator Heinrich Lummer sagt: "Die PDS ist die Partei, die einen deutschen Staat zugrunde gerichtet hat und dafür nun mit der Chance belohnt wird, eine Hauptstadt zugrunde zu richten."

"Warum?", fragt der Romancier Mario Vargas Llosa in einem längeren Artikel über Argentinien und meint damit: Wie kann ein Land, das einmal so wohlhabend war und so gute Voraussetzungen hatte wie Argentinien, derart abrutschen? Vargas Llosa erinnert an Jorge Luis Borges, der sich eine äußerst elegante irreale Welt geschaffen hat und schließt vom Autor auf die Gesellschaft: "Argentinien zeigt seit Jahrzehnten schon, nicht nur auf literarischem Gebiet - als Nährboden der phantastischen Gattung -, sondern auch im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben, genau wie Borges, eine offenkundige Vorliebe für das Irreale und eine Verachtung für die schäbige reale Welt, für das wirkliche Leben. Diese Neigung, mit Hilfe der Phantasie vor dem Konkreten ins Träumerische oder Ideelle zu flüchten, kann in der Literatur so wunderbare Schöpfungen wie die von Borges oder Bioy Casares hervorbringen. Überträgt man jedoch diese Neigung auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, auf das Alltägliche und das Praktische, und erliegt dort der Versuchung des Irrealen - der Utopie, des Voluntarismus oder des Populismus -, hat das die tragischen Folgen, unter denen heute eines der eigentlich reichsten Länder der Welt leidet."

Weitere Artikel: Gerhard R. Koch sieht in einem kleinen Essay in Phänomenen wie "Harry Potter" und dem "Herrn der Ringe" eine Wiederkehr der Mythen und der Gegenaufklärung, die ihn an Richard Wagner erinnern. Joseph Hanimann nimmt auf der Stilseite Abschied von Yves Saint Laurent. Heike Hupertz mag sich mit der Art, wie die Amerikaner ihre Feuerwehrmänner und Soldaten als Helden verehren, nicht abfinden. Klaus Englert porträtiert den niederländischen Architekten Frits van Dongen, der durch einige große Blöcke an der Revitalisierung des Amsterdamer Hafenviertels beteiligt ist. Zhou Derong schreibt zum Tod des chinesischen Dissidenten Wang Ruowang im amerikanischen Exil. Peter Roos schreibt ein kleines Profil über Lutz Kroh, der 1969 den Buchladen "2001" erfand. Stephan Templ stellt ein neues (und privates) Museum des Kommunismus in Prag vor. Und Geord Imdahl schreibt zum Tod des Malers Georg Karl Pfahler.

Besprochen werden das Stück "Enten Variationen" des jungen David Mamet, der Film "Annas Sommer" von Jeannine Meerapfel, eine Ausstellung des österreichischen Tiermalers Friedrich Gauermann in der Kunsthalle Krems, eine Ausstellung byzantinischer Kunst im Paderborner Diözesan-Museum und eine Pariser Ausstellung über die Bildlegende des "Ewigen Juden".

TAZ, 09.01.2002

Der uruguayische Historiker und Journalist Eduardo Galeano (mehr hier) liefert einen Essay, in dem er die Aufstände in Argentinien zu "unwiderlegbaren Beweisen einer demokratischen Energie" gegen die drohende Verdinglichung der Menschen erklärt. An sie appelliert er weltweit: "Jetzt, da wir alle auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus eingeschworen sind, muss die folgende Frage erlaubt sein: Was ist mit dem Terrorismus des Marktes, unter dem die überwältigende Mehrheit der Menschheit leidet? Oder sind die Methoden der internationalen Organisationen, die im globalen Maßstab über Finanzen, Handel und alles Übrige bestimmen, etwa nicht terroristisch? Begehen sie etwa keine Erpressung, kein Verbrechen?" Argentinien sei die fleißigste Schülerin von IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation gewesen. Die Folgen lägen auf der Hand.

