Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.01.2002. Die FR entdeckt Parallelen zwischen Berlusconi und Mussolini. Die taz erklärt, was ein Superbayer ist: so etwas wie ein texanischer Ölmagnat.

NZZ, 12.01.2002

So hundertprozentig wohl scheint ihm dabei noch nicht zu sein, aber irgendwie, glaubt Joachim Güntner, sind die Deutschen wohl in der Normalität angekommen. "Erinnert sich noch jemand an die Leidenschaft, mit welcher zur Wendezeit darüber gestritten wurde, wie die deutschen Teilstaaten nach ihrer Vereinigung zu bezeichnen seien: einfach als Deutschland (was die Linke als nationalistisch ablehnte) oder politisch korrekt mit dem Zusatz 'Bundesrepublik'? Wohin verdampfte die Entrüstung vom Mai 1994, als der zum Bundespräsidenten gewählte Roman Herzog seinen Landsleuten einen 'unverkrampften', von Kritikern sofort als 'relativistisch' gebrandmarkten Umgang mit ihrem Deutschsein und der Geschichte empfahl? Heute wäre niemand gestimmt, sich über derlei zu erregen - woran man merkt, wie fern den meisten Köpfen der Moralismus der alten Bundesrepublik gerückt ist." Und das ist doch auch ganz gut so, oder?

Karl-Markus Gauß diagnostiziert in längeren und melancholischen Erwägungen über die Geschichte der europäischen Währungen einen antieuropäischen Aspekt des Euro: "Nimmt man die Münzen und Scheine, mit denen der Euro die vielen und vielgestaltigen Landeswährungen ersetzt, dann handelt es sich bei der Zollfreihandelszone, die er monetär erschließt, jedoch um ein Reich ohne Eigenschaften. Lockten einst die fremden Scheine, sich die Fremde einmal näher anzuschauen, wird der nüchtern und neutral gehaltene Euro die Europäer nicht dazu verführen, ihr Europa zu erkunden."

Weiteres: Hans Ulrich Gumbrecht bespricht Stanislaw Lems neues Buch "Riskante Konzepte" und gratuliert dem Autor gleichzeitig zum Achtzigsten. Rezensiert werden überdies Choreografien von Bob Fosse in Basel, Goethes "Clavigo" in Zürich und einige Bücher, darunter Peter Nadas' "Schöne Geschichte der Fotografie" (siehe unsere Bücherschau morgen ab elf Uhr).

Auch in Literatur und Kunst dominieren die Buchbesprechungen, etwa über Judith Thurmans monumentale Colette-Biografie und über Jacques Schuhls Ingrid-Caven-Roman. In einem Essay weist Hans-Peter Schmidt auf neue literaturwissenschaftliche Annäherungen an die Bibel hin, die im angelsächsischen Raum von sich reden machten, aber bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Klaus Hoffmann-Reicker erinnert an die Hinrichtung des Dresdner Aufklärers Nikolaus Krell vor 400 Jahren und drei Monaten.

Und Thomas Laux schreibt über den Tod Herve Guiberts vor zehn Jahren: "Mit dem Ausbruch und Bekanntwerden von Guiberts Krankheit - Anfang 1988 - war der Name des französischen Schriftstellers und Photographen zu einem Synonym von Aids geworden; der altgediente Topos von Literatur und Krankheit erhielt mit seinen Büchern einen brisanten, höchst aktuellen Bezug."

FAZ, 12.01.2002

In dem, was einmal Bilder und Zeiten war jetzt wie ein fünftes Rad am Wagen am Schluss des Feuilletons mitfährt, denkt Peter von Matt über den literarischen Kanon nach und kommt zu dem Ergebnis: "Epochalen Umbrüchen gegenüber ist Schimpfen unfruchtbar. Die Literaturgeschichte als große Erzählung, Grand recit, ist in dem Maße vorbei, in dem auch die Geschichte der Nation oder des Volkes nicht mehr erzählt werden kann im Sinne eines Prozesses von hegelianischer Teleologie. So ist das vieldiskutierte Problem des Kanons entstanden. Den Rang eines Autors in der alten Literaturgeschichte bestimmte sein Stellenwert im nationalen Selbstwerdungsprozess oder aber seine Bedeutung für den marxistischen Weg zur klassenlosen Gesellschaft. Je deutlicher und exemplarischer das sogenannte Wesen des deutschen Menschen in einem Roman, einer Tragödie, einem Gedicht zur Erscheinung gelangte, um so fragloser war die Position des Werkes in der Rangordnung der Literaturgeschichte."