Weitere Artikel: Amin Farzanefa berichtet über die Arbeit des Goethe-Instituts in Kairo und das romantische Interesse der Ägypter an der Sprache von Brecht und Beethoven. Sebastian Handke stellt die "Mediologie"-Bände des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs "Medien und Kulturelle Kommunikation" vor, die dokumentieren, wie sich die Literaturwissenschaft an die Mediengesellschaft annähert. Und Wolfgang Kil bespricht den vierzig Jahre nach seiner Konzeption erschienenen Fotoband "Situation Berlin" des DDR-Fotografen Arno Fischer (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

SZ, 09.01.2002

Johannes Willms kann das Gejammer um Rot-Rot nicht mehr hören, für ihn steht fest, "dass in dieser Koalition sich etwas erfüllt, worauf man seit dem Fall der Mauer bislang vergebens hoffte: Mit ihr wächst zusammen, was zusammen gehört ... Dies zu erleben ist verständlicherweise jetzt gerade für diejenigen umso schmerzlicher und enttäuschender, die damals das falsche Image der Stadt frohgemut in eine Zukunft projizierten, mit der sie den festen Glauben verbanden, Berlin würde wieder als das dastehen, was es angeblich einmal war: als europäische Weltmetropole, die Paris und London auf ihre Plätze verwiese". Ein enttäuschter Glaube, der sich in sinnstiftendem Eifer sogleich auch auf den brachen Schlossplatz stürzte, so Willms, und der sich nun bedroht sieht von den Enkeln jener, die einst die Schlossruine sprengten. Ganz unnötig, meint Willms. Der Gysi wird das Ding schon bauen.

Der Historiker Ulrich Herbert (mehr hier) kritisiert die mit dem neuen Hochschulrahmengesetz einhergehenden und mit der aberwitzigen Begründung, eine befristete Beschäftigung sei auf Dauer unsozial, eingeleiteten Massenentlassungen von tausenden zeitarbeitenden "Drittmittelforschern" an deutschen Unis. "Viele der Betroffenen wissen bis heute nichts von der neuen Rechtslage, die binnen kurzem ihre Entlassung nach sich ziehen wird. Und niemand weiß, was mit den Menschen geschehen soll, denen auf einen Schlag alle Perspektiven zerstört werden." Ganz unklar sei auch, wer die Arbeit, dieser hochqualifizierten Wissenschaftler in Zukunft übernehmen solle.

Weiteres: Wie die Kinderbuchautorin Jutta Richter ("Hinter dem Bahnhof liegt das Meer") sich gegen Plagiatsvorwürfe wehrt, darüber berichtet Roswitha Budeus-Budde. Marcus Naegele freut sich über die amerikanischen Provinz-Labels Secretly Canadian und Jagjaguwar, die alte Indie-Ideale hochhalten. Sonja Zekri weiß, warum die Musikindustrie gegen das Internet nicht gewinnen kann (das Netz ist naughty, naughty!). Jörg Häntzschel sagt, wie uns Navigationssysteme den Verstand klauen. Andrian Kreye dagegen erklärt, wie der neue iMac sich in unsre Herzen stiehlt (und offeriert damit einen dem FR-Beitrag von Konrad Lischka genau entgegengesetzten Blick), Henning Klüver staunt über den "neuen Bestseller" von Oriana Fallaci (ihr heißdiskutierter im Corriere erschienener Text zum 11. September). Und Dorothee Müller schreibt zum Tod des Malers Georg Karl Pfahler.

Besprochen werden Steven Soderberghs Film "Ocean's Eleven", eine Geschichte der "Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg", Kati Naumanns Roman "Was denkst du?" (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Und viel Musik: neue Gitarren-Alben von Abercrombie, Gismonti und Towner sowie aktuelle Solo-Alben von Jim O'Rourke.