Weitere Artikel: Auf der Medienseite porträtiert Michael Hanfeld den ZDF-Fernsehspielchef Hans Janke, der trotz des Quotenbruchs tapfer zu Dieter Wedels "Affäre Semmeling" steht. Dietmar Dath denkt über den Fall der "Satansmörder" von Bochum nach. In einem Kasten erfahren wir, dass der neue Berliner Kultursenator Thomas Flierl seine Doktorarbeit einst der "Ästhetik der Aneignung" gewidmet hat. Es handelt sich um eine in den achtziger Jahren vorgelegte "Studie zu weltanschaulich-methodologischen Grundproblemen der marxistisch-leninistischen Ästhetik". (Die Berliner Seiten der FAZ berichteten gestern ausführlicher über diese Schrift) Dietmar Polaczek schildert italienische Zustände der Politik mit einem Ministerpräsidenten, der auch Außenminister ist und die Justiz in seinem Sinne beeinflusst (siehe auch unsere Post aus Neapel über die intellektuellen Abrechnungen mit Berlusconi in Italien). Dieter Bartetzko berichtet über den Frankfurter Plan für ein "neualtes 'Haus am Dom'".

Ferner berichtet Phil Plait, Kulturkorrespondent der FAZ im All, dass Satelliten sich durch Meteoriten gefährdet sehen. Edo Reents setzt die Berichterstattung über die Sammelvorlesung zur Lage des Fußballs in Bochum fort. Ingeborg Harms blickt in deutsche Literaturzeitschriften. Im Bilder und Zeiten-Wurmfortsatz erinnert Johannes Winter an den deutschen Hauptmann Willi Schulz, der mit seiner jüdischen Geliebten aus dem Ghetto von Minsk floh. Und in der Frankfurter Anthologie stellt Robert Gernhardt ein Gedicht von Peter Maiwald vor – "Kindergeburtstag:"

"Wir hatten alles geregelt,
Meine Frau schlief ihren Rausch aus.
Ich besorgte die Kuchen
und was sonst noch
dazugehört..."

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Fridhelm Volk, der sich auf die Spuren von Johann Gottfried Seumes "Spaziergang nach Syrakus" begeben hat, ein Tanzabend von Amanda Miller und David Bennent in Frankfurt, ein "Clavigo" in Zürich und eine Ausstellung über Rokoko in Holland im Rijksmuseum.

TAZ, 12.01.2002

Pünktlich zur Lösung der K-Frage erklärt uns der Schriftsteller Georg M. Oswald ("Alles was zählt") das Phänomen des "Superbayern": "Superbayern sind außergewöhnlich erfolgreiche und strahlende Menschen ... Die meisten 'Superbayern' leben in Oberbayern ... Sie sitzen dort, ausgestattet mit dem Selbstbewusstsein texanischer Ölmagnaten, in 'Golf- und Landklubs' herum und freuen sich des Lebens." Berühmte Superbayern sind zum Beispiel auch Beckenbauer oder eben der schlaue Ed: "Stoiber ist ein Leistungsfanatiker wie alle Superbayern. Gegen Ausländer hat er nichts, solange sie Leistung bringen, egal ob am PC oder auf dem Rasen. Gegen Inländer, die keine Leistung bringen, hat er schon was. Aber solche gibt es in Bayern kaum noch."

Ferner zu lesen: Harald Fricke war auf der Ausstellung "Davaj!" im Postfuhramt in Berlin, wo es "Russian Art Now - aus dem Laboratorium der freien Künste in Russland" zu sehen gibt. Morten Kansteiner bespricht Franzobels "Narrenturm" in einer Düsseldorfer Inszenierung. Max Dax stellt die als Doppel-CD erhältliche Werkschau des Produzenten Arthur Baker vor. In seiner medizinischen Checkliste sagt uns Gerrit Bartels was hinter einem Sodbrennen stecken kann: die Refluxkrankheit nämlich.

Und das tazmag druckt einen schwer harmonischen interreligiösen Dialog zwischen einem Imam, einem Pater und einem Rabbiner über den religiös inspirierten Terrorismus sowie einen Text von Wolfgang Kraushaar (in voller Länge in der Dezembernummer von "Mittelweg 36"), in dem der Sozialforscher davor warnt, Globalisierungskritik und Terrorismus gleichzusetzen. Rolf-Bernhard Essig schließlich benennt die Schwierigkeiten bei der Aufführung Neuer Musik (wer spielt schon virtuos den Sinusgenerator?) und fordert von ihr zugleich ein populäreres Selbstverständnis.

Zu guter Letzt Tom.

SZ, 12.01.2002

In der SZ meldet sich Ex-Kultursenator Christoph Stölzl zu Wort, um der Berliner Kulturpolitik unter neuer Führung schon vorab die letzte Ehre zu erweisen. Und nicht nur ihr: "Der neue Berliner Kultursenator hat sich, wenn er an den Koalitionsvereinbarungen mitgearbeitet hat, selbst die Schlinge um den Hals gelegt ... Wenn man Wissenschaft und Kultur wegnähme, gäbe es außer der Politik nicht viele Gründe, in Berlin zu sein. Darum ist diese Koalitionsvereinbarung für Menschen, die Berlin lieben, katastrophal, verheerend." Sie lasse nicht nur keinerlei Willen erkennen, die Kulturpolitik wieder voran zu bringen, so Stölzl, sie verschlimmere die Lage in eklatanter Weise. Symptomatisch hierfür sei die Kassierung der Lottogelder sowie die offene Frage, wie Bund und Länder mit dem vielgestaltigen Erbe Berlins verfahren sollten.

Einen Beitrag zur Hochschuldebatte steuert Jens Bisky bei. Bisky kritisiert den Kurs der Bildungsministerin Edelgard Bulmahn, staunt, "dass die Geistes- und Kulturwissenschaften im inbrünstig beschworenen Bild der Wissensgesellschaft nur am Rande vorkommen", und hält die "unausrottbare Liebe zur Gleichheit" für fatal: "Die heutige Hochschulpolitik schätzt die Vielfalt in der Präambel oder in der Sonntagsrede, ansonsten verfährt sie nach der Methode Nikita Chruschtschows. So wie er von Mais und Rinderoffenställen das Heil erwartete, so glaubt man nun an Juniorprofessoren, Evaluierung und einige wenige innovative Bereiche, deren Namen verdächtig rasch wechseln."

Der Schriftsteller Haruki Murakami liefert einen langen Auszug aus seinem Gespräch mit Harumi Iwakura, einem ehemaligen Mitglieder der japanischen Aum-Sekte: "Nicht mehr selbst denken und entscheiden zu müssen, war das wichtigste Motiv. Alles anderen überlassen zu können. Nur Anweisungen auszuführen. Anweisungen, die von Herrn Asahara kamen, der ja erleuchtet war, und bei denen ich mir also sicher sein konnte, dass sie gut durchdacht waren. Übrigens war ich nie besonders begeistert von der Lehre und hatte auch nicht das Gefühl, den Stein der Weisen entdeckt zu haben. Es war wirklich nur die Erleichterung, alle Bindungen und Wünsche hinter mir lassen zu können."