NZZ, 09.01.2002

Berhard Imhasly macht in einem kenntnisreichen Artikel deutlich, dass Fundamentalismus nicht nur in islamischen Kulturen möglich ist. Er porträtiert den indischen Erziehungsminister M. M. Joshi, der allen Ernstes die indische Astrologie ins Universitätscurriculum aufnehmen will und eine weitgehende "Hindusierung" der indischen Kultur und Gesellschaft anstrebt: "Er knüpft damit an die Ideologen der radikalen Hindu-Bewegung an, die in den Hindus die einzig legitimen Nachkommen der arischen Rasse sehen, deren Sprache Sanskrit war und deren Stammlande im Gebiet um Indus und Ganges lagen. Dies macht sowohl die Ureinwohner wie die südindischen Drawiden, nicht zu reden von den 'zugewanderten' Muslimen und Christen, vom Wohlwollen der Mehrheit abhängig. Es ist eine radikale Umkehr vom bisherigen Selbstverständnis der indischen Verfassung, die religionspolitischen Säkularismus fordert, auf der Basis der sozialen und ethnischen Inklusivität und einer aufklärerischen Rationalität."

Weitere Artikel: Georges Waser stellt die neu eröffneten British Galleries im Victoria and Albert Museum vor. Marco Baschera porträtiert den französischen Dramtiker Valere Novarina, dessen Sprachkunst allerdings kaum übersetzbar sei. Christian Wildhagen gratuliert dem Dirigenten Günter Wand zum Neunzigsten und empfiehlt einige seiner Einspielungen.

Besprochen werden Alejandro Amenabars Hollywood-Debut "The Others", eine Ausstellung zu Schloss Pawlowsk in München, zwei Pariser Ausstellungen zur Esskultur im Musee d'Orsay und in der Bibliotheque de l'Arsenal und einige Bücher, darunter Anatoli Rybakows Memoiren und Antonio Lobo Antunes' Roman "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 09.01.2002

Der neue iMac ist da. Grund genug für Konrad Lischka, nicht nur Descartes und Eco als Paten aufzufahren, sondern auch schon mal über die Reinkarnationswünsche des Platinenhaufens zu spekulieren. Denn "dass er weit fort will, dabei vielleicht so etwas wie Todessehnsucht in sich trägt", das spürt Lischka. Durch seine Kompaktheit negiere er sein Wesen als Desktop-Rechner, das er andererseits so entschieden verteidige. "Der Wille zur Revolution ist beim neuen Mac spürbar. Endlich taucht da das so lang vermisste treibende Moment der Computerindustrie wieder auf: das Versprechen. Alles weitere dann in der Zukunft."

Ein Berliner Feiertagebuch schreibt uns K. Erik Franzen. 1. Heilig Abend. Weihnachtskonzert in der Volksbühne: "Erstaunt beobachte ich Bäuche, Bärte, Strickmützen, Rollis und Slipper beim Tanzen zu elektronischer Musik, die so klingt, wie sich Bäuche, Bärte usw. elektronische Musik vorstellen." 2. Silvester: "Ein ganz normaler Tag. Manche Dinge wie an den meisten anderen Tagen. Mehr Sekt." 3. Neujahr. Neujahrskonzert, wieder Volksbühne: "Sie (Die Sterne) begrüßen den Währungswechsel mit ihrem musikalischen Hinweis darauf, dass die neuen Scheine auch bald klebrig werden. Ein nicht vermummter Globalisierungsgegner (vermutlich) in der fünften Reihe ruft ironisch: Heil Euro!"

Außerdem in der FR: der Militärhistoriker Bernd Ulrich (mehr hier) führt ein in die Kunst des Schiffebetrachtens im Bildband. Aus Anlass des soeben vergangenen Preußenjahres kombiniert Helmut Höge ein preußisches Eventpotpourri. Rudolf Maria Bergmann schwärmt vom Eichstätter Residenzplatz im Schnee, und Frank Keil besucht ein von Franz West eingerichtetes "Appartment" in den Hamburger Deichtorhallen.