Außerdem: Aus den USA berichtet Andrian Kreye über Rechtsradikale, die sich mit Islamisten solidarisieren und Israel die Schuld am Terror geben. Ulrich Raulff fragt, was sich eigentlich im Inneren des Berliner Schlosses abspielen soll, und warnt vor den Würstchenbratern. Alex Rühle stellt die schön abseitige Elektronikrock-Band "The Notwist" (Album: "Neon Golden") vor. Alexander Kissler verabschiedet den Großprojektor und -pleitier Kim Schmitz in den vorläufigen Ruhestand irgendwo in der Karibik. Thomas Becker erwartet das Comeback der "Münchner Lach- und Schießgesellschaft". Und Fritz Göttler schreibt zum Tod des amerikanischen Filmemacher David Swift.

Besprochen wird bloß Goethes "Clavigo" am Zürcher Schauspielhaus. Außerdem heute morgen im Netz: Die Wochenendbeilage vom 5. Januar (vielleicht gucken Sie später selbst noch mal: hier).

FR, 12.01.2002

Berlusconi - Mussolini? Der Historiker Wolfgang Schieder sieht durchaus Parallelen, hat doch auch der Duce anno1932 seinen Außenminister gefeuert, weil ihm dessen europäische Linie nicht gefiel. "Ein Zufall? Leider nicht. Wir haben es in Italien erstmals seit dem Ende des Faschismus im Jahre 1945 wieder mit einer Regierung zu tun, welche die demokratischen Institutionen des Landes auf schleichendem Weg abbaut." Die Justiz, die Medien und nun der Diplomatische Dienst. Hier, so Schieder, braue sich ein für ganz Europa gefährliches Gemisch von nationalem Ressentiment und ökonomischem Eigeninteresse zusammen. "In Europa kann man darauf nicht mehr nur mit Äußerungen der Besorgnis reagieren. Es ist Zeit zum Handeln."

In einem anderen lesenswerten Beitrag warnt Michael Mayer vor der Umschreibung der überkommenen Anthropologie durch die sogenannten "Lebenswissenschaften" im Verbund mit Nano- und avancierten Medientechnologien. Das Ziel "einer 'absoluten Anthropologie', die einen 'un-menschlichen Menschen' halluzinierte: weder 'geboren', weder 'sterblich'" hält Mayer für höchst zweifelhaft. "Kehrseite solch einer Entschränkung von Leben-und-Tod, des 'absoluten Lebens', wäre dann die reine und absolute Verantwortungslosigkeit gegenüber dem, was aus dem Binnenbezirk dieses 'Lebens' herausfiele."

Weitere Artikel: Navid Kermani ("Iran") berichtet von der Begegnung mit einer Lord-Chandos-Inkarnation. Helmut Höge nimmt uns mit auf Streifzug durch ein Moskau der "privaten Plusmacherei". Hans Wolfgang Hoffmann besucht die Baustelle der Akademie der Künste zu Berlin. Peter Münder porträtiert die britische Orient-Forscherin Gertrude Bell (mehr hier und hier). Und John Berger verbeugt sich mit einer Tagebuchcollage vor dem türkischen Dichter Nazim Hikmet, genannt "Der Baum mit den blauen Augen".

Besprechungen gibt es zu der Ausstellung "Sade surreal" im Kunsthaus Zürich, bei der u.a. eine 1890 vom englischen Thronfolger Edward benützte gepolsterte Beschlafungseinrichtung zu bestaunen ist, sowie zu Büchern, darunter Arnold Zweigs Roman "Erziehung vor Verdun" und einem Band, der Einblick verschafft in Denis Diderots "Welt der Encyclopedie" (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

Im FR-Magazin schließlich spricht Erzbischof Desmond Tutu über die langsame Heilung Südafrikas und über die Arroganz der Supermacht USA, sich oft nicht darum geschert zu haben, was sie den Menschen in anderen Ländern antat. Allerdings räumt Tutu auch "eine bemerkenswerte Zurückhaltung der Amerikaner" ein: "Sie taten nicht, was viele befürchteten: Sofort nach dem Terrorangriff loszuschlagen. Sie haben wenigstens zwei Wochen ins Land ziehen lassen."